Schuldlose Schuld

Feo Aladags "Die Fremde" ist ein authentisches und einfühlsames Porträt einer eigentlich gut integrierten türkischen Familie in Berlin, die auf tragische Weise scheitert, als sich eine der Töchter aus ihrer Ehe befreit. Von Jasmin Atwaa

Quelle: Majestic Filmverleih
Jüngst ausgezeichnet beim Tribeca-Filmfestival in New York: Die Hauptdarstellerin Sibel Kekilli erhielt den Preis für die beste Schauspielerin. "Die Fremde" wurde als bester Spielfilm ausgezeichnet.

​​Feo Aladags erster Langspielfim erzählt von Umay, einer jungen Frau, die in Berlin aufgewachsen ist, deren Eltern und Ehemann jedoch aus der Türkei stammen. Anfänglich lebt sie mit ihrem Mann und ihrem etwa fünfjährigen Sohn in Istanbul.

Nach einer heimlichen Abtreibung und einem letzten ausufernden Streit in einer konfliktreichen Ehe flieht Umay – grandios gespielt von Sibel Kikeli – mit ihrem Sohn zurück nach Berlin.

Die Familie ist zunächst erfreut, geradezu euphorisch, als Umay plötzlich mit ihrem Sohn bei ihnen vor der Tür steht. Doch ist es wirklich nur ein spontaner Besuch? Ohne Ankündigung?

Schnell wird allen Familienmitgliedern klar, dass Umay überhaupt nicht vorhat, in die Türkei zurückzukehren. Hier beginnt das Drama. Anstatt dass ihre Familie sie auffängt und unterstützt, stößt Umay auf Unverständnis und Hilflosigkeit.

Abschätzige Blicke und Provokationen

Umay, eine attraktive junge Frau, verheiratet, mit Kind und getrennt von ihrem Ehemann – die Ehre der Familie scheint in Gefahr: Der Vater spürt die abschätzigen Blicke seiner Kollegen, die Brüder lassen sich in der Diskothek mit provokanten Sprüchen über ihre Schwester aus der Fassung bringen, und die kleine Schwester bangt um ihre Hochzeit, denn die Familie ihres Verlobten ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob die Tochter einer solch vermeintlich zerrütteten Familie der Eheschließung überhaupt noch würdig ist.

Foto: Majestic Filmverleih
Kampf um die Deutungshoheit des familiären Ehrbegriffs: Mehmet (Tamer Yigit) bedroht seinen jüngeren Bruder Acar (Serhard Can)

​​Trotz der widrigen Umstände strahlt Umay zunächst Selbstsicherheit und Stärke aus. Sie ist motiviert, ein neues Leben zu beginnen, möchte sogar ihr Abitur nachholen, um eine Arbeit zu finden und schließlich selbständig für sich und ihren Sohn sorgen zu können. Doch es kommt anders. Die Familie stellt sich ihr in den Weg und sieht letztlich einen einzigen Ausweg: nämlich Umay mit ihrem Sohn zurück nach Istanbul zu schicken.

Jede Figur eine eigene Geschichte

Das Besondere an Feo Aladags Drehbuch ist, dass jeder Protagonist eine ganz eigene Rolle im Familienkosmos spielt – hier wird nicht eine eindimensionale Figurenkonstellation aufgespannt, sondern ein facettenreiches Ensemble aufgestellt.

Umays Mutter ist eine Frau mit Beschützerinstinkt und versucht ihre Tochter zu unterstützen, indem sie gegenüber den anderen Familienmitgliedern behauptet, Umays Mann würde bald nach Berlin nachkommen – obwohl sie weiß, dass ihre Tochter ihre Ehe längst aufgegeben hat.

Foto: Majestic Filmverleih
Geheimnis unter dem Hochzeitskleid: Rana, Umays kleine Schwester, will heiraten.

​​Umays kleine Schwester hat sich in der Zeit, die Umay in Istanbul lebte, von ihr entfernt. Früher war Umay ein Vorbild für ihre kleine Schwester. Doch Rana hat sich entschlossen, ihr Glück nicht in die eigenen Hände zu nehmen, sondern sich konservativen Familienwerten unterzuordnen.

Umay findet, dass Rana noch zu jung für eine Hochzeit ist, doch sie erreicht ihre jüngere Schwester nicht mehr. Später wird klar, dass die "Ehre" einer größeren Gefahr ausgesetzt wäre, würde diese Heirat platzen. Die kleine Schwester ist nämlich schwanger.

Der jüngere Bruder ist eng mit Umay verbunden. Ein ruhiger, pubertierender Teenager, der von niemandem angehalten wird, Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen zieht er ziellos mit seinen Jungs um die Häuser. Nach und nach wird er in den "Kampf um die Ehre" einbezogen und auf Geheiß der Familie spioniert er schließlich seiner älteren Schwester hinterher.

Der große Bruder ist hingegen von Anfang an um die Ehre der Familie besorgt: Unmissverständlich zeigt er, dass er die Entscheidung und das Auftreten seiner Schwester nicht im Mindesten toleriert.

Als klassisches patriarchalisches Oberhaupt vertritt der Vater die Meinung, dass Umay ihrer "Pflicht" als Ehefrau und Mutter nachkommen soll. Er sieht keine andere Lösung, als Umay zurück nach Istanbul zu schicken, denn sie und ihr Sohn "gehören zum Ehemann", so das Familienurteil.

Suche nach einem Schuldigen

Dem jungen promovierten österreichischen Regisseurin Feo Aladag gelingt es, durch intensive Porträtierung jeder einzelnen Figur eine enge Bindung zu den Protagonisten herzustellen, sodass man deren Gefühle und Handlungen sehr gut nachempfinden kann. Den gesamten Film über ist man auf der Suche nach einem "Schuldigen".

"Die zwei wesentlichen Aspekte sind, dass Umay im Laufe der Geschichte innerhalb ihrer Familie zur Fremden wird", erzählt Aladag in einem Interview. "Weil sie sich nicht akzeptiert fühlt. Und wenn wir uns nicht akzeptiert, nicht geliebt fühlen, fühlen wir uns fremd. Und der andere Aspekt ist natürlich, dass Umays Familie sich in der 'Fremde' aufhält und vieles als fremd empfindet."

Foto: dpa
"Viel mehr als nur Schwarz-Weiß-Malerei": Sibel Kikelli bei der Preisverleihung zur besten Schauspielerin auf der diesjährigen Berlinale

​​Das Besondere an dem Drehbuch des Films ist, dass es keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern auch Grautöne gibt, sagt Kekilli in einem Interview, "dass es nicht nur die bösen Jungs und dieses arme Mädchen gibt, sondern dass es so ist, wie es ist."

Während des Films wird deutlich, dass jeder einzelne Charakter versucht mit seinen Gefühlen klar zu kommen: hin- und hergerissen zwischen Kultur und Tradition, Liebe, Familie und Religion. Eine Familie, die zwar ihren Platz in Deutschland gefunden hat, sich in der neuen Heimat eingelebt hat, nun jedoch von traditionellen Vorstellungen von Familie und Ehre eingeholt wird.

Am Ende des Films gibt es nicht diesen "einen" Schuldigen. Jeder einzelne Protagonist hat dazu beigetragen, dass die Geschichte mit einem so genannten "Ehrenmord" endet. Doch anders als in anderen Filmen mit dieser Thematik hat in "Die Fremde" niemand der Protagonisten mit diesem schockierenden Ende gerechnet – am Ende fühlen sich alle "schuldig".

Filmisches Drama, kein allgemeingültiges Porträt

Die Geschichte bewegt sowohl Zuschauer als auch Darsteller: "Ich habe meine Rolle geliebt", so die Hauptdarstellerin Sibel Kekilli. "Ich habe das Buch geliebt, und ich hatte sogar beim Lesen Tränen in den Augen. Und ich hatte schon beim Lesen das Gefühl, dass man da niemanden verurteilt, dass man da nicht mit dem Finger auf die Figuren zeigt."

Foto: picture-alliance/dpa
Eine klassische griechische Tragödie in einer türkischen Familie in Berlin: Feo Aladag, Drehbuchautorin und Regisseurin von "Die Fremde"

​​"Die Fremde" ist ein sehenswerter Film mit wunderbaren schauspielerischen Leistungen und Emotionen, die unter die Haut gehen. Jedoch betont Aladag: "Der Film soll kein 'Porträt über türkische Einwanderer' darstellen. Es ist keine 'Studie', sondern vielmehr ein 'filmisches Drama', das eine ganz konkrete, spezifische Geschichte erzählt."

Bereits sechs Jahre vor Drehbeginn setzte sich Aladag mit "Ehrverbechen" in Deutschland auseinander, die an Frauen verübt wurden - Frauen, die lediglich versuchten, sich von familiären und innergesellschaftlichen Zwängen zu befreien.

Während sie für die Kampagne "Gewalt gegen Frauen" von Amnesty International einige Spots drehte, recherchierte sie über ähnliche Themengebiete. Die Schauspielerin Sibel Kekilli engagiert sich privat bei dem Verein "Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau".

Vor diesem Hintergrund verleihen sowohl Aladag, als auch Kekilli dieser schwierigen Thematik Glaubwürdigkeit. Ihnen ist eine authentische und aufwühlende Umsetzung gelungen, die glaubhaft einen Einblick in die Problematik mancher türkischer Einwandererfamilien gibt, ohne sie dabei pauschal zu stigmatisieren.

Jasmin Atwaa

© Qantara.de 2010

DIE FREMDE, D 2010 – Buch und Regie: Feo Aladag. Kamera: Judith Kaufmann. Musik: Max Richter, Stéphane Moucha. Mit: Sibel Kekilli, Settar Tanriögen, Derya Alabora. Majestic, 119 Minuten.

Qantara.de

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