Leben zwischen Kriegsruinen

Lange Jahre assoziierte man mit Bosnien allein Krieg und Zerstörung. An sein Filmschaffen etwa erinnerte erst 2001 «No Man's Land». Dabei erblüht die bosnische Filmszene geradezu dank staatlicher Förderung und dem grössten Festival Südosteuropas.

Lange Jahre assoziierte man mit Bosnien allein Krieg und Zerstörung. An sein Filmschaffen etwa erinnerte erst 2001 «No Man's Land». Dabei erblüht die bosnische Filmszene geradezu dank staatlicher Förderung und dem grössten Festival Südosteuropas.

Zerstörtes Haus in Sarajevo, Foto: AP
Zerstörtes Haus in Sarajevo

​​Ein silbernes Flugzeug kreist in der Abendsonne über Sarajewo. Es darf nicht landen, denn in ihm sitzen lauter glückliche Menschen, während unten in der Stadt Armut, Drogenelend und Korruption herrschen. Also startet der Pilot durch, um in ein anderes Land weiterzufliegen. -Srdjan Vuletics «Sommer im goldenen Tal» («Ljeto u Zlatnoj Dolini»), eine bissige Karikatur seiner Heimatstadt Sarajewo, ist nur einer von vier Spielfilmen bosnischer Regisseure, welche an der letztjährigen neunten Ausgabe des Sarajevo Film Festival auf dem Programm standen. Pjer Zalicas «Gori Vatra» («Es brennt»), Ademir Kenovics «Secret Passage» und Branko Djurics «Käse und Konfitüre» («Kajmak i Marmelada») führten den Boom des bosnischen Filmschaffens vor Augen. Es dominierte auch die Preisverteilung.

Im Niemandsland

Das war nicht immer so. Im Nachkriegs-Bosnien erblickten nur gerade einige Kurzfilme das Licht der wenigen übrig gebliebenen Projektionssäle, und sie drehten sich fast ausschliesslich um Krieg, Zerstörung, Flüchtlingselend, Entwurzelung oder Rückkehr. Damit leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung des Schreckens, kamen aber künstlerisch nur selten über das Mittelmass hinaus. Die Trendwende setzte 2001 ein, als Danis Tanovic mit seinem Erstling, «No Man's Land» («Nicija Zemlja»), überraschend unzählige Preise erhielt, darunter den Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film. Dieser Erfolg erinnerte die Welt daran, dass Bosnien nicht nur ein Synonym für Krieg ist, sondern auch Heimat einer beachtlichen Filmtradition. Und er erinnerte die bosnisch-herzegowinischen Behörden daran, dass der Film ein erstklassiges Aushängeschild und ein rentables Exportprodukt sein kann.

Seither besitzt die Föderation Bosnien und Herzegowina nicht nur ein Filmförderungsgesetz, sondern gar einen Fonds für einheimisches Filmschaffen - was angesichts der notorisch leeren Staatskassen und der sonst praktisch inexistenten Kulturpolitik einem Wunder gleichkommt. Bosnische Filmemacher der Nachkriegsgeneration, daran gewöhnt, ohne Geld zu drehen, produzierten nun mit wenig Geld Phantastisches. Auch thematisch hat sich das Feld weit geöffnet. «Käse und Konfitüre» nimmt die diffizilen Beziehungen zwischen Slowenen und Bosniern aufs Korn; «Sommer im goldenen Tal» zeigt die Sarajewoer Rap- und Jugendsubkultur; «Secret Passage» dreht sich um das Schicksal spanischer Juden zu Zeiten der Inquisition.

Low Budget oder No Budget

Am erfolgreichsten bleiben allerdings jene Filme, die sich mit dem Krieg und seinen Folgen beschäftigen. Doch auch hier ist eine Entwicklung zu erkennen. Tanovic thematisierte 2000 noch den Krieg selbst. Wie auch Ahmed Imamovic 2002 in «10 Minuta»: Er stellte während zehn Minuten die Erlebnisse eines japanischen Touristen in Rom dem blutigen Drama einer bosnischen Familie gegenüber, das sich zur selben Zeit nur eine Flugstunde entfernt im belagerten Sarajewo abspielt. Pjer Zalicas «Gori Vatra» von 2003 spielt dagegen nicht mehr im Krieg, sondern in der Nachkriegszeit, in der die einstigen Kriegsgegner von einer Versöhnung noch weit entfernt sind. Doch erstmals bleibt ein Funke Hoffnung.

Die Frage bleibt: Wie kann es gelingen, fast ohne Geld neunzigminütige Spielfilme hervorzubringen? Tanovic und Djuric produzieren in Slowenien, Kenovic in Frankreich und Luxemburg, Zalica brauchte vier Jahre zur Geldbeschaffung, Vuletic setzte auf Billigstproduktion mit Handkameras und sechzehnjährigen Darstellern. In fast allen Fällen arbeiteten Schauspieler ohne Lohn, halfen Familien und Freunde mit, blieben Schulden zurück. Dass solche Selbstausbeutung nicht ewig betrieben werden kann, darin ist man sich einig. Vorerst aber bildet sie die Grundvoraussetzung für jegliches Filmschaffen auf dem Balkan.

Grösstes Potenzial der bosnischen Filmszene bleiben die hervorragenden Schauspieler. Das haben mittlerweile auch Schweizer Filmschaffende gemerkt: Rolando Colla hat sein italienisch-schweizerisch-russisches Flüchtlingsdrama «Oltre il confine» (2002) kurzerhand nach Bosnien verlegt, als er die bosnischen Schauspieler Senad Basic, Ajla Frljuckic und Bojana Sljivic kennen gelernt hatte. Colla plant einen weiteren Film in und über Bosnien , während Daniel von Aarburg hier unlängst die Dreharbeiten zu «Ina, Amer und Elvis» abgeschlossen hat.

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem bosnischen Filmschaffen reichen allerdings weiter zurück. Marco Müller, damals Direktor des Filmfestivals Locarno, reiste 1994 während des Kriegs nach Sarajewo, um Miro Purivatra bei der Realisierung einer aberwitzigen Idee zu unterstützen: der Gründung eines internationalen Filmfestivals inmitten der belagerten Stadt. Das Sarajevo Film Festival (SFF) entstand 1995. 1996 war der Krieg zu Ende, die Schweiz finanzierte die Renovation des Studiokinos Obala Meeting Point, noch heute organisatorisches Herz des SFF, Swissair wurde die erste Hauptsponsorin. Direktor Purivatra ist des Lobes voll über seine Schweizer Freunde der ersten Stunde, lässt aber auch durchblicken, dass er inzwischen noch wichtigere Geldgeber gefunden hat.

Sarajevo Film Festival

Heute ist das SFF nicht nur der grösste Kulturanlass von Bosnien und Herzegowina, sondern auch dasgrösste Filmfestival Südosteuropas. Über 100 000 Eintritte verbuchten letztes Jahr die 162 Filme aus 44 Ländern. Die Festivals von Portoroz (Slowenien), Dubrovnik oder Motovun (Kroatien) können weder hinsichtlich der Zuschauerzahlen noch des Programms mithalten. Die Programmation des SFF ist ambitiös, aber den Ressourcen angemessen. Publikumsträchtige Spielfilme finden im Open-Air-Kino Metalac, einem grosszügigen Innenhof vor der grössten sephardischen Synagoge des Balkans, einen ungemein stimmungsvollen Rahmen. Premieren erhalten im Nationaltheater den glamourösen roten Teppich. Das Fachpublikum findet in der Sektion «New Currents» auch experimentelle Avantgarde und im «Panorama» Filme aus aller Welt, während «Tribute to» eigene Schwerpunkte setzt.

Wichtigster Fokus bleiben jedoch regionale Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus dem südosteuropäischen Raum von Slowenien bis Albanien. Neu bietet das Förderprogramm CineLink zudem Anreize zur regionalen Koproduktion. Der grosse Raum, den der Kurzfilm beim SFF einnimmt, ist die adäquate Antwort auf die finanzielle Lage des Filmschaffens in den meisten südosteuropäischen Ländern und gibt dem Nachwuchs eine Chance. Die Gratisvorstellungen am Mittag sind nicht nur eine nette Geste gegenüber den Studenten und Arbeitslosen. Wie sonst sollen No-Budget-Filmschaffende, die nicht zu ausländischen Festivals reisen können, sich einen Überblick über die aktuelle Szene verschaffen können?

Schönheitsfehler

Mehr als ein Schönheitsfehler bleibt, dass die in der Filmkommission einsitzenden Regisseure die staatlichen Fördergelder samt und sonders an ihre eigenen Projekte verteilt haben. Der Abschluss des letztjährigen Festivals mit der geplanten Weltpremiere von Ademir Kenovics «Secret Passage» fiel ins Wasser: Der einzigen in Sarajewo verfügbaren Filmkopie fehlte die Tonspur. Dieser Vorfall führte vor Augen, auf welch dünnem Eis sich die bosnische Filmszene bewegt. Auch beim dritten Anflug landet das silberglänzende Flugzeug aus «Sommer im goldenen Tal» nicht in Sarajewo. Würde es das aber tun, könnten seine Passagiere entdecken, dass sich da unten zwischen den Ruinen eine lebendige Filmszene formiert hat, die nicht nur Kleinkriminelle und korrupte Polizisten in Schach hält und dem zerrissenen, kriegsversehrten Land eine neue Seele einhaucht, sondern im Begriff ist, über die Grenzen des Balkans hinaus Wellen zu werfen.

Raphael Nägeli

© Neue Zürcher Zeitung, 12.03.2004