Libyens Frauen fühlen sich hintergangen

Die Revolution 2011 hat unter libyschen Frauen Hoffnung auf eine aktivere Rolle in Gesellschaft und Politik geweckt. Viele Frauenrechtsgruppen wurden gegründet. Doch die Machtspiele der Milizen und die anhaltende Gewalt setzen die erzielten Fortschritte aufs Spiel. Von Valerie Stocker

Von Valerie Stocker

Auf den 25. Juni hat Salwa Bugaigis lange gewartet. An diesem Tag findet in Libyen die Wahl des Nationalrates statt, welcher den verhassten Allgemeinen Nationalkongress (GNC) ab Juli ersetzen soll. Noch am Nachmittag ruft die 50-jährige Richterin und Aktivistin aus der ost-libyschen Stadt Benghazi ihre Mitbürger zum Wählen auf.

Gegen 18 Uhr berichtet sie einem Lokalsender von Schusswechseln in ihrer Nachbarschaft und deutet an, die Rafallah Sahati-Brigade versuche, die Wahl zu verhindern.

Es handelt sich um eine von mehreren existierenden Milizen, die seit der Revolution Benghazi kontrollieren, und deren radikal-islamistischer Zweig – vertreten vor allem durch die Terrororganisation Ansar al-Sharia – dem Staat den Krieg erklärt hat. Seit Mai bekämpfen Armee-Einheiten und Paramilitärs, die sich unter der Führung des umstrittenen Generalmajors Khalifa Haftar ohne jegliches parlamentarisches Mandat verselbstständigt haben, Milizen und jihadistische Gruppierungen, die sich im Nachkriegs-Libyen gebildet haben.

Bugaigis selbst steht der heroisch getauften „Operation Würde“ kritisch gegenüber und ruft am Wahltag zur Waffenruhe auf. Am Abend berichtet sie Familienangehörigen von Bewaffneten, die vor ihrem Haus lungern. Gegen 22 Uhr wird sie aufgefunden: Getötet durch einen Kopfschuss und mehrere Messerstiche. Ihr Ehemann, der laut Aussage der Familie das Haus verließ, um mit den Bewaffneten zu reden, ist seither verschollen; vermutlich entführt, womöglich bereits tot. 

Opfer des postrevolutionären Machtkampfes

Jamila Fellag; Foto: Valerie Stocker
„Zunächst haben wir durch die Revolution als Bürger viele Freiheiten gewonnen. Doch aus der Sicht der meisten Männer ist die Rolle der Frauen damit auch beendet. Die Botschaft an uns ist: ‚Danke für alles und jetzt zurück in die Küche’“, sagt Jamila Fellag aus dem libyschen Kulturministerium.

Als Anwältin setzte sich Bugaigis bereits in der Gaddafi-Zeit für Menschenrechte in ihrem Land ein. Als eine der Ersten schloss sie sich im Februar 2011 dem Aufstand in Benghazi an. Anfangs noch Mitglied des Nationalen Übergangsrates der Rebellen, wird die liberale Aktivistin rasch von konservativen Mitstreitern beiseite gedrängt und widmet sich stattdessen Workshops zur Stärkung der aufblühenden Zivilgesellschaft.

Zuletzt war sie Vize-Präsidentin des sogenannten Vorbereitungs-Komitees für Nationalen Dialog (NDPC), ein von zivilgesellschaftlichen Akteuren angeregter Prozess, dessen Ziel es ist, alle Interessengruppen Libyens an einen Tisch zu bringen und eine Art von Grundvertrag aufzusetzen. Letzterer soll dem im Februar gewählten „Komitee der 60“, Libyens verfassungsgebender Versammlung, die Arbeit erleichtern.

Ihre mutigen Stellungsnahmen und häufigen Fernsehauftritte verschafften Bugaigis nicht nur Respekt, sondern auch einflussreiche Feinde. Als Kritikerin des Milizen-Sektors und insbesondere der radikalen Islamisten machte sie sich zu deren Zielscheibe. Nach Morddrohungen und einem gewaltsamen Angriff auf ihren Sohn, der vermutlich ihr galt, war Bugaigis bereits vor Monaten mit ihrer Familie nach Jordanien übergesiedelt und nur zum Anlass der Parlamentswahl in die Heimat zurückgekehrt.

Sie, die von Beginn an den Aufstand mitgetragen hatte und das neue Selbstbewusstsein der libyschen Zivilgesellschaft verkörperte, ist nun Opfer des postrevolutionären Machtkampfes geworden.

Düsterer Wendepunkt

Bugaigis ist nicht die Erste, die ihr soziales Engagement mit dem Leben bezahlt. Im Juli letzten Jahres traf es beispielsweise Abdessalam al-Mismari; auch ein engagierter Jurist, den Unbekannte beim Verlassen der Moschee nach dem Freitagsgebet hinrichteten. Beide vertraten eine liberale Gesellschaftsschicht, aus deren Sicht die islamistischen Milizen eine große Gefahr darstellen.

Bugaigis Mord schockiert in Libyen vor allem deshalb, weil sie eine Frau ist, und Frauen bislang von der politischen Gewalt verschont geblieben waren. Viele sind es nicht, die sich an die Front wagen in einem Land, das oft als „Land der Männer“ beschrieben wird. Und das Risiko wird immer größer.

„Ihr Aktivismus forderte einen hohen Preis – den ihrer persönlichen Sicherheit – und dessen war sie sich vollkommen bewusst“, meint Zahra Langhi zum Fall Bugaigis. Gemeinsam hatten sie die Plattform Libyscher Frauen für Frieden (LWPP) ins Leben gerufen – eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Gleichstellung der Frau in Gesellschaft und Politik einsetzt.

Auch Jamila Fellag – im libyschen Kulturministerium für Frauen-Angelegenheiten verantwortlich – betrachtet den Mord als düsteren Wendepunkt: „Von nun an gibt es keine roten Linien mehr“, meint sie im Gespräch mit Journalisten. „Wir alle sind zukünftige Märtyrer.”

Frauen fühlen sich übergangen

Trotz der prekären Sicherheitslage mangelt es in Libyen keineswegs an zivilgesellschaftlichen Initiativen. Zu erwähnen neben der LWPP ist auch das  Libyan Women Forum (LWF), welches seit 2011 Workshops für Wahlkandidatinnen organisiert und seit neuestem ein von den Vereinten Nationen und Kanada finanziertes Trainingszentrum für Frauen leitet.

Das sogenannte Libysche Forum für Zivilgesellschaft (LFCS) versucht, das Ganze zusammenzubringen. „Um etwas zu erreichen, müssen alle an einem Strang ziehen“, sagt Farida Allaghi, eine der Gründerinnen des Forums. Die libysche Zivilgesellschaft stecke noch in den Kinderschuhen und leide an der zu weiten Streuung der einzelnen Projekte.  

Von Gleichberechtigung kann noch keine Rede sein. Jamila Fellag vom Kulturministerium erzählt im Gespräch mit Qantara.de von den Schwierigkeiten, denen sie als Politikerin und Frau ausgesetzt ist. „Zunächst haben wir durch die Revolution als Bürger viele Freiheiten gewonnen. Doch aus der Sicht der meisten Männer ist die Rolle der Frauen damit auch beendet. Die Botschaft an uns ist: ‚Danke für alles und jetzt zurück in die Küche’“, sagt sie mit einem bitterem Lächeln.

Auch die energische Amal Bayu, eine Professorin für Mikrobiologie, die lange in Deutschland gelebt hat und im neugewählten Parlament Benghazi vertritt, bedauert den nur langsamen Fortschritt: „Zunächst war ich gegen die Einführung einer Frauenquote in den Nationalwahlen. Aber jetzt halte ich sie für notwendig. Die libysche Gesellschaft ist einfach noch nicht bereit für Gleichberechtigung.“

Im amtierenden GNC, der im Juli 2012 entstand, sind unter den 200 Abgeordneten 17 Prozent Frauen. In der im Februar 2014 gewählten Verfassungsgebenden Versammlung sind es trotz aller Bemühungen der Frauenrechtler lediglich 10 Prozent. „Wir werden eben immer als Bürger zweiter Klasse betrachtet“, meint Bayu, die trotz dessen am 25. Juni mit über 14.000 Stimmen eines der höchsten Wahlergebnisse im ganzen Land erzielt hat.

Aus der Sicht Farida Allaghis ist es nicht nur die patriarchalische Mentalität, die Libyens Politikerinnen daran hindert eine größere Rolle zu spielen. „Wir Frauen sind trotz aller schönen Worte von Libyen und der internationalen Gemeinschaft übergangen worden. Hätte man uns, was die Sicherheitspolitik angeht, mehr Gehör geschenkt, anstatt die Milizen zu fördern, wären wir jetzt bestimmt nicht in einer so schwierigen Lage“, meint sie.  

Valerie Stocker

© Qantara.de 2014

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de