Islam und Demokratie - Chance oder Widerspruch?

Für den iranischen Schriftsteller Faraj Sarkohi muß sich der Islam im Zeitalter der Globalisierung mit der Demokratie versöhnen. Eine Trennung von Staat und Religion ist für ihn unabdingbar.

Foto: Faraj Sarkohi

​​Über die Nachteile der Globalisierung wurde viel geschrieben: Die Globalisierung lässt die Armen ärmer werden und verstärkt die Akkumulation und Monopolisierung von Kapital, Technologie und Informationen in den Gesellschaften an der Spitze der Pyramide.

Offene Grenzen zerstören lokale Unternehmen. Die Bevölkerung teilt sich in Bürger der ersten und zweiten Klasse. Die Menschen der ehemaligen Dritten Welt werden zu Fußsoldaten, billigen Arbeitern und reinen Konsumenten reduziert. Die kulturelle Vielfalt wird gefährdet und die Einheitskultur der Massenmedien dominant.

Seit einiger Zeit summen iranische Jugendliche dieselben Popsongs von MTV wie ihre amerikanischen Altersgenossen. Ägypter verehren denselben Superstar wie Deutsche. Chinesen und Iraker verfolgen die Präsidentschaftswahlen in den USA mit der gleichen Anteilnahme wie die Amerikaner selbst.

In einem entlegenen Dorf in Iran, in dem man bis vor 20 Jahren noch nicht einmal ein Kino kannte und für dessen Bewohner die ganze Welt "Ausland" hieß, verfolgt man jetzt mit Besorgnis die Kurswerte von Dollar und Euro.

Die westliche Öffentlichkeit liest seit geraumer Zeit in den Zeitungen die fremd klingenden Namen von inhaftierten Schriftstellern und Journalisten aus dem Irak, aus Iran und der Türkei. Internet, Satelliten und Videokassetten verbinden die Welt.

Westliche Dominanz

Aber auch hier herrscht wieder westliche Dominanz. Die reichen Länder dominieren nicht nur in den Medien, sondern auch auf anderen Gebieten, etwa an den Universitäten und Forschungsinstituten, und bestimmen selbst die Richtung philosophischer, literarischer und ethischer Diskurse.

Die Globalisierung überschwemmt den Markt zwar mit einer Flut von Kultur, Wissen und Ideen, hat aber den Austausch zwischen den Kulturen weitgehend in eine Einbahnstrasse verwandelt. Die armen Länder sind gezwungen, ihre Grenzen zunehmend in Richtung der Kultur und Unterhaltung des Westens zu öffnen.

Nur eine kleine Zahl von Menschen in islamischen Gesellschaften, Intellektuelle vor allem, kennt die hohe Kultur des Westens; die Augen der Bevölkerungsmehrheit sind auf die Satellitenprogramme gerichtet. Sie weinen um Prinzessin Diana und träumen von Madonna und Michael Jackson.

Die negativen Auswirkungen der Globalisierung stellen auch die westliche Kultur in Frage. Aus einem anderen Blickwinkel jedoch – aus der Sicht von Menschen, die in einer Diktatur gefangen sind – öffnet die Globalisierung eine Tür.

Alle mit ihr verbundenen Probleme – Armut, Rückständigkeit, Klassenunterschiede, Ausbeutung, Raub von Ressourcen, Gefährdung der kulturellen Vielfalt – gab es auch zuvor schon. Dies ist nur eine Seite der Medaille.

Globalisierung und autoritäre Systeme

Die Globalisierung hat vor allem die Diktatoren und religiösen Autoritäten gerade in islamischen Ländern erregt. Der Islam als Staatsideologie wird herausgefordert.

Internationale Regulierungsorgane, multinationale Konzerne und die Weltbank beschränken die Verfügungsgewalt der Nationalregierungen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. NGO, die sich für die Menschenrechte, die Aufhebung der Geschlechterdiskriminierung und den Umweltschutz einsetzen, haben an Einfluss gewonnen.

Die Wahrung der Menschenrechte ist ein wichtiges Thema und spielt auch in den diplomatischen Beziehungen der Staaten eine gewisse Rolle. Eine wichtige Säule von Diktaturen ist die staatliche Kontrolle der Massenmedien.

Satelliten, Video und Internet machen ein derartiges Monopol unmöglich. Theokratische und diktatorische Regime sind mit der modernen Weltordnung nicht zu vereinen.

Für die Traditionalisten und Fundamentalisten unter den islamischen Führern bedeutet die Globalisierung einen neuen Kreuzzug des Westens gegen den Islam. Diesmal wird er nicht mit Schwertern und Lanzen geführt und auch nicht mit den Kanonen und Gewehren der Kolonialarmee, sondern mit Informationen, Satelliten und Internet.

Der Begriff "Westen" subsumiert in muslimischer Sicht Christentum, Atheismus, Zionismus, Rationalismus, Liberalismus und Demokratie. Gott hat den Muslimen im Koran das Versprechen eines "globalen" Gottesreiches auf Erden gegeben.

Ein Versprechen, dessen sich die islamischen Reformer in ihrer Auseinandersetzung mit der Globalisierung nicht mehr ganz sicher sind. Sie haben begonnen, vom kulturellen Dialog zu sprechen.

Konflikt der Systeme

Die Globalisierung ist unvermeidbar. Gleichzeitig ist Demokratie zu einem Hauptanliegen der Mehrheit der Bevölkerung in islamischen Gesellschaften geworden. Bis in die jüngste Vergangenheit konnte der Islam allen Herausforderungen trotzen – mit Wandel und inneren Reformen.

Wie ist dies heute? Ist der Islam mit Demokratie und Globalisierung vereinbar? Kann sich der Islam wie das Christentum den Regeln der Zivilgesellschaft unterwerfen? Kann sich der Islam auf die Regelung des individuellen Verhaltens beschränken? Sind die Erfahrungen europäischer Muslime, die sich selbst als Staatsbürger begreifen, auf andere islamische Gesellschaften übertragbar?

Vernunft contra Glauben, Individualität contra Kollektivismus, Rechte als Staatsbürger contra Verfügungsgewalt der Regierung, Gleichheit aller vor dem Gesetz contra Sonderrechte für Geistliche und Würdenträger und die Wahl der Mehrheit contra die ewigen göttlichen Gesetze: In diese Spannungsfelder sind die islamischen Gesellschaften geraten.

Ihre Intellektuellen fürchten mehr denn je um die Vielfalt der Kulturen; aber die gleichen besorgten Intellektuellen können sich der Freude nicht erwehren, wenn sie im Internet die gesuchten Informationen finden, und über die Zensur lachen.

Schriftsteller in islamischen Gesellschaften sind besorgt um die Zerstörung der Formen des traditionellen Erzählstils, ihre Kinder sind der eigenen klassischen Literatur entfremdet. Wenn jedoch einer von ihnen auf Grund seiner schriftstellerischen Tätigkeit verhaftet wird, sind es die Berichte der internationalen Presse, welche die Nachricht in der Welt verbreiten und möglicherweise Unterstützung nach sich ziehen.

Durch die gesamte islamische Geschichte zieht sich der Gedanke der islamischen Geistlichen, dass die Herrschenden Usurpatoren sind. Nach Auslegung der Traditionalisten war und ist die Regierung das alleinige Recht der Geistlichkeit.

Nicht nur in der traditionalistischen Auslegung, sondern in allen Interpretationen des Islams, auch in derjenigen der religiösen Reformer, besteht der Anspruch, dass die Gesellschaft auf islamischen Gesetzen aufbauen muss.

Dort, wo keine Regelungen genannt werden, haben Rechtsgelehrte (nach der Interpretation der Traditionalisten) bzw. die Bevölkerung selbst (nach der Interpretation der Reformer) zu entscheiden. Kein Gesetz darf allerdings im Widerspruch zu islamischen Gesetzen stehen.

Selbst in der modernsten und liberalsten Auslegung besteht die Überzeugung, dass Koran, Sunna und Hadith (Überlieferungen und Verhaltensnormen, die auf den Propheten und bei den Schiiten auch auf die Imame zurückgeführt werden) sowie Figh (Jurisprudenz) nicht nur die Beziehung zwischen Mensch und Gott definieren, sondern auch die soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung der Gesellschaft.

Der Unterschied zwischen Traditionalisten und Reformern im Laufe der Geschichte ebenso wie heute besteht nicht in der Respektierung dieses Anspruchs, sondern in der Auslegung der Gesetze.

Wer hat das letzte Wort?

Wer bestimmt die Gesetzgebung? Der Mensch oder Gott? Kann die Wahl der Mehrheit die Gesetze Gottes aufheben? Ist ein Muslim (wörtlich: jemand, der sich Gott unterwirft) ein Gläubiger, der göttliche Vorschriften ausführt, oder ein Bürger, der die Mehrheitsentscheidung akzeptiert? Der Islam und seine Interpretationen sind sehr vielschichtig.

In vielen Auslegungen wird dem freien Willen und der Verantwortung des Einzelnen eine hohe Stellung eingeräumt. In einer neueren Interpretation des Islam besteht die Überzeugung, dass sich die Religion auf die Regelung der persönlichen Beziehung zwischen Mensch und Gott beschränkt.

Die Regelung der Gesellschaft hat Gott demnach der menschlichen Vernunft überlassen. Aber selbst in dieser Auslegung sind die Vernunft und die Freiheit des Menschen begrenzt durch die Vorschriften, die im Koran klar bezeichnet sind.

So akzeptieren diese Reformer zwar im Gegensatz zu anderen Interpreten, dass eine Frau Präsidentin oder Parlamentsabgeordnete werden kann (hierzu macht der Koran keine klaren Angaben), aber das Recht auf das Richteramt oder das Sorgerecht für ihre Kinder nach einer Scheidung bleibt ihr weiterhin vorenthalten.

Die islamischen Reformer des Zeitalters der Globalisierung haben die Ineffektivität von religiösem Totalitarismus erkannt. Sie sprechen von Meinungsfreiheit, freien Wahlen, dem Dialog der Kulturen und von Menschenrechten, dies alles versehen sie jedoch mit dem Adjektiv "islamisch". Was bedeutet dies?

Atheisten besitzen demnach keine Meinungsfreiheit. Jemand, der als Muslim geboren ist, darf nicht zu einer anderen Religion konvertieren. Von den zahlreichen existierenden Religionen haben außer dem Islam nur drei (Judentum, Christentum und Zoroastrismus) das Recht auf freie Ausübung.

Politische Parteien dürfen sich nur dann betätigen, wenn sie sich in ihrer Charta auf eine der offiziell anerkannten Religionen beziehen. In der bestehenden Menschenrechtserklärung sieht man ein Produkt der westlichen Kultur.

Islam und westliche Demokratie

Diese Punkte gehören zu dem, was den Islam mit der modernen Demokratie in Konflikt bringt. Die islamische Geistlichkeit steht heute im Widerspruch zur Bevölkerung, die Demokratie verlangt.

Vor dem Fall der Sowjetunion standen andere Anliegen im Zentrum des Interesses der islamischen Staaten. Populistische Diktaturen unter dem Banner von Sozialismus und Nationalismus und prowestliche Diktaturen unter dem Banner von Modernisierung und Industrialisierung waren das Ergebnis.

Aber die historischen Erfahrungen haben den Menschen gezeigt, dass keiner ihrer Wünsche ohne Demokratie erfüllt werden kann. Demokratie rückte so in das Zentrum des Interesses der Bevölkerung.

Die Informationsrevolution und die anderen Nebenwirkungen der Globalisierung lassen die Aufrechterhaltung von Diktaturen als unmöglich und die Verwirklichung einer Demokratie als möglich erscheinen.

Es dauerte mehrere Jahrhunderte, bis das Christentum auf den Anspruch der Verwirklichung eines Reiches Gottes auf Erden verzichtete. Dem Islam bleibt, im Zeitalter der Globalisierung, nicht so viel Zeit.

Ein Islam, der sich auf die persönliche Beziehung zwischen Mensch und Gott beschränkt und die Politik und Wirtschaft der Wahl der Bevölkerung überlässt, lässt einen großen Teil koranischer Vorschriften unbeachtet.

Die klar dargelegten und somit nicht interpretierbaren Aussagen des Korans zu Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sind die Achillesferse der religiösen Reformer.

Akzeptieren sie nicht die Trennung von Staat und Religion, wird eine Verbindung von Islam und Demokratie scheitern. Akzeptieren sie nicht, dass die Mehrheitsentscheidung göttliche Gesetze aufheben kann, geraten sie in Widerspruch zu den Anliegen der Bevölkerungsmehrheit. Noch fällt es den religiösen Reformern schwer, dies anzunehmen.

Trotz allem bleibt dem Islam letztlich nichts anderes übrig, als sich auf die Regelung des persönlichen Verhaltens zurückzuziehen und sich mit der Demokratie zu versöhnen. Diesmal wird die Beantwortung von Fragen nach Islam und Demokratie und Tradition und Moderne nicht mehr an den religiösen Hochschulen diskutiert werden, sondern in den Internetcafés in Teheran, Amman und Mekka.

Übersetzung dem Persischen: Sabine Kalinock

Quelle: Neue Zürcher Zeitung (NZZ)

Faraj Sarkohi hat sich über Jahre in Iran als Schriftsteller und Publizist für Meinungs- und Geistesfreiheit eingesetzt. Nach mehreren Gefängnisaufenthalten, Folter und behördlichen Schikanen lebt er seit 1998 in Deutschland im Exil.