Nordafrikas Despotie zu Diensten

Der tunesische Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist Mokhtar Yahyaoui kritisiert die fragwürdige europäische Förderung des autoritären politischen Systems in Tunesien, das den Aufbau demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen blockiere.

Der tunesische Staatspräsident Ben Ali auf einer Parade während des 50. Jahrestags der Unabhängigkeit von Frankreich; Foto: AP
Tunesiens demokratische Elite ist enttäuscht über die Kooperation der EU mit dem autoritär regierenden Präsidenten Ben Ali.

​​Tunesien erhält seit zehn Jahren jährlich durchschnittlich etwa 80 Millionen Euro in Form finanzieller Zuwendungen von der EU – mehr als jedes andere Förderland der Europäischen Union.

Zu diesem Betrag kommt noch ein Vielfaches an Krediten hinzu, die entweder von den zuständigen EU-Einrichtungen oder im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit mit einzelnen Mitgliedstaaten gewährt werden. Tunesien exportiert 82 Prozent seiner Waren und Produkte in die Europäische Union, die damit den für das Land größten Absatzmarkt darstellt.

Geldsegen aus Europa

Hinzu kommt außerdem die Tatsache, dass die EU den größten Teil ihrer jährlich vorgesehenen Auslandsinvestitionen in Tunesien tätigt.

Die europäisch-tunesischen Beziehungen beschränken sich aber nicht allein auf direkte finanzielle Aspekte. So stützt sich der tunesische Tourismus hauptsächlich auf Reisende aus den EU-Ländern. Jährlich besuchen immerhin mehr als eine Million Deutsche und fast genauso viele Franzosen das Land.

Dieser Sektor bringt unserem Land im Jahr durchschnittlich 3000 Millionen Dollar ein. Ähnlich hoch ist die Summe der Finanztransfers der im Ausland lebenden Tunesier, deren Anzahl ungefähr ein Zehntel der Gesamteinwohnerzahl des nordafrikanischen Landes ausmacht und die sich hauptsächlich in EU-Ländern niedergelassen haben.

Um das Bild abzurunden und um die Verbindung zwischen Europa und Tunesien bewerten zu können, genügt vielleicht schon ein Blick auf die Anzahl der Flüge, die täglich von und nach Tunesien gehen. Allein zwischen Paris und Tunis gibt es pro Tag 15 Flugverbindungen.

Die tunesisch-europäischen Beziehungen zeichnen sich außerdem durch Beständigkeit und Stabilität aus, was im internationalen Beziehungsgefüge eher die Ausnahme darstellt.

Wirtschaftliche Abhängigkeiten

Es ist natürlich klar, dass Beziehungen solcher Reichweite und Bedeutung alle Maßstäbe bei Weitem überschreiten, mit denen zwischenstaatliche Beziehungen gemessen werden.

Ein Staat, der eine derartige Beziehung zu einem anderen Staat unterhält, läuft Gefahr, in eine zumindest aus wirtschaftlicher Sicht objektive Abhängigkeit zu geraten. Innerhalb der tunesisch-europäischen Partnerschaft wurde indes die Frage nach der Unabhängigkeit nationaler Entscheidungen bisher nicht gestellt.

Im dritten Paragraph des Partnerschaftsabkommens wird die europäische Hilfe jedoch an die Wahrung der Menschenrechte gemäß rechtsstaatlicher Prinzipien gekoppelt. Allerdings wurde dieser Paragraph ungeachtet der vielen gefährlichen Überschreitungen, die in diesem Bereich existieren, vollständig außer Kraft gesetzt, um das tunesische Regime nicht zu provozieren.

Die Europäische Union führt Tunesien stets als Musterbeispiel für ihre erfolgreiche Entwicklungspolitik an. Diese zielt auf die Anwendung vernünftiger Methoden und auf die politische Umsetzung im Bildungsbereich ab.

So sollte um eine breitflächige Bildung und Erziehung der Jugend nach modernen Lehrplänen gehen. Ebenso sollte die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft bis zur Gleichstellung mit dem Mann unterstützt werden. Der Umgang mit den knappen Ressourcen des Landes sollte in angemessener Art und Weise erfolgen.

Durch diese erklärten Ziele sollte es schließlich zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft kommen. Diese Vorhaben führten letzten Endes zu der Entstehung eines demokratischen Systems, das die Prinzipien der tunesischen Verfassung, die nach der Unabhängigkeit des Landes erlassen wurde, umsetzt.

Der absolutistische Charakter des Systems

Doch die Reform des politischen Lebens führte auch zu einer Verstärkung der individuellen Macht des Präsidenten – auf Kosten anderer demokratischer Instanzen.

Die Macht des Präsidenten wurde durch legislative Befugnisse erweitert, die ihm ihrerseits wiederum Immunität vor dem Gesetz garantierten. Durch genau diese Faktoren entstand der absolutistische Charakter, den das System bis heute aufweist.

Elemente eines pluralistischen Systems wie zum Beispiel Vereine, Parteien und Gewerkschaften gibt es nur in der Theorie. Von Meinungsfreiheit kann in Tunesien kaum die Rede mehr sein, die Medien sind einer extrem strengen Zensur ausgesetzt. Forderungen nach einer Liberalisierung des Systems, die sogar vermehrt aus staatlichen Einrichtungen laut wurden, wurden in der Vergangenheit im Keim erstickt.

Innenpolitische Abschottung

Mit der Vorbereitung einer weiteren Amtsperiode von Präsident Ben Ali, die nicht verfassungskonform war, begann 2004 das System der innerpolitischen Abschottung. Letztlich kam damit der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt, nach dem eigentlich seit der Unabhängigkeit gestrebt wurde, zum Stillstand.

Ein Abbau politischer Hierarchien im Machtapparat fand nicht statt. Dieser hätte gemäß rechtsstaatlicher Prinzipien durch verschiedene, unabhängige Institutionen gestaltet werden müssen, so dass ein tatsächlicher Pluralismus, eine effektive Zivilgesellschaft und ein normales politisches Leben hätten entstehen. Auch hätte der Sicherheitsapparat die ihm angemessenen Kompetenzen wieder übernehmen können.

Obwohl die Partner des autoritären Staates innerhalb der EU und auch der USA Zweifel gegenüber der Politik Ben Alis hegen, üben sie bis heute kaum Druck auf die Führung in Tunis aus. Um die Entwicklung im "Musterland Tunesien" voranzutreiben, erhält die EU ihre finanzielle Unterstützung aufrecht. Doch die Hilfe aus Brüssel dient leider in Wirklichkeit der Finanzierung einer Diktatur, die auf Unterdrückung und Diskriminierung ihres Volkes beruht.

Tunesiens demokratische Elite zeigt sich daher enttäuscht über den Widerspruch, dass aus der Kooperation und Partnerschaft mit demokratischen Systemen die Finanzierung und Unterstützung eines diktatorischen Apparats geworden ist, der alle Kriterien eines absolutistischen Systems erfüllt.

Ein prekärer und schwer zu akzeptierender Widerspruch besteht darin, dass ein Regime, das hauptsächlich auf finanzielle Unterstützung Europas angewiesen ist, das Maß seiner Ergebenheit und Abhängigkeit selbst festlegt, indem es scheinbar unabhängig arbeitende Vereine und Parteien zur eigenen Herrschaftssicherung ins Leben ruft und finanziert, während es seiner Opposition Heimatverrat und Abhängigkeit vom Ausland vorwirft.

Das Fazit, das aus dieser Partnerschaft wie sie sich heute darstellt gezogen werden kann, mag hart klingen: Aber ist es nicht merkwürdig, dass all diese Hilfsgelder, die in erster Linie die tunesische Wirtschaft ankurbeln sollten, vielmehr die politische Unterdrückung, die Frustration der Jugend sowie die Verstummung jeder oppositioneller Stimme gefördert haben?

Mokhtar Yahyaoui

© Qantara.de 2006

Übersetzung aus dem Arabischen von Martina Stiel

Mokhtar Yahyaoui ist tunesischer Rechtsanwalt und Vorsitzender des "Zentrums für eine unabhängige Justiz in Tunesien" (CTIJ) sowie Mitglied der "Internationalen Vereinigung zur Unterstützung politischer Gefangener" (AISPP).

Qantara.de

Sihem Bensedrin, Omar Mestiri:
Wider die Despoten vor Europas Haustür
Die europäische Unterstützung der Despoten auf der anderen Seite des Mittelmeers fördert Hass, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bei der Bevölkerung. Zu diesem Schluss kommen Sihem Bensedrine und Omar Mestiri in ihrem Buch "Despoten vor Europas Haustür".

Streit um unabhängige Justiz in Ägypten und Tunesien
Opposition auf dem Rückzug
In den letzten Wochen haben Ägyptens und Tunesiens autoritäre Herrscher erneut die Muskeln spielen lassen und die friedlichen Proteste für eine unabhängige Justiz in ihren Ländern gewaltsam unterdrückt. Mokhtar Yahyaoui kommentiert

Bürgerrechtsbewegung in Tunesien
"Die Unterdrückung hört nicht auf!"
Tunesiens Regierungsvertreter beschreiben ihr Land gerne als Ort der Toleranz und des Dialogs. Menschenrechtsorganisationen zeichnen dagegen ein völlig anderes Bild: unfaire Gerichtsverfahren gegen Regimekritiker und massive Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Mona Naggar informiert.