Die Neugier des Paschas

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem 'Orient' hat im Westen eine lange Tradition. In Ägypten und Dubai werden jetzt Institute zur Erforschung des Westens gegründet. Julia Gerlach berichtet.

Skyline von Dubai, Foto: Larissa Bender
Skyline von Dubai

​​"Trink Coca Cola!" Wer in die Innenstadt von Kairo hineinfährt, kann nicht an der andauernd blinkenden Leuchtreklame vorbeischauen. Der Einfluss des Westens – besonders der USA – ist allgegenwärtig, auch in der ägyptischen Politik. Die Regierungen schielen vor wichtigen Entscheidungen nach Washington: Was sagt der mächtige Freundfeind?

Für die Untertanen sind die Bilder aus Palästina und dem Irak Abbilder der westlichen Politik in der Region. Amerika und Europa sind allzu vertraut und zugleich unheimlich.

"Die Bekanntschaft mit den Versuchungen der amerikanischen Kultur lässt bei vielen Arabern die Illusion einer Kenntnis entstehen", meint der saudische Prinz und Multimillionär Waleed bin Talal.

Er hatte gleich nach den Anschlägen des 11. September eine 10-Millionen-Dollar-Spende an die Stadt New York überweisen wollen, sich aber von Bürgermeister Giuliani eine Abfuhr geholt. Sein Geld war nicht willkommen. Jetzt hat der Prinz die gleiche Summe in die Forschung gesteckt: In Kairo und in Beirut sollen Zentren zur Erforschung Amerikas entstehen.

Erforschung des Westens

Westforschung, das Gegenstück zur Orientalistik, ist der neue Trend in der arabischen Welt. Kürzlich ging es bei einer Diskussionssendung auf dem Satellitensender al-Dschasira um dieses Thema: "Amerikas Politik verfolgt uns Araber bis in den Schlaf!", leitete Moderator Faisal al-Kassem die Runde ein: "Und das Traurige ist, wir haben kein einziges ordentliches Forschungsinstitut, das uns einmal erklären könnte, wie Amerika es schafft, in unsere Träume einzudringen."

Zwar werden an vielen Universitäten westliche Sprachen unterrichtet, und wer etwas auf sich hält, schickt schon seine Krabbelkinder in englischsprachige Kindergärten. Viele arabische Studenten besuchen Universitäten im Ausland, werden von ihren Regierungen geschickt, um Nützliches für die Entwicklung ihrer Länder zu lernen.

Allerdings fielen darunter bisher eher die Natur- und die Ingenieurswissenschaften. Dass mangelndes Wissen über gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zum Problem werden kann, das zeigt sich erst in den Zeiten der Krise.

Während die meisten Regierungen noch auf ihren alten Erkenntnisständen verharren, haben sich jetzt in mehreren arabischen Städten Intellektuelle und Geschäftsleute die Erforschung des Westens zum Ziel gesetzt. "Schon Napoleon hatte das erkannt. Er kam mit einer ganzen Armee von Wissenschaftlern, als er damals Ägypten eroberte", sagt der Sozialwissenschaftler Faisal Dschalul.

"Das Wissen aus dieser Expedition legte den Grundstein für die Orientwissenschaft. Bis heute profitiert der Westen davon. Nicht zuletzt, um die arabische Welt unter seiner Kontrolle zu behalten." Und er schlussfolgert: "Wir brauchen endlich auch solche Institute!"

Schockierende Überlegenheit

Napoleons Landung in Ägypten 1798 hatte der arabischen Welt einen Schock versetzt. Wie hatten es die Länder nördlich des Mittelmeers geschafft, eine so überlegene Technik zu entwickeln? Der ägyptische Pascha schickte Gelehrte los, dies zu ergründen. Sie kamen mit erstaunlichen Berichten zurück und hatten Reformideen im Gepäck.

Die Erforschung des Westens im 19. Jahrhundert löste in der arabischen Welt eine Welle der Modernisierung und Liberalisierung aus. Sie verebbte erst mit dem Aufkommen des arabischen Nationalismus in den fünfziger Jahren.

"Die Universitäten waren seither nicht mehr Orte des freien Denkens, sondern wurden zum Mittel staatlicher Propaganda", erklärt Omar Kamil. Der ägyptische Sozialwissenschaftler forscht am Simon-Dubnow-Institut in Leipzig.

Heute produziere das arabische Bildungssystem vielfach ideologisierte, nationalistische und religiös-fanatische Studenten. Kritik – besonders Selbstkritik – sei unerwünscht. Kamil will an die Tradition der alten Reformer anknüpfen und würde gern ein Institut für Europastudien in einer der arabischen Hauptstädte gründen.

Von europäischen Juden lernen

Besonders die Auseinandersetzung mit dem europäischen Judentum könne die arabischen Studenten weiterbringen. Wie haben beispielsweise die Juden im 18. und 19. Jahrhundert auf den Druck zur Säkularisierung durch die Gesellschaften des Westens reagiert?

"Im arabischen Kontext ist diese Frage brandaktuell. Die Schriften der jüdischen Aufklärer können das argumentative Arsenal der arabischen Intellektuellen werden." Allerdings, räumt Kamil ein, sei das Klima in den arabischen Ländern noch nicht ganz reif, ein solches Institut zu gründen. Aber derzeit werde ja viel über Reformen diskutiert unter den Intellektuellen der arabischen Welt.

Freiräume am Golf nutzen

Auch Abdulaziz Sager, der gerade ein Forschungszentrum in Dubai eröffnet hat, hofft auf politische Reformen. Mit seinem Golf Research Center will der saudische Geschäftsmann die noch engen politischen Freiräume am Golf ausnutzen und den Öffnungsprozess voranzutreiben helfen:

"Ich will das Wissen einer möglichst großen Zahl von Menschen zugänglich machen. Wissen und Information über andere Kulturen führen dazu, dass auch universelle Werte Verbreitung finden – und das führt wiederum dazu, dass Konflikte gelöst werden können", erklärt er.

In seinem Zentrum forscht ein gutes Dutzend arabischer Wissenschaftler über politische Strukturen in den westlichen Gesellschaften und deren Auswirkungen auf die Region. Wieso ist die Nahost-Politik des Westens so, wie sie ist?

Den Verschwörungstheorien, die sogar von manchem arabischen Intellektuellen herangezogen werden, um beispielsweise die Unterstützung Israels durch die westlichen Regierungen zu erklären, setzen die Wissenschaftler politische Analyse entgegen.

Auch Amerika wird erforscht

Das ist Neuland. Auch Mohammed Dajani ist ein Pionier. Der palästinensische Professor hat vor gut einem Jahr den ersten Diplomstudiengang in Amerikastudien in der arabischen Welt gegründet. An der al-Quds-Universität in Jerusalem studieren die Kinder der Intifada.

"Sie sollten einmal sehen, wie sich das Denken verändert!", erzählt er stolz. "Die Studenten kommen zu uns mit ihrem ganzen Hass auf den Westen. Hier lernen sie, die Politik zu analysieren und dann die USA begründet zu kritisieren."

Er will mit seinem Institut den Dialog mit dem Westen verbessern: "Die Araber sprechen zum Westen, aber sie bleiben dabei im Duktus ihres Denkens", beschreibt er. "Wir wundern uns dann, dass uns niemand zuhört."

Durch das Studium westlicher Geistesgeschichte soll eine neue Elite entstehen. Eine, die es versteht, sich in die andere Seite hineinzuversetzen und sich für den Westen verständlich auszudrücken.

Ein Think Tank zur Beratung der eigenen Regierung sei sein Institut nicht: "Die arabischen Regierungen sind es nicht gewohnt, Empfehlungen von unabhängigen Wissenschaftlern einzuholen. Sie entscheiden nach ihren eigenen Mustern."

Professor Dajani wird von der Palästinensischen Autonomiebehörde misstrauisch beäugt. Der Antiamerikanismus in der Region färbt auf die Erforscher des Westens ab.

Amerikanische Sympathiekampagne scheiterte

Davon berichtet auch Manar al-Shorbagy vom frisch gegründeten Zentrum für Amerika-Studien an der Amerikanischen Universität von Kairo. "Die Menschen sind sehr skeptisch. Die US-Regierung hat mit ihrer Kampagne zur Gewinnung der Herzen und Köpfe der Muslime – die ja ein großer Flop ist – enormen Schaden angerichtet", sagt sie.

Die Menschen wüssten nicht mehr, wer der amerikanischen Propaganda verpflichtet ist und wer im Interesse der arabischen Sache wissenschaftliche Forschung betreibt.

Gerade deswegen ist es ihr so wichtig, dass ein guter Teil der Finanzierung ihres Fachbereichs aus arabischer Quelle – aus eben jener Schatulle des Prinzen Waleed bin Talal – stammt.

Erforschung des Feindes

Die Regierung in Washington begrüßt das neue Forschungsinteresse in der Krisenregion. Schließlich, hat im vergangenen Herbst eine US-Expertenkommission, die Rezepte gegen den wachsenden Antiamerikanismus in der Region entwickeln sollte, die Förderung von Amerika-Studien ganz oben auf ihre Empfehlungsliste gesetzt.

"Wir wissen, dass es da ein Dilemma gibt", erklärt Ann Radwan von der Fulbright-Kommission in Kairo: "Wir wollen helfen, aber wir wissen auch, dass zu viel Hilfe aus den USA für manche Projekte schädlich sein kann."

Wer lässt sich schon gern von seinem Forschungsgegenstand finanzieren? Das macht die Wissenschaftsergebnisse unglaubwürdig. Schließlich geht es bei der Erforschung des Westens nicht nur um die Förderung des Dialogs der Kulturen, die Verbreitung von Demokratie und Reform.

Westforschung ist auch die Erforschung des Feindes. Es geht um strategisches Wissen in den Zeiten der Krise.

Julia Gerlach

(c) DIE ZEIT 01.07.2004 Nr.28