Mit dem Islam leben

Der Multikulturalismus scheint sich überlebt zu haben. Eine Ideologie, die verlangt, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen innerhalb eines Landes in getrennten Gemeinschaften leben, war nie praktikabel, meint der niederländisch-britische Schriftsteller Ian Buruma.

Der Multikulturalismus scheint sich überlebt zu haben. Eine Ideologie, die verlangt, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen innerhalb eines Landes in getrennten Gemeinschaften leben, sich nicht füreinander interessieren und einander auch nicht kritisieren dürfen, war nie praktikabel. Von Ian Buruma

Multikulturelle Gesellschaft in Großbritannien; Foto: dpa
Ob es den Europäern passt oder nicht: Die Muslime sind ein Teil Europas, so Ian Buruma - Multikulturelle Gesellschaft in Großbritannien

​​Die besonneneren Verfechter des Multikulturalismus haben natürlich nie daran gedacht, dass eine Kulturgemeinschaft eine politische Gemeinschaft ersetzen könnte oder sollte. Sie waren der Meinung, dass eine einheitliche Wertehierarchie nicht nötig sei, solange sich jeder an die Gesetze hält.

Vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren verband sich das Ideal des Multikulturalismus im eigenen Land mit einer Ideologie des kulturellen Relativismus gegenüber anderen Ländern. Dies entwickelte sich zu einer Form des moralischen Rassismus, wonach weiße Europäer eine liberale Demokratie verdient hätten, während Menschen anderer Kulturen darauf warten müssten.

Afrikas Diktatoren mögen Fürchterliches angerichtet haben, aber irgendwie wurden sie nicht zur Zielscheibe der Verachtung vieler europäischer Intellektueller, denn Kritik implizierte kulturelle Arroganz.

Gespaltene Niederlande

Die Niederlande, wo ich geboren wurde, sind vielleicht mehr als jedes andere Land durch die Debatte um den Multikulturalismus gespalten. Der Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh hat eine kontroverse Debatte über die im Land tief verankerte Kultur der Toleranz und die liberale Asylpolitik ausgelöst.

Schon lange bevor muslimische Gastarbeiter nach Holland kamen, war die Gesellschaft insofern "multikulturell", als sie auf protestantischen, katholischen, liberalen und sozialistischen "Säulen" beruhte. Jede dieser Gemeinschaften verfügte über eigene Schulen, Krankenhäuser, TV-Sender, Zeitungen und politische Parteien.

Als die Gastarbeiter aus Marokko und der Türkei de facto zu Immigranten wurden, begann sich mancher für eine zusätzliche muslimische Säule zu engagieren. Aber genau da kam es in der holländischen Gesellschaft zu einem dramatischen Wandel.

Ian Buruma; Foto: www.ianburuma.com
Ian Buruma, niederländisch-britischer Schriftsteller

​​Nachdem sich die Säkularisierung durchgesetzt hatte, begannen die traditionellen Säulen zu bröckeln. Zudem waren Muslime immer häufiger den Attacken von Personen ausgesetzt, die zwar in tief religiösen christlichen Familien aufgewachsen waren, sich aber in den Sechziger- und Siebzigerjahren zu radikalen Linken wandelten.

Aufgrund ihrer Selbstdefinition als Antikolonialisten und Antirassisten - also als Meister des Multikulturalismus - wurden sie zu glühenden Verteidigern der so genannten Werte der Aufklärung gegen die muslimische Orthodoxie. Diese Leute fürchteten ein Comeback der Religion und dass die protestantische oder katholische Unterdrückung, die sie am eigenen Leib erfahren hatten, durch einen ebenso repressiven muslimischen Verhaltenskodex ersetzt würde.

Es war allerdings nicht ihre Abkehr vom Multikulturalismus, die die Entwicklung einer "islamischen" Säule in der holländischen Gesellschaft verhinderte. Das Hauptproblem dieser Idee war vielmehr, dass Menschen aus der Türkei, Marokko und arabischen Ländern - manche von ihnen tief religiös, andere säkular, alle voller Ressentiments gegen die jeweils anderen - sich nie darüber verständigt hatten, auf welcher Grundlage eine solche Säule hätte stehen sollen.

Jetzt ist es jedenfalls zu spät, eine solche Säule zu schaffen. Es würde dazu führen, dass eine zunehmend integrierte Mehrheit mit einer Minderheit verhandelt und so deren Isolation fortsetzt.

Keine Gefahr der Werte durch Muslime

Ob es den Europäern passt oder nicht: Die Muslime sind ein Teil Europas. Es werden sich nicht allzu viele von ihrer Religion abwenden, und deshalb müssen die Europäer lernen, mit ihnen und dem Islam zu leben. Das wird natürlich leichter, wenn die Muslime erkennen, dass das System auch zu ihrem Vorteil arbeitet. Die liberale Demokratie ist mit dem Islam vereinbar.

Selbst wenn alle europäischen Muslime Islamisten wären - was bei Weitem nicht der Fall ist -, könnten sie die Souveränität des Kontinents so wenig gefährden wie seine Gesetze und die Werte der Aufklärung.

Deutschkurs für türkische Frauen in Hamburg; Foto: dpa
Wir müssen alles tun, um die Muslime Europas zu ermuntern, sich in die europäischen Gesellschaften zu integrieren, so Buruma - Deutschkurs für türkische Frauen in Hamburg

​​Natürlich gibt es Gruppen, die sich zum Islamismus hingezogen fühlen. Die in Europa geborenen Kinder der Einwanderer fühlen sich in dem Land, in dem sie aufwuchsen, nicht voll akzeptiert, aber auch zum Heimatland ihrer Eltern haben sie keine spezielle Bindung.

Neben einer Antwort auf die Frage, warum sie nicht glücklich sind, vermittelt ihnen der Islamismus ein Selbstwertgefühl und einen großartigen Grund, für etwas zu sterben.

Wirklich beschädigt werden können die europäischen Werte letztlich nur durch Europas Reaktion auf seine nicht muslimische Mehrheit. Angst vor dem Islam und den Immigranten könnte zu einer restriktiven Gesetzgebung führen. Durch die dogmatische Verteidigung der Werte der Aufklärung werden es die Europäer sein, die genau diese Werte aushöhlen.

Unsere Gesetze, die die Anstiftung zur Gewalt und die Beleidigung von Menschen aufgrund ihrer Religion verbieten, sind ausreichend. Weitere Einschränkungen der Meinungsfreiheit - wie Gesetze gegen Blasphemie oder gar gegen eine Leugnung des Holocaust - gehen zu weit.

Dogmatischer Umgang mit der Aufklärung

Das heißt allerdings nicht, dass wir unsere Worte nicht mit Bedacht abwägen sollten. Wir sollten sorgfältig zwischen den verschiedenen Arten des Islam unterscheiden und nicht gewalttätige revolutionäre Bewegungen mit der religiösen Orthodoxie verwechseln. Die Beleidigung von Muslimen aufgrund ihres Glaubens ist töricht und kontraproduktiv.

Ian Buruma
wurde 1951 in Den Haag als Sohn eines Holländers und einer Britin deutsch-jüdischer Herkunft geboren. Er studierte chinesische Literatur und Geschichte und arbeitete als Journalist, Übersetzer, Dokumentarfilmer. Auf Deutsch sind mehrere Bücher von ihm im Verlag Hanser erschienen
Das Gleiche gilt für die immer beliebter werdende Vorstellung, dass wir umfassende Erklärungen zur Überlegenheit "unserer Kultur" abgeben müssen. Ein derartiger Dogmatismus untergräbt den Skeptizismus, die Infragestellung aller Ansichten, einschließlich unserer eigenen, die ein grundlegendes Merkmal der Aufklärung war und ist.

Das heutige Problem besteht darin, dass wir die Werte der Aufklärung manchmal in sehr dogmatischer Weise gegen Muslime einsetzen. Sie sind zu einer Form des Nationalismus geworden - "unsere Werte" werden "ihren Werten" gegenübergestellt.

Die Werte der Aufklärung sind zu verteidigen, weil sie auf guten Ideen beruhen, und nicht, weil sie "unsere Kultur" sind. Kultur und Politik in dieser Art und Weise zu vermischen heißt, in dieselbe Falle zu tappen wie die Multikulturalisten.

Wenn wir die Muslime in Europa weiter bekämpfen, werden wir immer mehr Menschen in die Arme der islamistischen Revolution treiben. Wir müssen alles tun, um die Muslime Europas zu ermuntern, sich in die europäischen Gesellschaften zu integrieren. Das ist unsere einzige Hoffnung.

Ian Buruma

Übersetzung aus dem Englischen H. Klinger-Groyer

© Project Syndicate in Kooperation mit "Dziennik", Polen 2007

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