Flaneur zwischen Orient und Okzident

Er wollte Journalist werden, vielleicht auch einmal Bücher schreiben, ohne in eine bürgerliche Existenz hineinzugleiten. Er war bereit, Umwege, Heimweh, Armut, Gefahren, Hunger und Durst, alle Strapazen auf sich zu nehmen: Der Lebensbericht des Mourad Kusserow ist spannend.

Das zweite Leben von Ullrich Kusserow beginnt im Bauch einer Propellermaschine - auf einem Rollfeld in Berlin-Tempelhof in der DDR. Es ist Freitag, der 17. Juni 1955. Die Mutter ist seit einem Jahr tot. Der 16-jährige Ullrich, seine Brüder und sein Vater fiebern einer neuen Zukunft im Westen entgegen. Die Maschine hebt ab. In seiner Biographie "Flaneur zwischen Orient und Okzident" schreibt Kusserow: "Ich nahm Abschied von der Stadt, in der ich meinen ersten Atemzug getan hatte. Ich würde so schnell nicht wieder nach Berlin zurückkehren, und tatsächlich bin ich bis heute nicht mehr dort gewesen."

Schlüsselerlebnis Algerienkrieg

Bereits im sächsischen Crimmitschau, wo die Kusserows nach der Bombardierung Berlins Unterschlupf fanden, erwacht in Ullrich die Sehnsucht nach einer fremden Kultur. "Damals ahnte ich noch nicht, dass der Algerien-Krieg meinem Leben eine völlig neue Richtung geben würde. Ich konsultierte Atlanten und Lexika und las mit Feuereifer alle Zeitungsartikel über Algerien, aber auch über Marokko und Tunesien, wo ebenfalls Befreiungsbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft kämpften."

Faszination Islam

Die Kusserows ziehen in das beschauliche Örtchen Plochingen an der Neckar. Ullrich geht hier zur Schule - leistet seinen Wehrdienst - will Journalist werden. Der Junge liest Broschüren der Algerischen Befreiungsfront FLN. Erste Kontakte werden aufgebaut. Vier Jahre vergehen. Endlich bekommt er die Gelegenheit mit dem Zug nach Marokko zu reisen. Ullrich heißt fortan Mourad – sein Kampfname. Das Abenteuer eines jungen Deutschen mit wenigen Arabischkenntnissen an der Seite algerischer Freiheitskämpfer nimmt seinen Lauf...

Ein kurzer aber prägender Lebensabschnitt zwischen 1954 und 1962. Wenn er darüber schreibt, ist er befangen. Das spürt der Leser und das gesteht Kusserow auch ein. "Ich war dem Orient und dem Islam, noch bevor ich meinen Fuß richtig auf die Erde gesetzt hatte, verfallen. Marokko öffnete mir den Weg zum Islam, der mich durch seine Einheit von Geistlichen und Weltlichen, von Physik und Metaphysik, faszinierte."

Gelungene Genremischung

Mourad Kusserow zeichnet in seiner Biographie ein blumiges Bild des Orients und des Islam. Hier und da fallen auch kritische Töne, doch bleiben diese merklich hinter der Liebe zu Nordafrika verborgen. Klar ist: Mit seiner Biographie klagt Kusserow Europas Untätigkeit während des Algerienkrieges an. Dies geschieht mal als Abenteuerroman, mal als Liebesroman, mal als Agententhriller und mal als Zeitungsbericht – garniert mit historischen Informationen. Trotz dieser stilistischen Wirrungen gelingt es dem erfahrenen Journalisten Kusserow einen spannenden Einblick in die nordafrikanische Geschichte und Mentalität zu geben. Man wird des Lesens nicht müde, möchte selbst die Orte aufsuchen und spürt: Kusserow denkt sehnsüchtig an diese Tage zurück.

Ali Selçuk Akinci; © 2003, Deutsche Welle online

Mourad Kusserow
Flaneur zwischen Orient und Okzident
Kinzelbach, 2002
ISBN 3-927069-59-0
16.50 EUR
Verlag Donata Kinzelbach