Im Schmerz eine Stimme finden

Ein Poesie-Projekt hat Jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan zu Dichtern gemacht. Im Rahmen des Internationalen Literaturfests in Berlin lasen sie ihre Gedichte. Viele Zuhörer mussten die Tränen hinunterschlucken. Von Sabine Peschel

Von Sabine Peschel

Das Berliner Literaturfestival hatte offiziell noch gar nicht begonnen, da löste schon ein besonderer Programmpunkt den anderen ab. Während Bundestagspräsident Norbert Lammert und der algerische Schriftsteller Boualem Sansal noch über dessen neuen Roman "2084: Das Ende der Welt" sprachen, stauten sich vor dem Saaleingang bereits die Besucher des "Poetry Projects".

Es ist der 6. September, der Abend vor der eigentlichen Eröffnung des Festivals. Auf dem Programm steht eine Lesung von Gedichten junger Flüchtlinge. Es wird ein Abend, den keiner, der dabei war, vergessen wird. Nicht die sechs Jugendlichen, die sich mit ihrer Lyrik in einem bis auf den letzten Stuhl besetzten Saal ins Scheinwerferlicht stellen, und niemand aus dem Publikum. Festivalleiter Ulrich Schreiber hatte unter den ausschließlich besonderen Veranstaltungen, die sein elftägiges Lese- und Diskussionsprogramm zu bieten habe, den Poesieabend als ganz besonders außerordentlich angekündigt. Er sollte - jenseits aller Eigenwerbung - recht behalten.

Erlebtes in Versen verarbeiten

Acht Monate lang haben sich die 14- bis 18-jährigen Jugendlichen aus Afghanistan und Iran regelmäßig für einen Workshop mit ihren Poesie-Mentoren in Berlin getroffen. Sie alle hatten eine Erfahrung gemeinsam: Sie sind allein geflüchtet, einige von ihnen zunächst aus Afghanistan in den Iran, wo es ihnen schlecht erging, später nach Europa. "Sei neben mir und sieh, / was mir geschehen ist", so beginnt ein Gedicht von Yasser Niksada, des Jüngsten aus der kleinen Gruppe. Und in der Tat, mit den Worten und Versen, in die sie das Erlebte fassen, gelingt es den Geflüchteten, nicht nur den Kopf, sondern auch die Gefühle ihrer Zuhörer zu erreichen. Sie setzen sich aus, und das Publikum begreift.

Susanne Koelbl, Auslandskorrespondentin des "Spiegel" mit Afghanistanerfahrung, sieht in dem Projekt eine Zwiesprache "zwischen denen, die hier geboren sind und jenen, die aus einem Land kommen, in dem allein an diesem Tag fünf Autobomben explodiert sind, die Dutzende Menschen in den Tod gerissen haben." Sie hat das Projekt ins Leben gerufen, gemeinsam mit dem Rechtsanwalt und Übersetzer Aarash D. Spanta regelmäßig mit den Jungs gearbeitet. Mädchen fanden sie nicht für ihr Vorhaben, denn die werden von ihren Familien nicht auf die gefährliche Reise geschickt.

Die Teilnehmer des Poetry Projects zusammen mit Susanne Koelbl auf der Bühne; Foto: Stefan Rottkay/The PoetryProject
"Verse, die in das kollektive Gedächtnis unserer Zeit eingehen werden": Die Teilnehmer des Poetry Projects zusammen mit Susanne Koelbl auf der Bühne

Seltene Einblicke in Jugendliche

Nicht alle, die am Anfang dabei waren, haben durchgehalten, neben all den Sorgen um den Aufenthalt, bürokratischen Erfordernissen und den Mühen des Spracherwerbs, die notwendige Konzentration und Disziplin für ein Kulturprojekt aufgebracht. Aarash Spanta, dessen Eltern 1982 aus Afghanistan nach Deutschland geflohen sind, hat viel Verständnis dafür. Aber als ehemaliges Kind von Flüchtlingen weiß er auch, wie wichtig es ist, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Deutsch zu lernen, für die Schule zu arbeiten, sich zu beschäftigen. Ihm war es wichtig zu vermitteln, dass ein gemeinsames Lyrik-Projekt in diesem Sinne nur ein Gewinn sein konnte.

"Meine Augen haben die Farben des Unglücks gesehen." Der 18-jährige Mohamad Mashghdost, der diesen Schlussvers eines titellosen Gedichts schrieb, ist an dem Abend nicht dabei. Er kann nicht selber lesen, es geht ihm nicht gut. Andere lesen für ihn.

"Was man in diesen Gedichten hören kann, ist Anschauung, Erfahrung und Affekt, unmittelbar in Sprachbilder gesetzt. Vielleicht hätte Kafka dazu gesagt: wie eine ‚Axt für das gefrorene Meer in uns'", so zitiert das Programm den Literaturwissenschaftler und Philosophen Joseph Vogl.

Der poetischen Seele Ausdruck geben

Viele der Gedichte bestätigen das. Sie sprechen von Todesangst, von Einsamkeit und Sehnsucht. Niemand im Publikum bleibt unberührt, wenn der 16-jährige Mehdi Hashemi, einer der im Iran aufgewachsenen Afghanen, von seiner Einsamkeit spricht: "Du liebst und du wirst nicht geliebt. / Du fühlst Nähe und es ist keiner da, / an den du dich lehnen kannst." Viele Gedichte drücken die Sehnsucht nach Vater oder Mutter aus, ob die nun umgekommen oder im Heimatland zurückgeblieben sind. Es ist herzzerreißend, wenn der 17-jährige Samiullah Rassouli in seinem schicken weißen Hemd und mit zu einer stolzen Tolle aufgegeltem Haar im Gedicht an seinen Vater wünscht, "könnte ich doch zu den Schwielen an deiner Hand werden."

Den Kloß im Hals werden die Zuhörer an diesem Abend nur einmal los, als der poetische Blick von Kahel Kaschmiri auf Deutschland im Sommer fällt. "Alle liefen nackt durch die Straßen, liegen im Park - und wie ging das, dass sie abends noch etwas zum Essen finden?" Kahel wird weiter dichten, auch Samiullah, dessen Vortrag besonders glänzte, als er zum Schluss des Abends ein "Gedicht über die Liebe", das er zuvor schon auf Dari gelesen hatte, selber in gut verständlichem Deutsch vortrug.

"Ich habe solche Gedichte noch nicht gehört", hatte Uli Schreiber gesagt. Es sind Verse, die in das kollektive Gedächtnis unserer Zeit eingehen werden.

Sabine Peschel

© Deutsche Welle 2016

Die Gedichte von Ali Ahmade, Ghani Ataei, Kahel Kaschmiri, Mehdi Hashemi, Mohamad Mashghdost, Samiullah Rassouli, Shazamir Hataki und Yasser Niksada wurden 2016 in der Reihe "Berliner Anthologie" unter dem Titel "The Poetry Project" veröffentlicht.