Märchen und soziale Utopie

Der preisgekrönte Spielfilm "Min Dît" des Regisseurs Miraz Bezar erzählt vom Schicksal einer kurdischen Familie vor dem Hintergrund von Kurdenverfolgung und Flüchtlingselend in Südostanatolien. Claudia Hennen hat ihn gesehen.

​​ Ein Auto rattert über eine verlassene Straße irgendwo im tiefen Südostanatolien. Eine fünfköpfige kurdische Familie fährt von einem Hochzeitsfest zurück nach Hause. Da tauchen plötzlich Polizisten am Straßenrand auf, halten den Wagen an und erschießen den Fahrer und seine Frau.

Schwer traumatisiert bleiben die zehnjährige Gulîstan, ihr jüngerer Bruder Firat und ein Säugling zurück. Ihre Kindheit hat ein jähes Ende gefunden. Was folgt, ist der Überlebenskampf der Kinder am Rande einer unerbittlichen Gesellschaft.

Die Augen des Mädchens Gulîstan lassen den Zuschauer so schnell nicht wieder los. In ihnen spiegeln sich Verwunderung, Entsetzen und Verzweiflung wider.

Die Laiendarstellerin Şenay Orak wurde zusammen mit den anderen Kindern auf den Straßen von Diyarbakir gecastet, der größten Stadt im kurdischen Teil der Türkei. Ihr Blick sagt mehr als Tausend Worte, denn in diesem Film sprechen Kinder nur das Nötigste.

"Min Dît" – zu Deutsch: "Vor meinen Augen" – lautet der Titel des ersten Spielfilms von Miraz Bezar. Er spielt in den 1990er Jahren, der Hochphase des Bürgerkriegs zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Rebellen.

Abbild einer verlorenen Zukunft

In dieser Zeit befanden sich die kurdischen Provinzen der Türkei im Ausnahmezustand. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass damals über 18.000 politische Aktivisten von türkischen Paramilitärs verschleppt oder ermordet wurden.

Doch bis heute findet in der Türkei fast keine Auseinandersetzung mit dieser grausamen Vergangenheit statt. "Min Dît" versucht nun, "ein wenig Licht in diese finstere Periode zu bringen", heißt es im Pressetext.

​​ Der Film des 39jährigen kurdischstämmigen Regisseurs, der an der Berliner Film- und Fernsehakademie studiert hat, liefert keine Analyse des Kurdenkonflikts der 1990er Jahre. Vielmehr reiht er Versatzstücke aneinander, die zusammen genommen verschiedene soziale und politische Probleme der Kurden reflektieren. So ergibt sich nach und nach ein vielschichtiges Bild vom Alltag in Diyarbakir.

Seit den Auseinandersetzungen zwischen türkischem Militär und Kurden in den 1990er Jahren ist die Stadt zur Anlaufstelle von Flüchtlingen geworden und von 300.000 Einwohnern auf schätzungsweise 1,5 Millionen angewachsen.

Einer von ihnen ist Gulîstans Vater, ein Journalist. Er arbeitet für eine regimekritische Zeitung. Das allerdings erfährt der Zuschauer nur durch Andeutungen – wie vieles andere in diesem Film. So versieht er einen Artikel mit der Überschrift: "Vier Tote im Kurdengebiet – keine Verdächtigen".

Auch dass sein späterer Mörder ihn beschattet, wird nur angedeutet. Einige Informationen, die Miraz Bezar in seinem Film gibt, versteht oft nur, wer die innertürkischen Verhältnisse gut kennt. Beispielsweise dass der Mörder von Gulîstans, Mitglied von "Jitem" ist. Diese als "Staat im Staate" bekannte Organisation gilt als eine Art Geheimpolizei. Ob sie tatsächlich existiert, ist bis heute jedoch umstritten.

Parabel für gewaltlosen Widerstand

Regisseur Miraz Bezar hat den neorealistisch inszenierten Film mit märchenhaften Versatzstücken angereichert. Das bewahrt den Film davor, in die Hoffnungslosigkeit abzugleiten. Ein zentrales Leitmotiv ist das kurdische Märchen vom Wolf mit der Glocke, das der wohl bekannteste zeitgenössische Schriftsteller der Türkei, Yaşar Kemal, überliefert hat.

Das Märchen handelt von einem bösen Wolf, der ein ganzes Dorf bedroht. Anstatt das Tier zu töten, bindet ihm alter Mann eine schwere Glocke um. Durch deren Läuten werden alle gewarnt, und der Wolf verhungert schließlich.

Miraz Bezar; Foto: www.min-dit.com
"Min Dît" ist der erste Spielfilm des 1971 in Ankara geborenen und seit 1980 in Deutschland lebenden Regisseurs Miraz Bezar.

​​ Schon in einer der ersten Szenen des Films erzählt die Mutter ihren Kindern dieses Märchen beim Zubettgehen. Nach ihrem Tod hören Gulîstan und ihr Bruder es sich auf einer Musikkassette immer wieder an. Im Film wird das Märchen zur Parabel für gewaltlosen Widerstand.

Es hält Gulîstan davon ab, den Mörder ihrer Eltern zu erschießen. Stattdessen prangert sie ihn öffentlich an. Dass es ihr damit gelingt, am Ende den Täter zu stellen, ist der einzige Hoffnungsschimmer des Films und zugleich sein stärkster Moment.

Hier entfernt sich die Handlung am weitesten von der Realität. Das Zur-Schau-Stellen der Täter in der Hochphase des Kurdenkonflikts dürfte wohl kaum eine solche Wirkung gehabt haben. So zeigt der Film ein Stück soziale Utopie. Er steht für die Hoffnung, dass am Ende doch die Gerechtigkeit siegt und die Gesellschaft letztendlich das Böse erkennt und überwindet.

Mehrfache Auszeichnung

Der Film hat bereits zahlreiche Preise auf internationalen Filmfestivals erhalten. Auf dem größten seiner Art im türkischen Antalya wurde "Min Dît" mit den Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, auf dem jüngsten Filmfestival in Istanbul sprach man ihm gleich drei Trophäen zu, unter anderem für die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin.

Dass ein Film, in dem überwiegend Kurdisch gesprochen wird, eine solch positive Resonanz in der Türkei erfährt, ist neu und steht für die allmähliche Öffnung des Landes gegenüber der kurdischen Kultur und Sprache.

Es ist gerade einmal ein knappes Jahrzehnt her, dass mit "Reise zur Sonne" von Yesim Ustaoglu erstmals in einem türkischen Film Kurdisch gesprochen werden dufte. 2002 markierte das Drama "Hejar" (Kurdisch für "Unterdrückung") einen weiteren Schritt.

Der Film von Handan Ipekci war der offizielle Beitrag der Türkei für den Oscar und erzählt von der Beziehung eines alten türkischen Mannes, der ein verwaistes kurdisches Mädchen bei sich aufnimmt. Das türkische Kultusministerium empfand die Darstellung des Kurdenkonflikts als zu problematisch. Es verbot den Film nach fünf Wochen und drohte der Regisseurin mit mehrjähriger Haft.

Mittlerweile gibt es in der Türkei einen kurdischsprachigen Kanal im staatlichen Fernsehen, und Ministerpräsident Tayyip Erdogan wünschte zum Jahreswechsel 2008/2009 auf Kurdisch ein frohes Neues Jahr. Der angestoßene Prozess weckt Hoffnungen auf ein Ende der Gewalt und eine Zukunft ohne Diskriminierung für die Kurden in der Türkei.

Ende ohne Illusionen

Doch im Film sehen die Kinder von Diyarbakir einer illusionslosen Zukunft entgegen. Gulîstan und ihr Bruder Firat schließen sich einer Gruppe Straßenjungs an und fahren mit ihnen nach Istanbul – in der Hoffnung auf einen Neuanfang.

Wie Tausende anderer Kinder werden sie sich dort mit Kleinkriminalität und Betteleien über Wasser halten – allein die gegenseitige Gemeinschaft gibt ihnen noch einen gewissen Halt. Die türkische Gesellschaft hat sie längst im Stich gelassen.

Die letzte Sequenz des Films zeigt Straßenkinder in Istanbul, die mit Maschinenpistolen aus Plastik posieren, dazu ertönt ein Song des kurdischen Sängers Serhado, der dazu aufruft, die Augen vor der Wirklichkeit nicht zu verschließen – ein trauriges Abbild einer verlorenen Zukunft.

Claudia Hennen

© Qantara.de 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

"Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir", Regie und Drehbuch: Miraz Bezar, 102 Minuten, Kinostart in Deutschland: 22. April 2010

Qantara.de

Filmtipp: "Dol" von Hiner Saleem
Filme machen für Kurdistan
Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit entwickelt sich im kurdischen Teil des Irak eine bescheidene Filmindustrie. Auf der diesjährigen Berlinale stellte der Regisseur Hiner Saleem mit "Dol" einen weiteren Film vor, der mit Unterstützung der dortigen Regionalregierung gedreht wurde. Ariana Mirza berichtet über das kontrovers diskutierte Werk.

Kurdisches Kino
"Yilmaz Güney hatte den Startschuss gegeben"
Gibt es ein authentisches kurdisches Kino, eine kurdische Filmsprache? Darüber unterhielt sich Amin Farzanefar mit Mehmet Aktas und Bülent Kücük vom Kurdischen Filmfestival Berlin.

www

Webseite des Films "Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir"