"Durch die Scharia wird die Bevölkerung zum Schweigen gebracht"

Azriana Rambe Manalu und Samsidar gehören zu den bekanntesten Frauenrechtlerinnen der indonesischen Provinz Aceh. Im Gespräch mit Christina Schott berichten sie über die Auswirkungen der Scharia auf das gesellschaftliche Zusammenleben seit Einführung des islamischen Rechts in Aceh.

Von Christina Schott

Wie schätzen Sie die Lage der Frauen in Aceh zehn Jahre nach der Tsunami-Katastrophe ein?

Azriana Rambe Manalu: Immer mehr Frauen erhalten wichtige Positionen und fungieren als Entscheidungsträgerinnen. Allerdings haben sie bisher nicht genügend Einfluss, um das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben in Aceh zu ändern: Die Kultur, Frauen an den Rand zu drängen, nimmt sogar weiterhin zu. Vor dem Tsunami mussten viele Frauen ihre Familien selbständig versorgen, während ihre Männer kämpften. Nach dem Friedensabkommen kehrten die Männer zurück und drängten die Frauen wieder in ihre übliche "Hausmütterchenrolle". Da viel weniger Frauen als Männer den Tsunami überlebten, wurden sie auch seltener nach ihren Wünschen und Bedürfnissen beim Wiederaufbau gefragt. Zudem ist die Bewegungsfreiheit der Frauen seit der Einführung der Scharia deutlich eingeschränkt.

Inwiefern werden Frauen durch die Scharia eingeschränkt?

Rambe Manalu: Zwar können Frauen in Aceh heutzutage als Bürgermeisterinnen, Schulrektorinnen oder Geschäftsführerinnen agieren. Doch erfüllen sie dabei immer vorgegebene Aufgaben und haben keinen kreativen Spielraum. Sie müssen sich an strenge Kleidervorschriften halten, in manchen Gegenden dürfen sie nicht einmal allein ausgehen. Nicht nur in Aceh, sondern in Indonesien insgesamt gibt es mittlerweile rund 300 Scharia-Verordnungen, die Frauen diskriminieren.

Prügelstrafe für Acehnesin durch die Scharia Polizei in Banda Aceh; Foto: AP
Frauen im Visier der "Scharia-Polizei": Aceh die einzige Provinz Indonesiens, in der seit 2003 das islamische Recht der Scharia gilt. Im vergangenen Frühjahr wurde eine Verordnung verabschiedet, die künftig auch Nichtmuslime der Scharia unterstellt.

Samsidar: Die in Aceh praktizierte Prügelstrafe, die für alle gleichermaßen gilt, hat für Frauen zum Beispiel viel schlimmere Auswirkungen als für Männer. Ein Mann, der öffentlich für Alkoholgenuss, Glücksspiel oder unehelichen Sex gezüchtigt wird, kann danach meist sein Leben normal weiterführen. Für Frauen ist die soziale Ächtung viel größer: Sie werden öffentlich beschimpft, verlieren ihren Arbeitsplatz, ihre Männer lassen sich scheiden und die Kinder trauen sich nicht mehr in die Schule.

Die meisten Acehnesinnen sagen, dass sie die Scharia begrüßen. Die Bürgermeisterin von Banda Aceh ist sogar eine ausgesprochene Befürworterin der Scharia. Wie passt das zusammen?

Rambe Manalu: Keine muslimische Frau will mit einer Kritik an der Scharia den Eindruck erwecken, dass sie den Islam in Frage stelle. Das ist ein Tabu, das sie aufgrund ihres Glaubens und ihrer Erziehung einfach nicht brechen kann. Doch hier geht es nicht darum, das islamische Recht an sich zu kritisieren, sondern um die Art der Interpretation und Anwendung, die letztendlich Frauen und ärmere Leute diskriminiert.

Eines der Hauptargumente der Scharia-Befürworter ist, dass sie den Verfall der Moral verhindert. Bewirken die strengen Gesetze denn ein moralischeres Verhalten in der Bevölkerung?

Samsidar: Nicht wirklich. Die sexuelle Gewalt gegen Frauen ist in den letzten drei Jahren um 30 Prozent gestiegen, davon betroffen sind überdurchschnittlich viele minderjährige Opfer. Ein Grund für den Anstieg ist vermutlich, dass sich immer mehr Opfer melden, weil sie durch verstärkte Aufklärungskampagnen von ihren Rechten erfahren haben. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass die Gewalt gegen Minderjährige zugenommen hat, weil es angesichts der Präsenz der Scharia-Polizei immer schwieriger wird, sich mit gleichaltrigen Partnern zu treffen. Ein älterer Mann mit einem kleinen Mädchen erregt jedoch kaum Verdacht, weil man ihn für einen Angehörigen hält.

Tjahjo Kumolo, der neue Innenminister Indonesiens; Foto: picture-alliance/epa/M. Irham
Hoffnungsträger Tjahjo Kumolo: "Der neue Innenminister Indonesiens ist Mitglied der Indonesischen Demokratischen Partei des Kampfes (PDI-P), die die Scharia-Gesetzgebung bislang immer kritisiert hat. Daher hoffen wir natürlich, dass er dieser Kritik nun auch Taten folgen lässt", sagt Rambe Manalu.

Rambe Manalu: Der Gouverneur hat gerade ein neues Gesetz unterzeichnet, nach dem ein Vergewaltigungsopfer mindestens vier Zeugen benennen muss, um die Tat zu beweisen. Das ist angesichts der Umstände solcher Verbrechen so gut wie unmöglich. Der Täter jedoch gilt als unschuldig, wenn er fünfmal geschworen hat, dass er die tat nicht begangen hat. Wurde der Name des Täters aber bereits von der vergewaltigten Frau genannt, kann sie danach wegen Verleumdung ausgepeitscht werden. Auf diese Weise wird zukünftig kaum noch eine Acehnesin wagen, eine Vergewaltigung zu melden. Journalisten werden aus Angst vor einer Verleumdungsstrafe ebenfalls nicht mehr berichten. Insofern wird die Scharia zumindest auf dem Papier für "moralischere Verhältnisse" sorgen: Die Bevölkerung wird systematisch zum Schweigen gebracht.

Gibt es denn Möglichkeiten, gegen dieses Gesetz Einspruch zu erheben?

Samsidar: Der Innenminister hat die Macht, Verordnungen auf Provinz- oder Regierungsbezirksebene aufzuheben, bevor sie registriert werden. Ist das Gesetz jedoch erst einmal samt Nummer registriert, müsste er einen Überprüfungsantrag beim Obersten Gerichtshof stellen. Bereits erlassene Gesetze können nur vom Verfassungsgericht aufgehoben werden: Die Verfassung ist das oberste Gesetz im Land, das auch über der provinzialen Gesetzgebung Acehs steht – trotz des autonomen Status. Und wenn ein Provinzgesetz gegen die Verfassung verstößt, zum Beispiel weil es die Grundrechte der Bürger missachtet, dann muss es revidiert werden. Die alte Regierung hat allerdings nie einen Schritt in diese Richtung unternommen.

Haben Sie denn Hoffnung, dass die neue Regierung in dieser Hinsicht etwas unternehmen wird?

Rambe Manalu: Tjahjo Kumolo, der neue Innenminister Indonesiens, ist Mitglied der "Indonesischen Demokratischen Partei des Kampfes" (PDI-P), die die Scharia-Gesetzgebung bislang immer kritisiert hat. Daher hoffen wir natürlich, dass er dieser Kritik nun auch Taten folgen lässt.

Wie reagieren die Menschen in Aceh auf Ihre Kritik an der Scharia?

Rambe Manalu: Wir werden ständig bedroht, meist per SMS und per Email. Die Drohungen kommen von ganz normalen Bürgern bis hin zu hohen Offiziellen. Viele sagen, wir sollten aus Aceh wegziehen, wenn uns die Verhältnisse hier nicht passten.

Samsidar: Als Acehnesin habe ich meiner Meinung nach das Recht, in Aceh zu leben. Es ist vor allem meine Wut auf diese Ungerechtigkeit, die mich dazu veranlasst, weiterhin für bessere Lebensbedingungen in Aceh kämpfen. So können wir anderen Frauen ein Vorbild sein, sich nicht dem sozialen Druck zu beugen.

Das Interview führte Christina Schott.

© Qantara.de 2014

Azriana Rambe Manalu und Samsidar arbeiten sowohl für die "Nationale Kommission für Frauenrechte" (Komnas Perempuan), als auch für die Rechtshilfeorganisation "LBH Apik Aceh", deren Vorsitzende Samsidar ist. Rechtsanwältin Azriana ist außerdem Generalsekretärin des "Freiwilligen Frauenteams für Menschlichkeit" (Tim RPuK) in Banda Aceh.