Unser Land ist kein Sonderfall

Die Menschenrechtslage und die Situation der Frauen in Afghanistan sind nach wie vor prekär. Mutige und engagierte Menschenrechtsaktivistinnen warnen vor Kompromissen mit den Taliban und vor kulturellem Relativismus. Shikiba Babori berichtet.

Afghanische Politikerin Malalai Joya in einer Mädchenschule, Provinz Farah; Foto: Shikiba Babori
Malalai Joya in einer Mädchenschule: "Die wahren Feinde Afghanistans sind diejenigen, die die Rechte der Frauen und die Menschenrechte missachten", erklärt die Parlamentarierin und Menschenrechtlerin.

​​ "Menschenrechte sind in Afghanistan käuflich", sagt Massood, dessen Bruder – ohne ordentliches Gerichtsverfahren – in Haft sitzt und für dessen Freilassung die Polizei drei Tausend Dollar fordert. Vom Posten eines Verkehrspolizisten bis zum höchsten politischen Amt – im Krisenherd Afghanistan kann man alles kaufen.

Dieser Willkür soll eine Kommission Einhalt gebieten, die 2004 ins Leben gerufen wurde. Angesichts der prekären Situation in Afghanistan ist die Arbeit der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission AIHRC nervenaufreibend und zeitigt oft keine messbaren Fortschritte. Bereits kleine Erfolge gelten als Gewinn.

"Für Afghanistan gilt es schon als Erfolg, dass überhaupt so eine Institution existiert", erklärt Dr. Sima Samar, die Vorsitzende der Kommission. "Anfänglich war bereits die Forderung nach Menschenrechten eine Absurdität."

Mittlerweile, so Sima Samar, seien sich schon sehr viele Afghanen bewusst, was Menschenrechte sind, dass sie einen Anspruch darauf haben – und dass die Menschenrechte dem Schutz der Bürger dienen. "Und sie wissen, dass ein Polizist nicht einfach das Recht hat, jemanden in der Haft zu foltern oder sogar umzubringen. Ja, das ist ein Fortschritt."

Einsatz mit hohem Risiko

Seit fast drei Jahrzehnten setzt sich die Ärztin Sima Samar besonders für die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan ein. 2001 wurde sie Ministerin für Frauenangelegenheiten und als eine von fünf Stellvertretern von Präsidenten Karzai bestimmt. Sie übte diese Ämter bis zu ihrem Rücktritt im Jahr 2002 aus.

Afghanin mit ihrem Kind bei einem Heiler, Kabul; Foto: Stephan Schütt
Afghanin mit ihrem Kind bei einem Heiler: Afghanische Menschenrechtsorganisationen fordern, dass die Menschenrechte in Gesprächen mit den Taliban nicht zur Verhandlungsgrundlage werden dürfen.

​​ Der Einsatz für die Menschenrechte ist in Afghanistan stets mit großem persönlichem Risiko verbunden. Den extremistischen, antiliberalen Kräften ist die studierte Medizinerin Samar ein Dorn im Auge. Regelmäßig erhält sie Morddrohungen, nicht zuletzt wegen ihrer Forderung nach Gleichberechtigung für Frauen und das Einbinden ethnischer Minderheiten – ein bis heute weitgehend tabuisiertes und heftig umstrittenes Anliegen.

Die Extremisten und Ultratraditionalisten verfechten ihre Positionen mit Vehemenz und Gewalt und geben erst dann nach, wenn sie mit Sanktionen rechnen müssen. Deutlich wurde dies, als im letzten Jahr in Afghanistan ein neues Familiengesetz in Kraft trat. Dieses sollte Frauen zukünftig sogar noch weniger Rechte einräumen, als sie unter den Taliban hatten; das Gesetz besagte unter anderem, dass eine Ehefrau kein Recht hätte, ihrem Mann den Wunsch auf ehelichen Beischlaf zu verweigern.

Internationaler Druck auf die afghanische Regierung

Mit diesem Gesetz wäre die Vergewaltigung in der Ehe de facto straffrei geworden. Eine unerhörte Provokation, die die internationale Gemeinschaft nicht unbeantwortet lassen konnte. Hatte sie doch auch wegen der prekären Situation der Frauen und der missachteten Menschenrechte im Land am Hindukusch ihre militärische Intervention legitimiert.

Die Androhung, die finanzielle Unterstützung drastisch zu kürzen, setzte das neue Gesetz genau so schnell wieder außer Kraft, wie es beschlossen wurde. Dass die internationale Unterstützung für die afghanische Regierung an Bedingungen geknüpft werden, ist seit langem ein ständiger Appell von vielen Frauen- und Menschenrechtlern in Afghanistan.

"Die wahren Feinde Afghanistans sind diejenigen, die die Rechte der Frauen und die Menschenrechte missachten", erklärt Malalai Joya. Deshalb müsse man darauf bestehen, dass diese nicht an der Regierung beteiligt werden, so die Parlamentarierin und Menschenrechtlerin.

Fataler Kompromiss

Auf Druck der internationalen Gemeinschaft und der NATO hat Präsident Hamid Karzai die Regierung und die Taliban zu Verhandlungen über ein Ende des Krieges aufgerufen. Die Sorge der afghanischen Bevölkerung ist, dass hierbei das Wohl der afghanischen Bevölkerung dem politischen und militärischen Kalkül zum Opfer fällt. Deshalb fordern Menschenrechtsorganisationen, dass die Menschenrechte in Gesprächen mit den Taliban nicht zur Verhandlungsgrundlage werden dürfen. Denn dann könnten die Taliban ihre Rolle als Staatsvertreter missbrauchen, um Menschenrechtsverletzungen per Dekret durchzusetzen.

Afghaninnen bieten ihre Ware feil, Kabul; Foto: Stephan Schütt
Eine seltene Szene in Kabul: Frauen bieten auf dem Markt ihre Waren feil.

​​ Der Schwerpunkt des AIHRC ist die so genannte "Übergangsjustiz". Bei der Aufarbeitung von Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen, die von diktatorischen Regimen oder während eines Bürgerkrieges verübt wurden, erweist sich die klassische Strafjustiz oft als unzulänglich. Die Übergangsjustiz ist eine Art Vergangenheitsbewältigung, die in individuellen Gerichtsprozessen ohne juristisches Strafmaß vollzogen werden.

Bei der Übergangsjustiz setzen sich die Gerichte für einen fairen Umgang mit der gesellschaftlichen und psychologischen Verarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen auseinander. Schuldfragen werden geklärt, allerdings werden keine Sanktionen verhängt. Es geht um darum, ein Verständnis für Ungerechtigkeit und Gräueltaten zu entwickeln, ohne dass alte Fronten erneut aufgerissen werden.

"Unser Ziel ist es, unser Land von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzung zu bereinigen und der Gesellschaft eine gerechtere, friedvollere und demokratische Zukunftsperspektive zu eröffnen", erklärt Sima Samar.

Das Menschenrechtskomitee engagiert sich in Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen der prosowjetischen Regierungen Ende der Siebzigerjahre bis heute – der schwierigste und undurchschaubarste Zeitabschnitt in der Geschichte Afghanistans, so die AIHRC-Präsidentin.

Die Ignoranz der internationalen Gemeinschaft

Sima Samar war wie Präsident Obama für den Friedensnobelpreis nominiert. So nahm sie auch bei ihrer Rede vor der Nobelpreiskommission in Oslo die Gelegenheit wahr, um nachdrücklich daran zu erinnern, dass Afghanistan keine Zukunft habe, wenn die Frauen des Landes von der gesellschaftlichen Teilnahme ausgeschlossen würden.

Straßenszene in der Altstadt von Kabul; Foto: Shikiba Babori
"Menschen wie Sima Samar und Malalai Joya sind für die Entwicklung Afghanistans von großer Bedeutung. Gerade jetzt, wo die internationale Gemeinschaft sich lieber heute als morgen zurückziehen würde und selbst Gespräche mit den Extremisten nicht scheut", schreibt Shikiba Babori.

​​ Sie müsse die internationale Gemeinschaft warnen, erklärte Samar. Niemand würde ihr vertrauen, wenn man das Land verließe, bevor wirkliche und nachhaltige Erfolge auf dem Gebiet der Menschenrechte zu verzeichnen wären. Doch mittlerweile hätten die internationalen Partner selbst die Hoffnung aufgeben, einige von ihnen hätten keine Scheu zu erklären, dass sich Frauenrechte mit der Kultur und der Religion Afghanistans einfach nicht vereinbaren ließen.

Entrüstet erklärt Samar in Oslo: "Das ist keine Kultur. Das ist keine Religion. Das ist Ignoranz. Das ist eine Verletzung der Menschenrechte."

Menschen wie Sima Samar und Malalai Joya sind für die Entwicklung Afghanistans von großer Bedeutung. Gerade jetzt, wo die internationale Gemeinschaft sich lieber heute als morgen zurückziehen würde und selbst Gespräche mit den Extremisten nicht scheut.

Um das Vertrauen der Bevölkerung jedoch nicht völlig zu verspielen, bedarf es derzeit umso mehr Menschen, die darauf bestehen, dass Versöhnungsgespräche an Forderungen nach Gerechtigkeit und an die Einhaltung von Menschenrechten geknüpft werden. Nur so besteht die Chance, dass die Bevölkerung wieder Vertrauen in die politischen Institutionen gewinnt und sie unterstützt.

Shikiba Babori

© Qantara.de 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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