Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Fadhil Al-Azzawis Roman ist eine Sensation auf dem deutschen Buchmarkt – und sein Erscheinen eine späte Ehrung für den international anerkannten irakischen Schriftsteller, der ihn vor 25 Jahren verfasste. Während "Der Letzte der Engel" in Deutschland lange Zeit unbekannt blieb, feierte er bereits in der arabischen und englischsprachigen Welt große Erfolge. Von Volker Kaminski

Von Volker Kaminski

Schon bevor Fadhil Al-Azzawi 1977 den Irak verließ, wollte er einen Roman über den Irak schreiben. Doch erst im Berliner Exil gelang es ihm, die Geschehnisse um einige Personen, die, wie er im Interview sagt, "gute Freunde und Bekannte" von ihm waren, so anzuordnen, dass sich daraus eine Romanwelt entwickelte.

Wie er auf dem vergangenen Internationalen Literaturfestival in Berlin betonte, wollte er nicht nur ein Erinnerungsbuch über seine Geburtsstadt Kirkuk schreiben, sondern ein umfangreiches Werk über die "ganze arabische Welt". So ist dieser Roman nur auf den ersten Blick auf die 1950er Jahre im Irak beschränkt. Er stellt vielmehr eine phantastische Schöpfung dar, in der sich ungewöhnliche Schicksale, reale Geschichte und apokalyptische Visionen auf atemberaubende Weise mischen.

Angesichts des Figurenreichtums lässt sich der Romaninhalt nur andeutungsweise wiedergeben: Eine der Hauptfiguren ist der Chauffeur Hamid Nylon, der seinen Job bei der ansässigen britischen Erdölfirma verliert und beschließt eine Gewerkschaft zu gründen und revolutionäre Umsturzpläne in die Tat umzusetzen.

Diabolische Engel als Spiegel der Gesellschaft

Eine ebenso große Rolle spielt Burhan Abdallah, ein siebenjähriger Junge mit übersinnlicher Begabung. Burhan kommuniziert mit drei Engeln in Gestalt alter Männer, die Einfluss auf ihn und das im Zentrum stehende Chukor-Viertel gewinnen – keineswegs jedoch nur in gutem Sinne. Die Engel entpuppen sich mit der Zeit als dunkle, ja teuflische Kräfte: Sie sind Sinnbilder für die Entwicklung der irakischen Gesellschaft insgesamt, die nach vorübergehenden hoffnungsvollen Phasen immer wieder in Chaos und Gewalt versinkt.

Buchcover Fadhil al-Azzawi: "Der Letzte der Engel" im Dörlemann Verlag
Trotz einiger düsterer Seiten des Romans ist "Der Letzte der Engel" eher ein heiterer Roman, in dem das Negative durch die detaillierte Genauigkeit im Detail ausgelotet und ins Skurrile transformiert wird, schreibt Volker Kaminski.

Es ist erstaunlich, wie viele reale Bezüge zur heutigen Situation im Irak sich aus Azzawis Roman ergeben, als hätte der Autor mit Blick auf die 1950er Jahre schon die kommenden Bürgerkriegsszenarien vorhergesehen. Mögen manche Romanepisoden auch ins Märchenhafte übergehen und, wie es im Roman heißt, "die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen aufgehoben" werden, so bleibt doch für den Autor stets die bohrende Frage nach einer friedlichen Lösung für das Zusammenleben der Menschen in diesem multiethnischen und multireligiösen Land an erster Stelle.

Das Vielvölkergemisch aus Arabern, Turkmenen, Kurden, Juden und Christen ist auch im Roman nicht frei von Spannungen und Feindseligkeiten, dennoch überwiegt im Königreich der 1950er Jahre die Bereitschaft zur friedlichen Koexistenz. Dies hat auch zu tun mit dem beherzten Eingreifen einzelner herausragender Repräsentanten, die in kritischen Momenten mutig Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen.

Chidr Musa, von Beruf Schafhändler, organisiert auf eigene Faust einen offiziellen Besuch bei König Faisal II., um einen drohenden Konflikt mit den britischen Besatzern abzuwenden. Wie Azzawi dieses Unternehmen im Einzelnen schildert, beweist sein großes humoristisches Talent. Es scheint ein vergebliches Unterfangen zu sein, im Königspalast um Hilfe zu bitten, dennoch gelingt es der Delegation aus Kirkuk bis zum Palast vorzudringen und dem jungen – politisch inkompetenten – König die Bitte vorzulegen.

Dass auch aus dieser Friedensmission schließlich wieder Gewalt und blutiger Aufruhr in der Auseinandersetzung mit dem Militär resultieren, erscheint in der Logik des Romans geradezu zwingend, wird doch jede Hoffnungsperiode regelmäßig von Gewaltexzessen abgelöst, was der Erzähler mit grimmigem Humor kommentiert.

Zwischen Tradition und Modernität

Trotz dieser düsteren Seite des Romans ist "Der Letzte der Engel" eher ein heiterer Roman, in dem das Negative durch die detaillierte Genauigkeit im Detail ausgelotet und ins Skurrile transformiert wird. Das liegt einerseits an den ungewöhnlichen Figuren, die an die Auferstehung von Heiligen glauben, mit Engeln kommunizieren und selbst in der Begegnung mit dem personifizierten Tod – einem gutartigen alten Höhlenbewohner mit roter Mütze und Holzpantinen – noch die Contenance wahren.

Doch vor allem verdankt sich die Leichtigkeit Azzawis Erzählkunst, die zwar aus traditioneller orientalischer Dichtung wie den "Märchen aus tausendundeiner Nacht" schöpft und sich auf religiöse Texte wie den Koran, das Alte und das Neue Testament beruft, aber insgesamt einen sachlichen, modernen Prosastil pflegt.

Diese Kombination aus Tradition und Modernität hat es Azzawi ermöglicht, das von ihm geplante orientalische Epos zu schreiben und gleichzeitig doch ganz nüchternen Fragen nach den Sorgen und Nöten der Menschen nachzugehen.

Ruheloser Wanderer

Wenn Burhan Abdallah am Ende des Romans nach Kirkuk zurückkehrt, nachdem er 46 Jahre lang ruhelos in der Welt umhergewandert ist, so kann man darin ein utopisches Selbstporträt des Autors angedeutet finden, der sich seine Rückkehr in den Irak allerdings bis heute versagt.

Die politische Situation lässt dies seiner Meinung nach nicht zu. Doch anders als die düsteren Schilderungen am Ende des Romans glauben machen, hegt Azzawi eine leise Hoffnung für eine friedliche Zukunft des Irak.

Er glaubt, dass die gegenwärtig anwachsende IS-Miliz und ihre Terrorstrategie nur eine Episode darstellt, und ist überzeugt, dass der Irak sich befrieden wird, sobald es eine demokratisch gewählte Regierung gibt, die alle Iraker gleich behandelt, egal welcher Religion oder ethnischen Minderheit sie angehören.

Azzawis Roman zeigt auf spannende und höchst unterhaltsame Weise, durch welche Irrwege sich Menschen manchmal einen Weg bahnen müssen, um sich zu retten.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2014

Fadhil al-Azzawi: "Der Letzte der Engel", Roman, Aus dem Arabischen von Larissa Bender, Dörlemann Verlag, Zürich 2014, 512 Seiten