Zeitbombe Hindukusch

Die Situation in Afghanistan verschlechtert sich zunehmend. Die Taliban gewinnen täglich an Boden zurück und der Wiederaufbau geht bestenfalls schleppend voran. Martin Gerner berichtet.

Britischer Nato-Soldat auf Patrouille in Kabul im Juli 2006; Foto: AP
Die Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung kollidieren mit den Vorgaben einer ungeduldigen Entwicklungshilfe, schreibt Martin Gerner

​​Fünf Jahre nach Ende des Taliban-Regimes hat der Bundestag die Verlängerung des Bundeswehr-Mandats in Afghanistan beschlossen. Ein Abzug, wie vereinzelt von Parlamentariern gefordert, steht nicht ernsthaft zur Debatte. Die ISAF hat nunmehr auch im unruhigen Osten die Kontrolle übernommen. Forderungen nach einem Strategie-Wechsel sind gleichwohl berechtigt.

Die NATO-Truppen der ISAF haben sich seit Juli im Süden auf einen Kurs begeben, der sich als fatal erweisen könnte: die Vermengung der militärischen Aufträge. Die strikte Trennung zwischen dem Mandat der US-geführten Koalitionskräfte einerseits, die Jagd auf Taliban und auf vermeintliche Terroristen machen, und der ISAF-Mission andererseits, die verbal vorgibt, etwas anderes zu tun, verschwimmt zusehends.

Die ISAF wird damit amerikanischer. Darin liegt auch eine Gefahr für Leib und Leben deutscher Soldaten, selbst wenn diese vorerst auf den Norden konzentriert bleiben.

Die im Süden Afghanistans stationierten NATO-Truppen haben jüngst den ersten Teil ihrer Offensive gegen die Taliban als erfolgreich beendet erklärt. Jetzt soll die ISAF in den entsprechenden Landesteilen den "zivil-militärischen" Wiederaufbau vorantreiben.

Armut stärkt die Taliban

Generalleutnant David Richards, NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan, sagt über den Wettlauf mit der Zeit: "Unsere Truppen haben sechs Monate Zeit, um zu siegen. Andernfalls könnten wir die Unterstützung der Bevölkerung verlieren." Was sich lange angedeutet hat, scheint eingetreten zu sein.

Einer von vielen Mohn Bauern in Afghanistan; Foto: AP
Die Versäumnisse der Entwicklungspolitik und des Wiederaufbaus veranlasst viele Afghanen, aus finazieller Verzweiflung im Mohn-Anbau ihr Glück zu versuchen

​​Die Menschen, vor allem in den südlichen Provinzen, spüren deutlich weniger vom Wiederaufbau als in Kabul oder im Norden. Zugleich werden sie von regulärer Polizei und Taliban drangsaliert. Der deutsche UN-Sonderbeauftragte Tom Koenigs spricht von einem "Volksaufstand".

Die zunehmende Unzufriedenheit in der Bevölkerung richtet sich sowohl gegen versickernde Gelder aus der Entwicklungshilfe wie auch gegen Präsident Karsais Untätigkeit und Kompromissbereitschaft in Bezug auf Politiker und Akteure, die Blut an den Händen haben oder korrupt sind. Seine Popularität ist auf einem Tiefpunkt.

Mittlerweile zeigt sich, dass Präsidentschafts- und Parlamentswahlen weitgehend als Demokratisierung von oben nach unten empfunden werden. Längst hat sich Ernüchterung eingestellt, weil belastete und korrupte Mudschahedin- und Milizenführer den Ton in der Volksversammlung angeben.

Afghanistan als Umerziehungslager

An der Basis, in den Dörfern, reibt sich die politische Neuausrichtung an traditionellen Wertevorstellungen. Bestehende Shuras, d.h. Versammlungen, die sich jahrzehntelang bewährt haben, werden im Rahmen diverser Programme im Eiltempo gender-politisch austarierte Gremien zur Seite gestellt.

Dabei kollidieren Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung mit Vorgaben einer ungeduldigen Entwicklungshilfe. Kritiker sprechen auch von Afghanistan als einem riesigen Umerziehungslager.

So gut wie alle Wertevorstellungen der Menschen stehen seit fünf Jahren zur Disposition oder werden hinterfragt. Darunter leiden Identität und Selbstwertgefühl. Viele Afghanen sprechen davon, dass in ihren Augen eine Überfremdung ausländischer Einflüsse drohe.

Teile der Bevölkerung in Kabul sehen in dem Wort "Demokratie" ein Schimpfwort, weil neben Geldern der Entwicklungshilfe auch Alkohol und Prostitution Eingang ins Stadtbild gefunden haben. Der Arm-Reich-Konflikt verschärft sich täglich.

Auch der Versuch, mehr Rechte für Frauen zu erkämpfen, wird nach Meinung von Experten zu sehr forciert. Vermehrte Übergriffe auf neue erbaute Mädchenschulen in jüngster Zeit können auch eine Reaktion darauf sein.

Das Protektorat Afghanistan

De facto ist Afghanistan in den fünf Jahren zu einem Protektorat von USA, Vereinten Nationen und großen Finanzorganisationen wie Weltbank und Asiatischer Entwicklungsbank geworden. Über zwei Drittel des afghanischen Haushalts kommen aus den Händen ausländischer Akteure. Der afghanische Staat hat lediglich auf die Vergabe von 25 Prozent der Hilfsgelder Einfluss.

Das schafft Frustration bis in die Staatsspitze. Mehr Mitsprache würden afghanische Regierung und Parlament in den Augen der Bevölkerung glaubwürdiger machen. Dass die Geberländer die Oberhand über die Hilfsgelder behalten, begründen sie mit der weit verbreiteten Korruption in Afghanistan.

Afghanistan Geberkonferenz in London 2006: Blair Karzai und Annan; Foto: AP
Die 'Afghanistan Compact'-Strategie, auf die man sich auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in London einigte, soll bei der Korruptionsbekämpfung maßgebliche Fortschritte erzielen

​​Tatsächlich liegt hier eines der größten Probleme. Betrug, Missmanagement und Pfusch sind aber auch unter den internationalen Akteuren zu finden. Die Schnellstraße zwischen Kabul und Kandahar, ein Vorzeigeprojekt, ist bereits nach zwei Jahren wieder reparaturbedürftig.

Sie wurde mit der billigsten aller möglichen Teer-Mischungen gebaut. Hier wie bei anderen Bauvorhaben wurden große Teile der Gelder durch US-Beraterfirmen zweckentfremdet als Gehälter für Spitzenpersonal und Komfortwohnen.

Nach Meinung der in Kabul ansässigen Organisation Integrity Watch Afghanistan hat der Westen das Thema Korruptionsbekämpfung lange Zeit vernachlässigt. Um verlorenes Vertrauen wiederzuerlangen, hat die internationale Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2006 in London einen Plan mit Namen "Afghanistan Compact" vereinbart. Er soll u.a. helfen, Korruption zu bekämpfen und mehr Transparenz zu schaffen.

Bisher hat diese Vereinbarung noch keine nennenswerten Folgen gezeitigt. Die afghanische Regierung behauptet, dass viele Hilfsprojekte den Prioritäten der Bevölkerung nicht Rechnung trügen. Es liegt an den Geberländern, diesen Vorwurf zu entkräften.

Hilfsprojekte im Dienst globaler Finanzinteressen

Nur ein geringer Teil der jährlich 80 Millionen Euro staatlicher Hilfsgelder aus Deutschland kommt tatsächlich bei den Menschen in Afghanistan an. Gehälter, Verwaltung und Material-Aufwendungen staatlicher und halbstaatlicher Hilfsorganisationen verschlingen große Teile. Im besten Fall bleiben 30 Prozent übrig, rund 25 Millionen Euro.

Die Bundeswehr-Operation am Hindukusch verschlingt dagegen 314 Millionen Euro pro Jahr, umgerechnet fast eine Million Euro pro Tag. Wenn es stimmt, dass die Taliban nicht militärisch zu besiegen sind, muss sich das Verhältnis ändern. Mehr Geld für den zivilen Wiederaufbau.

Für die Anti-Drogenpolitik war 2006 erneut ein Jahr ohne durchgreifende Erfolge. Der Westen hat Fehler gemacht. Die gewaltsame Zerstörung von Feldern ohne gleichwertige Einkommens-Alternative hat nur Sturm geerntet. Jeder radikale Ansatz treibt die Bauern in die Arme der Gegner.

Bis alternative Lebensgrundlagen die Einkommensverluste des Mohnanbaus ausgleichen, werden Jahre vergehen. Der Aufbau von verarbeitender Industrie wurde gleichwohl nicht wie notwendig forciert.

Zwar hat diesen Monat in Kabul die US-Firma Coca-Cola für 25 Millionen Dollar die Produktion von Coke, Sprite und Fanta aufgenommen. 350 Menschen bekommen dort Arbeit. Doch vor den Toren von Kabul, einer Region ertragreicher Obstplantagen, hat man bisher versäumt, Fabriken für den heimischen Markt und den Export produzieren.

Die deutsche Entwicklungshilfe betreibt zurzeit u.a. den Wiederaufbau der landesweit größten Zuckerfabrik in der Provinz Baghlan und des Zuckerrübenanbaus dort. Aber selbst die ertragreichsten Alternativen zum Mohnanbau erreichen maximal ein Drittel des damit erzielten Einkommens.

Martin Gerner

© Qantara.de 2006

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