Schwierige Zeiten für ein visionäres Projekt

Ein Geschichtsbuch wollte beiden Seiten des Nahostkonflikts gerecht werden – und stößt auf wenig Echo, weil darin die gegensätzlichen israelischen und palästinensischen Geschichtsbilder miteinander konfrontiert werden. Von Joseph Croitoru

​​Das Jahr 2003 hätte einen Neuanfang in der israelischen wie der palästinensischen Schulpädagogik markieren können. Damals brachten der israelische Psychologe Dan Bar-On und der palästinensische Erziehungswissenschafter Sami Adwan mit Unterstützung der Frankfurter "Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung" ein in jeder Hinsicht revolutionäres Geschichtslehrbuch heraus, das sie zusammen mit israelischen und palästinensischen Lehrern und Historikern erarbeitet hatten.

Das Lehrbuch trägt den Titel "Das Historische Narrativ des Anderen kennen lernen" und wurde in den darauffolgenden Jahren mehrmals erweitert. 2009 wurde es auch ins Deutsche übersetzt.

Gegensätzliche Sichtweisen

Das Besondere an diesem Werk ist, dass darin die oft gegensätzlichen israelischen und palästinensischen Geschichtsbilder zum Nahostkonflikt miteinander konfrontiert werden.

So ist allein schon die historische Verortung des Konfliktbeginns problematisch. Während der Konflikt aus israelischer Sicht seinen Anfang erst am Ende des 19. Jahrhunderts nahm, machen die Palästinenser schon Napoleon für die für sie verhängnisvolle zionistische Besiedlung des Landes verantwortlich: Entsprechende Pläne dafür habe der Franzose bereits 1799 vorgelegt.

Britischer Außenminister Arthur James Balfour beim Besuch einer jüdischen Siedlung 1922; Foto: dpa
Der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour beim Besuch einer jüdischen Siedlung 1922. Er spricht sich in der Balfour-Deklaration dafür aus, im zu dieser Zeit britischen Mandatsgebiet eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten.

​​Was aber aus palästinensischer Perspektive als der eigentliche Beginn des folgenreichen Bündnisses der Zionisten mit dem europäischen Imperialismus gilt, taucht in der israelischen Geschichtsversion nicht auf. Ebenso unterschiedlich ist etwa auch die Bewertung der Balfour-Deklaration von 1917, mit der die Briten der jüdischen Gemeinde in Palästina eine sogenannte nationale Heimstätte zusicherten.

Gegenseitige Anschuldigungen

Die Israelis betrachten diese Entscheidung als Selbstverständlichkeit, da sie der in Europa entstandenen zionistischen Bewegung das gab, was ihr als ganz normaler Nationalbewegung europäischer Prägung ihrer Auffassung nach zuzustehen schien – ein Territorium.

Die Palästinenser sehen in der Geste der Briten aber die direkte Fortsetzung des europäischen Kolonialismus. Das Jahr 1917, so die palästinensische Version, war das erste in einer verhängnisvollen Kette von Daten wie 1948, 1967 und 2002, die für die Palästinenser Tod, Zerstörung und Entwurzelung bedeuteten.

Ein israelischer Soldat hält einen Palästinenser auf, der in das abgeschnittene Dorf Billin möchte; Foto: dpa
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern fängt schon mit der historischen Verortung des Konfliktbeginns an - jede Seite wirft der anderen vor, als erste zu den Waffen gegriffen zu haben.

​​Aus israelischer Sicht sind dies wiederum Jahreszahlen, die eindeutig mit arabischer Aggression assoziiert werden. Dass jede Seite die andere beschuldigt, als erste zu den Waffen gegriffen zu haben, wird in diesem gemeinsamen Unterrichtswerk keineswegs unterschlagen – schließlich sollen den Schülern im Geschichtsunterricht nicht nur Argumente und Gegenargumente präsentiert werden. Sie sollen auch aufgeklärt werden, dass sich Israelis wie Palästinenser ähnlicher Formen der Indoktrinierung bedienen.

Einführung des Buchs in Schweden

Die auf beiden Seiten sowie im Ausland gehegten Erwartungen hat das Projekt nur zum Teil erfüllt. Nur einige Dutzend israelische und palästinensische Lehrer setzten im Rahmen eines freiwilligen Unterrichts das Arbeitsbuch ein, so dass im Laufe der Jahre immerhin einige tausend Schüler an den brisanten Stoff herangeführt wurden.

Auch wenn in diesem Zusammenhang immer wieder von einem wertvollen Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten berichtet wurde, fehlt die offizielle Anerkennung durch die jeweiligen Schulbehörden bis heute. Dass es um das Lehrbuchprojekt in den letzten Jahren ruhig geworden ist, war nicht zuletzt eine Folge des frühen Todes von Dan Bar-On. Er hatte, bis er 2008 im Alter von nur 69 Jahren starb, im In- wie im Ausland beharrlich für dieses ungewöhnliche pädagogische Unterfangen geworben.

So erhielt man auch in der schwedischen Stadt Kungälv Kenntnis davon. Basierend auf den Erfahrungen der Israelis und Palästinenser, soll nun dort dieses Lehrkonzept im Unterricht mit Migrantenkindern angewendet werden.

Israelische und palästinensische Kinder gemeinsam in der Grundschule des Friedensdorfes; Foto: Neve Shalom
Israelische wie palästinensische Schüler sollen darüber aufgeklärt werden, dass sich beide Seiten ähnlicher Formen der Indoktrinierung bedienen, schreibt Joseph Croitoru.

​​Auf Vermittlung Sami Adwans und des israelischen Historikers Eyal Naveh werden von den Schweden seit einiger Zeit schon mehrere Schulen in Israel und den palästinensischen Gebieten unterstützt, in denen das gemeinsame Unterrichtswerk Verwendung findet.

Im vergangenen August besuchte der Bürgermeister von Kungälv, Anders Holmensköld, diese Schulen und traf bei dieser Gelegenheit auch die palästinensische Erziehungsministerin Lamis al-Alami. Er konnte sie dafür gewinnen, dass das Lehrbuch im Rahmen eines Pilotprojekts an zwei palästinensischen Schulen offiziell eingeführt wird.

Rückschlag

Indessen müssen die israelischen Projektpartner vom Shaar-Hanegev-Gymnasium bei Sderot im Süden, die dieses Lehrbuch seit etwa zwei Jahren im Einsatz haben, einen Rückschlag hinnehmen. Ob es an der schwedischen Einmischung beziehungsweise an der Anerkennung durch die palästinensische Schulbehörde liegt oder nicht, das israelische Erziehungsministerium hat jetzt jedenfalls den Einsatz des Unterrichtswerks in Shaar Hanegev untersagt.

In linksliberalen Kreisen im Land ist man über diese Entscheidung, die als weiterer Ausdruck des allgemeinen Rechtsrucks in der staatlichen betrachtet wird, empört. Während rechtsgerichtete Publizisten den Schritt begrüßen, werfen Kritiker dem Erziehungsministerium vor, jeglichen Pluralismus an den Schulen im Land im Keim ersticken zu wollen.

Im Ministerium weist man solche Vorwürfe zurück. Von einem Verbot könne hier nicht die Rede sein, schließlich sei das Lehrbuch offiziell nie zugelassen gewesen.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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