Filmische Chronik einer Flucht

Der semi-dokumentarische Spielfilm 'In this world' von Michael Winterbottom gewann dieses Jahr den 'Goldenen Bären' auf der Berlinale in Berlin. Ariana Mirza hat sich den Film angeschaut.

Der semi-dokumentarische Spielfilm 'In this world' von Michael Winterbottom gewann dieses Jahr den 'Goldenen Bären' auf der Berlinale. Ariana Mirza hat sich den Film angeschaut.

Filmplakat In this world

​​Ihre Fluchtroute folgt ausgetretenen Pfaden. Genügend Dollars im Schuh versteckt, werden sie von Schleuser zu Schleuser über Kontinente gekarrt. Die Angst reist von der ersten Minute an mit. Der 16jährige Jamal (Jamal Udin Torabi) und sein kaum älterer Cousin Enayat (Enayatullah Jumandin) begeben sich auf eine wochenlange, gefahrvolle Reise ins Ungewisse. Sie beginnt im staubigen Flüchtlingscamp Shamshatoo im Nordwesten Pakistans, führt von Peshawar aus über Quetta, Teheran, Istanbul und Triest bis ins französische Flüchtlingslager Sangatte. Auf den letzten Bildern des Films „In this world“ hat zumindest Jamal sein Ziel erreicht, eine pakistanische Fast-Food-Bude in London.

Die „Wirtschaftsflüchtlinge“ Jamal und Enayat sind die Hauptfiguren eines ebenso engagierten wie nüchternen Flüchtlingsdramas, mit dem der englische Regisseur Michael Winterbottom dieses Jahr den „Goldenen Bären“ auf der Berlinale gewann. Die Jugendlichen wirken in dem semi-dokumentarischen Spielfilm an einer Geschichte mit, die einen Teil ihrer Lebenswirklichkeit spiegelt. Jamal und Enayatullah sind keine Schauspieler, sie wurden kurz vor Drehbeginn im 53 000 Bewohner zählenden Flüchtlingscamp Shamshatoo als Darsteller engagiert. Und ebenso wie für die Filmcharaktere, die sie verkörpern, liegt das Ziel ihrer Träume in Europa. Wenige Wochen nach Ende der Dreharbeiten ist der Darsteller Jamal Udin Torabi selbst nach England ausgewandert.

Millionen Menschen auf der Flucht

In Michael Winterbottoms aufklärerischem Werk verbinden sich Realität und Fiktion auf vielschichtige Weise. Schon formal verschwimmen die Grenzen zwischen Dokumentation und Inszenierung. Mit eingeblendeten Landkarten und Off-Kommentaren informiert Winterbottom darüber, dass weltweit Millionen Menschen auf der Flucht sind, dass die armen Länder der Erde mit großem Abstand die meisten Flüchtlinge beherbergen, dass Flucht oft Folge von Krieg und der unrühmlichen Intervention reicher Staaten ist.

Um ein dokumentarisches Erscheinungsbild des Gezeigten bemüht sich auch Kameramann Mariel Zyskind. Er begnügte sich bei seinen Aufnahmen mit natürlichem Licht, drehte auf DV-Video, mit viel Handkameraeinsatz und räumlicher Nähe zu den Protagonisten. Das Drehbuch von Tony Grisoni ließ ebenso Raum für improvisierte Dialoge wie für das beklommene Schweigen, welches Jamal und Enayatullah mitunter befällt. „In this world“ will die Zuschauer wahrhaftig teilhaben lassen, an der bis ins Detail sorgfältig recherchierten Chronik einer Flucht, so wie sie sich tagein tagaus tausendfach zuträgt. Diese akribische Annäherung an die Wirklichkeit und die lobenswerte Intention des Films wurden von der internationalen Kritik zurecht gewürdigt.

Ratlosigkeit bei Zuschauer und Regisseur

Michael Winterbottom, Foto: AP
Michael Winterbottom

​​Dass „In this world“ beim Zuschauer jedoch wenig Mitgefühl erzeugt, kaum Verständnis und vielmehr Ratlosigkeit hinterlässt, das gehört zu den weniger häufig genannten Unzulänglichkeiten dieser filmischen Auseinandersetzung.

Am schwersten wiegt hierbei, dass Jamal und Enayatullah trotz der intimen Konfrontation mit ihren Reiseerlebnissen Fremde bleiben. Die filmische Beschreibung verharrt in einem kühlen Blick von außen, der weder ihre kulturellen Wurzeln, ihre Gefühle noch ihre Persönlichkeit offenbart. So bleiben die beiden afghanischen Jugendlichen ungeachtet des Bemühens, Flüchtlingen diesmal einen Namen und ein Gesicht zu geben, auch in Winterbottoms Film zwei Fallbeispiele. Exemplarische, austauschbare Figuren.

Ebenso verhält es sich mit denjenigen, die ihren langen Weg nach Europa kreuzen. Die Schlepper, Helfer, die Grenzschützer und kurzzeitigen Weggefährten, sie alle tauchen nur für Momente auf, die eine tiefere Sicht unmöglich machen. Sicher entspricht diese fragmentarische Darstellung, die Oberflächlichkeit der Begegnungen und Einsichten, jener Realitätsnähe, der sich Winterbottom verpflichtet fühlt. Aber wenn sich am Schluss von „In this world“ bei vielen Zuschauern nur die irritierte Frage stellt, warum Menschen wie Jamal und Enayatullah um jeden Preis nach Europa wollen, dann spiegelt diese Frage wohl auch die Ratlosigkeit des europäischen Regisseurs.

Ariana Mirza

© Qantara.de 2003

Website zu 'In this world'
Arsenal