Zivilbevölkerung im Visier

Die jüngsten schweren Anschläge der radikalislamischen Taliban vor den Toren Kabuls zeigen einmal mehr, dass die Kämpfe in Afghanistan nicht nur zwischen Armee und Aufständischen ausgefochten werden. Zum Ziel kann jeder werden. Und das größte Leid widerfährt der Zivilbevölkerung. Von Matthias Lauer

Von Matthias Lauer

Lediglich ein guter Monat ist seit dem schwerwiegendsten Anschlag der Taliban in Kabul seit 15 Jahren vergangen, und doch ist er in der öffentlichen Wahrnehmung bereits wieder verblasst. Mindestens 28 Menschen kamen am 19. April ums Leben, mehr als 320 wurden verletzt, als sich ein Selbstmordattentäter unweit des Präsidentenpalastes in die Luft sprengte.

Die Ankündigung der Taliban zu Beginn ihrer Frühjahrsoffensive, dass besondere Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen werden solle, mutet bei der Betrachtung des Attentats und weiteren Anschlägen in den letzten Monaten zynisch an. Dennoch halten verschiedene europäische Staaten an ihren Plänen fest, abgelehnte afghanische Asylsuchende abzuschieben.

Und auch die Europäische Kommission rückt nicht von der geplanten Rückführung knapp 80.000 geflüchteter Menschen in das Land am Hindukusch ab. Die Bundesregierung verwies in ihrer Begründung dieser Abschiebungen sogar explizit auf das Statement der Taliban, die Zivilbevölkerung zu schützen.

Die letzten Anschläge der Taliban machen deutlich, dass in ihrer Vorstellung von "Besatzern" alle Personen eingeschlossen sind, die in irgendeiner Art und Weise mit "dem Staat" assoziiert werden. Im Januar 2016 erfolgte beispielsweise ein gezielter Angriff auf einen Minibus mit Angestellten des privaten Fernsehsenders Tolo TV. Bei der Attacke auf die Mitarbeiter des größten afghanischen TV-Senders wurden sieben Angestellte getötet und mehr als 25 Personen durch die Wucht der Explosion verletzt.

Beerdigung von Saeed Jawad Hossini, eines Tolo-TV-Journalisten, der bei dem Taliban-Anschlag im vergangenen Januar getötet wurde; Foto: AFP/Getty Images/Shah Marai
Journalisten als Zielscheibe: Der afghanische Sender "Tolo TV" war im Oktober 2015 von den Taliban wegen "dschihadfeindlicher Berichterstattung" zum militärischen Ziel erklärt worden. Bei einem Anschlag auf einen Bus mit Tolo-TV-Mitarbeitern im vergangenen Januar waren sieben Menschen getötet worden.

"Propaganda eines satanischen Senders"

Im Vorfeld des Anschlages hatten Taliban die Berichterstattung des Senders über die Eroberung der Stadt Kunduz als "Propaganda eines satanischen Senders" bezeichnet und eine Drohung ausgesprochen, dass all diejenigen, die mit derlei Sendern in Kontakt stehen, als Feindespersonal angesehen werden.

Der erste Anschlag seit der Ernennung des neuen Taliban-Chefs Maulawi Haibatullah Achundsada am 25. Mai hatte ebenfalls einen Minibus zum Ziel, der während der morgendlichen Rush-Hour durch einen Außenbereich Kabuls rollte. Die Insassen, die dem Anschlag zum Opfer fielen, waren Angestellte eines Gerichts auf dem Weg zu einer Verhandlung in der Provinz Maidan-Wardak. Insgesamt wurden elf Menschen ermordet, etliche weitere verletzt.

Öffentlich wurde die Attacke als Racheaktion für die Hinrichtung von sechs inhaftieren Taliban begründet. Beide Anschläge machen jedoch vor allem deutlich, dass alle Menschen, die in irgendeiner Form dem Staat zugeordnet werden, als legitime Ziele gelten. Hinzu kommen die offensichtlich als Kollateralschäden in Kauf genommenen zivilen Opfer, die jeder dieser Anschläge fordert.

Mullah Haibatullah Achundsada, Foto: picture-alliance/dpa/Afghan Islamic Press via AP
Festhalten an der Politik der Härte und Kompromisslosigkeit: Ende Mai gaben die radikalislamischen Taliban bekannt, der Religionsgelehrte Achundsada sei der Nachfolger des bisherigen Taliban-Chefs Mullah Achtar Mansur, der bei einem US-Drohnenangriff in Pakistan getötet worden war. Während der Taliban-Herrschaft in Afghanistan von 1996 bis 2001 war Achundsada einer ihrer hochrangigsten Richter und fällte zahlreiche ihrer brutalen Urteile. Nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 stieg Achundsada zu ihrem Chefjuristen auf.

Klima der Angst

Solche spektakulären Selbstmordattentate bilden allerdings nur die Spitze des Eisberges – Schreckensmeldungen, die es ab und zu auch in die deutschen Medien schaffen. Wie tiefgreifend die Bedrohungslage in einem Land ist, in dem die Taliban ganze Provinzen kontrollieren und es in 31 der 34 Provinzen im letzten Jahr zu Kämpfen kam, verdeutlicht eine Analyse, die jüngst vom Afghanistan Analysts Network veröffentlicht wurde.

In Interviews wurden Familien, deren Angehörige nach Europa geflohen sind, zu den Motiven ihrer Flucht befragt. Neben der ökonomischen Krise im Land wurden immer wieder Schutzlosigkeit gegenüber Verfolgung sowie Gewalterfahrungen in der Gegenwart und Vergangenheit angeführt.

Personen, die in Kontakt mit den ISAF-Truppen standen, fühlen sich mittlerweile in keiner Region Afghanistans mehr sicher. Betroffen sind verschiedenste Personengruppen – vom Dolmetscher oder ehemaligen Armee-Angehörigen über Caterer bis hin zu Logistikunternehmern. Den Eindruck einer permanenten Bedrohungslage bestätigen auch die Zahlen gezielter Tötungen, beispielsweise von Menschenrechtsaktivisten oder politischen Gegnern, die allein im vergangenen Jahr um rund Prozent gestiegen sein sollen, so Afghanistan Analysts Network.

Diese gezielten Tötungen, auch "targeted killings" genannt, bilden jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Taliban. Die steigenden Drohnenangriffe, die sich gegen Aufständische richten, tragen ebenfalls diesen euphemistisch anmutenden Titel. Denn sie verfehlen nicht selten ihr eigentliches Ziel.

Die konservativste Schätzung des Bureau of Investigative Journalism geht allein im Jahr 2015 von insgesamt 60 getöteten Zivilisten durch US-Drohnen aus. Den verheerendsten Fall eines Angriffes auf zivile Ziele durch ausländische Truppen in jüngerer Vergangenheit bildet die Bombardierung des Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen in Kunduz im Oktober 2015. 31 Menschen wurden durch den Angriff damals getötet. Und doch kommt der jüngst vorgelegte Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass es sich dabei nicht um ein Kriegsverbrechen gehandelt habe.

Afghanische Flüchtlinge aus Helmand und der Provinz Kandahar in Kabul; Foto: DW/H. Sirat
Aus dem Blick: Die Menschen in Afghanistan leiden unter dem anhaltenden Konflikt mit den radikalislamischen Taliban. Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International gibt es im Land derzeit mehr als doppelt so viele Binnenvertriebene wie noch im Jahr 2012. Die Zahl der Binnenflüchtlinge stieg on knapp 500.000 im Jahr 2012 auf 1,2 Millionen im April dieses Jahres. Die Organisation machte die afghanische Regierung sowie ein fehlendes internationales Interesse an Afghanistan dafür verantwortlich.

Ungewisse Aussichten

Die Zivilbevölkerung steht in diesem Krieg - wie immer - auf der Seite der Verlierer. Über 11.000 getötete und verletzte Menschen im Jahr 2015 und ein neuer Höchststand vom Verletzten im laufenden Jahr 2016 verdeutlichen, wie dramatisch sich die Situation momentan darstellt.

Die afghanische Regierung der nationalen Einheit unter Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah hat gewaltige Aufgaben vor sich – und hat in den Augen vieler Afghanen schon jetzt versagt. Die ökonomische Krise des Landes konnte bislang nicht beendet werden, der Krieg eskaliert weiter. Und zu den bestehenden über eine Million Binnenflüchtlingen sind in den ersten vier Monaten dieses Jahres nochmals über 100.000 neue hinzugekommen.

In den nächsten Monaten wird sich außerdem zeigen, wie die Taliban unter der neuen Führung von Haibatullah Achundsada agieren werden. Die aktuelle Eskalation der Gewalt scheint Friedensgespräche in jedem Falle in weite Ferne gerückt zu haben.

Wenn die europäischen Staaten ihre Verantwortung nach 15 Jahren militärischer Intervention in Afghanistan in dieser Situation ernst nehmen, wäre es ein erster Schritt, die Abschiebepläne nach Afghanistan ad acta zu legen. So könnten, während in Afghanistan über 700 Schulen in Kriegsgebieten geschlossen wurden, immerhin Afghanen in Deutschland einen Zugang zu Bildung erhalten und müssten nicht vor dem Besuch ihres Arbeitsplatzes darauf hoffen, unversehrt wieder zurückzukehren.

Matthias Lauer

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