Sprachlos im Zeitalter der Globalisierung

Marokko - Mexiko - Japan: Der mexikanische Regisseur Alejandro Gonzalez Inarritu verbindet in seinem Film "Babel" die Schicksale von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Hochspannendes Erzählkino, meint Amin Farzanefar.

​​Mit "Amores Perros" und "21 Gramm" hatte Alejandro Gonzalez Inarritu einen ganz eigenen filmischen Stil entwickelt, der unterschiedliche menschliche Schicksale virtuos miteinander verknüpft.

In seinem jüngsten Film "Babel" verbindet der 43-jährige Mexikaner nun über drei Schauplätze gleich drei Kontinente:

Ahmad und Yussef, zwei halbwüchsige marokkanische Ziegenhirten bekommen ein Gewehr in die Hände, mit dem sie eigentlich Schakale erlegen sollen. Stattdessen schießen sie auf einen Touristenbus und treffen die amerikanische Touristin Susan.

In den USA reist Amelia, eine mexikanische Nanny, zusammen mit den ihr anvertrauten Schützlingen Debbie und Mike zur Hochzeit ihres Sohnes über die Grenze und kommt bei einer Ausweiskontrolle auf der Rückreise in große Bedrängnis.

Und am anderen Ende der Welt, in Japan, lässt sich Chieko, die taubstumme Tochter des Geschäftsmannes Yasujiro, durch ein neonglitzerndes Tokio treiben, ihre Aktionen sind bestimmt von einem sexuellen Notstand, hinter dem jedoch der unverarbeitete Tod ihrer Mutter steht.

Wie Inarritu diese Fragmente erst allmählich zu einem Handlungsganzen zusammenmontiert, ist handwerklich virtuos - und nicht selten drastisch:

Emotionale Achterbahnfahrt

Susans lebensgefährliche Verletzung wird von einem Tierarzt mit grobem Werkzeug genäht; einem herumgackernden mexikanischen Huhn wird auf brutalste Art und Weise der Kopf abgerissen.

Doch solche Schrecksekunden sind weniger Nerven zerreißend als jene Momente, in denen Inarritu die dramatische Spannung bis an den Rand der Katastrophe steigert, um dann abrupt das Tempo herauszunehmen, den Schauplatz zu wechseln, und Publikum und Hauptdarsteller dann erneut auf eine emotionale Achterbahnfahrt zu schicken.

Hochspannendes ambitioniertes Erzählkino also, in dem regionale Schauspieler und Laien auf Augenhöhe neben internationalen Stars agieren: Zu Recht erhielt Babel in Cannes die "Goldene Palme" und aktuell eine Handvoll Oskarnominierungen. Der Film lieferte den Beweis, dass Autorenfilmer in Hollywood ihr Herz nicht zwangsläufig verlieren müssen.

Keine kompatiblen Welten

Die zugrunde liegende Botschaft ist schwieriger zu fassen. Das zentrale alttestamentarische Sinnbild – der Turmbau zu Babel als gewaltiges technisches Projekt, das schließlich in die Kommunikationslosigkeit führt, wird der Moderne angeglichen:

Episoden und Protagonisten in "Babel" sind durch neuzeitliche Errungenschaften, Technologien, Strategien miteinander verknüpft, ohne wirklich in Austausch zu treten. Der Tourismus schickt Menschen in Länder, von denen sie keinen Schimmer haben, die Medien inszenieren den "Anschlag" auf Susan sofort als Krise, die Globalisierung lässt ein japanisches Gewehr in Marokko Unheil anrichten ...

​​Dabei ist es eine Binsenweisheit der Globalisierungskritik, dass die aufeinander treffenden Welten wenig kompatibel sind, und so entspricht der harten filmischen Montage auch ein Aufeinanderprallen von Perspektiven und Mentalitäten:

Da warnt Susan Ehemann Richard in Marokko davor, Eiswürfel in die Coke zu kippen, weil man nicht weiß, "was da drin ist". Die Zwangspause, die der Tourenbus in dem kleinen Dorf Tazarine machen muss, ist geprägt vom Blick durch die Sonnenbrille der Vorurteile: Man misstraut dem marokkanischen Krankenwagen und wartet lieber auf den amerikanischen Helikopter.

Dieser Fürsorge der US-Regierung stellt Inarritu den rücksichtslosen Umgang der marokkanischen Behörden mit ihren Bürgern gegenüber. Bei ihrem Bestreben, den international aufkeimenden Terrorverdacht auszuräumen, verfahren diese nicht immer zimperlich. "Es gibt keine Islamisten in Marokko" – eine Aussage, die in dem autokratischen Staat einen besonderen Unterton erhält.

Thema Grenze

Inarritu filmt die Länder, die er selber bereist hat - Marokko, Mexiko, Japan - mit einer fast dokumentarischen Detailfülle. Dabei verweist das konkret Gezeigte immer auch ins Allgemeine – "Babel" betrachtet das gegenwärtige Weltgeschehen vor allem unter dem Aspekt der Grenze:

Da geht es um den begrenzten Blick des Westens auf den "Orient" und darum, wie die touristische Sicht ganze Realitäten und Sachverhalte ausblendet. Da geht es auch darum, wie die amerikanisch-mexikanische Grenzziehung mit einer sozialen Apartheid einhergeht.

​​Und die Japan-Episode - wohl die intimste – handelt davon, wie trotz physischer Nähe der Abstand unendlich groß sein kann. Die taubstumme Chieko, die sich durch die künstlich erleuchtete Kulisse Tokios bewegt, ist auch ein Symbol für die Isolation des modernen Menschen.

Dass Babel - diese Tour de Force durch die globale Misere - doch kein düsterer Film geworden ist, liegt an den eher kleinen Gesten, an viel sagend kurzen Blicken, mit denen Barrieren immer wieder überschritten werden - etwa wenn Richard sich von seinem marokkanischen Führer und Gastgeber verabschiedet, der sich um das Wohl der Verletzten gekümmert hat, oder wenn Chieko am Ende in finsterster Nacht doch noch eine verständnisvolle Seele findet.

Mit dieser grandiosen Gesamtschau einer erlösungsbedürftigen Welt erweist Inarritu sich als großer Moralist. Man mag ihm in seiner Konsequenz, dass alles mit allem zusammenhängt, nicht unbedingt folgen. Aber wie er das ganz Große und das Kleine zusammen denkt, das Politische und das Private – das ist von zeitloser Aktualität.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2007

Qantara.de

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