"Der Islam schützt uns"

Mit dem Erstarken der islamistischen Kräfte radikalisiert sich nicht nur der Nahostkonflikt. Zunehmend sucht heute auch eine neue Generation junger Palästinenserinnen ihr Heil bei der Hamas. Kai Adler berichtet

Mit dem Erstarken der fundamentalistisch-religiösen Kräfte von Hamas und Jihad Islami radikalisiert sich nicht nur der israelisch-palästinensische Konflikt. Zunehmend sucht heute auch eine neue Generation junger Palästinenserinnen ihr Heil bei den Islamisten. Kai Adler informiert

Studentische Anhängerinnen der Hamas demonstrieren an der Islamischen Universität in Gaza-Stadt, Foto: AP
Nicht bei der alten – bei der jungen Generation ist der Schleier populär: Weit mehr als ein religiöses Symbol, ist er zu einem Zeichen der Identität, zu einem Bekenntnis zur "Sache Palästina" geworden

​​Nur ein paar Fahrminuten den staubigen Weg hinunter von der "Al-Najah"-Universität in Nablus entfernt liegt das Studentenwohnheim "Al-Nur" – zu deutsch "Das Licht": Ein mehrstöckiges Gebäude, das vom islamischen Studentenblock der Gruppen Hamas und Dschihad Islami betrieben wird. Ausschließlich religiöse Frauen leben hier.

Das gemeinsame Praktizieren des Islam, das Befolgen seiner Regeln, gehört für sie zum Alltag. Auch zu dem der 21-jährigen Anglistikstudentin Alaa, die von sich sagt, sie habe erst während des Studiums und dem Leben im Wohnheim wirklich zur Religion gefunden.

Popularität des Schleiers

"Ich bin ein anderer Mensch geworden", erzählt sie. Wie alle Bewohnerinnen ist auch sie komplett verschleiert – und stolz darauf. "Jahrelang habe ich dafür gekämpft, meinen Hijab tragen zu dürfen", sagt Alaa. Ihre Mutter habe das zunächst nicht gewollt, "sie hielt es für ein Zeichen der Unterdrückung."

Eine Erfahrung, die sie mit vielen jungen Frauen teilt: Nicht bei der alten – bei der jungen Generation ist der Schleier seit einigen Jahren populär. Weit mehr als ein religiöses Symbol, ist er zu einem Zeichen der Identität, zu einem Bekenntnis zur "Sache Palästina" geworden.

Ein Wandel, der sich bereits Mitte der 90er Jahre abzuzeichnen begann: Während die PLO in Oslo mit Israel um Land und Frieden verhandelte, hatten die Aktivitäten der Hamas nicht nur in Gaza sondern auch im Westjordanland stark zugenommen.

Mit dem Scheitern der Friedensgespräche fühlten sich viele Palästinenser bestätigt: Nicht mehr der Fatah, sondern der Hamas trauen sie zu, die jahrzehntelange Besatzung zu beenden. Zumal es die Muslimbrüder und nicht die korrupte Arafat-Riege sind, von deren Hilfe viele hier in den vergangenen Jahren ganz unmittelbar profitiert haben.

Karitative Aktivitäten der Islamisten

Das funktionierende Sozialsystem der Muslimbrüder – auch für die jungen Studentinnen des Wohnheims ist dies der wichtigste Beweggrund dafür, sich für die Hamas stark zu machen. Wie sie sich für die Hamas engagieren, wollen sie lieber nicht sagen. "Sozialarbeit" ist immer wieder das Stichwort – es wird auf Schulen, Kindergärten und das Hamas-eigene Studentenwerk verwiesen.

"Wir Frauen beteiligen uns nicht direkt an Anschlägen, wir werfen keine Bomben", erklärt Alaa. "Unsere Aufgabe besteht darin, den Islam zu praktizieren und unsere Kämpfer im Sinne des Islam moralisch und politisch zu unterstützen."

Mit den männlichen Studentenvertretern der Hamas stehen die Frauen von "Al-Nur" zwar in Kontakt, jedoch nicht in direktem Austausch. Nur über einen Mittelsmann wird miteinander kommuniziert – und auch dann werden keine Blicke ausgetauscht, alles andere gilt als unkeusch und unislamisch.

Doch trotz der strikten Geschlechtertrennung, und obwohl sie sich selbst nicht am aktiven Kampf beteiligten, stünden sie den Männern in keinem Punkt nach, meinen die Studentinnen. Auch die Hamas selbst betont in ihrer Gründungserklärung von 1988 die Bedeutung der Frau für den Dschihad.

Frauen als Selbstmordattentäterinnen

Tatsächlich jedoch beschränkt sich die Rolle der Frauen nicht mehr allein auf Kindererziehung und moralische Unterstützung – wenige Hamas-Anhängerinnen sind heute auch am direkten Kampf beteiligt.

Zwar hatten die Muslimbrüder Frauen dies zunächst verboten. Doch seitdem es im Zuge der "Al Aqsa Intifada" in den vergangenen Jahren auch weibliche Selbstmordattentäterinnen gab, hat sich das Bild auch bei den religiösen Gruppen gewandelt: Die erste Hamas-Anhängerin unter diesen neuen "Shaheedas" (Märtyrern), die Studentin Dareen Abu Aysheh aus Nablus, hatte ihr Selbstmordattentat noch im Namen der Al Aqsa verübt.

Im Februar 2002 war die junge Frau zunächst bei der Hamas vorstellig geworden und hatte sich um die Durchführung eines Selbstmordattentates beworben. Weil die Muslimbrüder, ihr dies verboten hatten, war die Hamas-Anhängerin zu den Brigaden der Al Aqsa gegangen. Diese versorgten die junge Frau mit der nötigen Ausrüstung, die Studentin hatte sich noch im selben Monat an einem Checkpoint zwischen Ramallah und Jerusalem in die Luft gesprengt.

Auch die Haltung der Hamas gegenüber weiblichen "Shaheedas" ist nicht eindeutig. Seit Dareens Anschlag jedoch haben auch die religiösen Gruppen Frauen erlaubt, sich an Selbstmordattentaten zu beteiligen: Nur ein Jahr nach Dareens Attentat sprengte sich eine 19-Jährige, die Studentin Hiba Daraghmeh, im Namen des Dschihad Islami in die Luft, und im Januar 2004 verübte eine weitere Frau, Reem al-Riyashi, eine zweifache Mutter aus Gaza, im Namen der Hamas einen Anschlag am Checkpoint Erez.

Auf Frauen wie diese berufen sich jene Kämpferinnen einer erst vor kurzem geschaffenen weiblichen Einheit der Izz al-Din Al-Qassam Brigaden. Im September 2005 waren sie verschleiert und mit Raketen hantierend in der Wochenzeitung der Hamas "Al-Risala" aufgetreten und hatten sich zur Teilnahme am aktiven Kampf bekannt.

Sie hatten von ihrer Liebe für den Dschihad gesprochen und davon, dass sie sich nach Märtyrertum sehnten – einen Wunsch, den sie als völlig vereinbar mit ihrer traditionellen Rolle als Mütter und Wahrer ihrer Familien bezeichnet hatten.

Freiwillige Akzeptanz der Scharia

Ein Widerspruch, doch derer gibt es viele: Auch die Tatsache, dass gebildete und beruflich engagierte Frauen bereit sind, Einschränkungen unter einer von der Scharia geführten Gesellschaft wie sie der Hamas vorschwebt, zu akzeptieren, verwundert.

Ginge es nach der Hamas sollen sich Frauen zukünftig nur mit Einwilligung eines männlichen Vormundes öffentlich bewegen dürfen. Und das, obwohl sich palästinensische Frauenrechtlerinnen erst 1996 von der Autonomiebehörde das Recht auf einen eigenen Pass und damit das Recht, sich selbständig zu bewegen, erkämpft hatten.

Faktisch ändern würde sich für die Frauen durch die Reglementierung im Sinne der Religiösen jedoch nichts, denn wie viele Versprechungen und Errungenschaften der vergangenen Jahre, so blieb auch das Recht der Frauen auf Bewegungsfreiheit bislang uneingelöst. Heute aber ist es die israelische Armee, die die Frauen daran hindert. Alaa, die junge Studentin, weist aus dem Fenster: "Da draußen ist das israelische Militär. Es ist gefährlich hier. Der Islam und seine Vorschriften schützen uns."

Von der Hamas erhoffen sie und ihre Kommilitoninnen sich eine Struktur, einen Halt, den sie unter der Fatah bislang nicht erfahren haben. Deren Ideen gelten vielen heute als gescheitert, zumal sich die Bestrebungen der Menschen zunehmend darauf konzentrieren, die Besatzung abzuschütteln.

Dass ein zukünftiger palästinensischer Staat nach dem Gesetz der Scharia geführt würde, wäre den Studentinnen nur recht. Denn nicht obwohl, gerade weil ein solcher Staat nicht auf von Menschen gemachten, sondern auf Gott gegebenen Regeln basiere, sei er den westlichen Demokratien überlegen, so argumentieren sie. Das Thema Frauenrechte ist in den Hintergrund getreten.

Kai Adler

© Qantara.de 2006

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