Fehlende Perspektiven

Nach monatelanger Unterbrechung hat die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wieder aufgenommen und auf einen weiteren Themenbereich ausgeweitet. Doch trotz des neuen Schwungs für die Verhandlungen ist die einstige Europa-Euphorie am Bosporus längst verflogen. Von Senada Sokollu aus Istanbul.

Von Senada Sokollu

Nach monatelanger Unterbrechung hat die Europäische Union die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wieder aufgenommen. Als eine „Wende in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei nach einer Pause von 40 Monaten“ hat der türkische Minister für Europaangelegenheiten Egemen Bagis in Brüssel die offizielle Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels im Beitrittsprozess seines Landes gewürdigt – das 14. von insgesamt 35.

Wegen des harten Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park hatte Deutschland im Juni weitere Gespräche zunächst blockiert. Die EU-Außenminister sahen nach dem jüngsten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Türkei aber dann ausreichend Fortschritte bei Demokratie und Menschenrechten.

Die EU zeigte sich vor allem erfreut über das neue "Demokratiepaket" Ankaras und lobte die Reformen des türkischen Premiers Erdogan. Das Paket beinhaltet unter anderem eine Lockerung des Kopftuchverbots sowie mehr Rechte für die Minderheiten. Als Fortschritt bewertet beides der EU-Kommissar für Erweiterung, Stefan Füle.

"Unsinnige politische Blockaden"

Es ist das erste Mal seit Juni 2010, dass die EU ein neues Verhandlungskapitel eröffnet. Das 14. Kapitel beinhaltet das Thema Regionalpolitik. Allerdings gibt es für die Eröffnung neuer Themenbereiche nur noch geringen Spielraum: Derzeit stehen noch Kapitel wie die Wettbewerbs- und Sozialpolitik für weitere Verhandlungen zur Verfügung. Alle anderen Bereiche sind bis auf weiteres blockiert. Die EU-Außenminister haben gemeinsam insgesamt acht wichtige Kapitel auf Eis gelegt, weil die Türkei ihr Assoziierungsabkommen mit der EU nicht auf Zypern anwendet.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan auf dem Weltwirtschaftsforum; Foto: Reuters
Zaghafte Fortschritte: Die EU-Kommission hatte in den vergangenen Jahren immer wieder mehr Demokratie als eine Voraussetzung für einen EU-Beitritt der Türkei gefordert. Erdogan habe hinsichtlich des Gebrauchs anderer Sprachen, der Religionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, des Wahlrechts und der möglichen staatlichen Parteienfinanzierung Hoffnungen auf Veränderungen geweckt.

"Wir hoffen, dass die unsinnigen politischen Blockaden anderer Kapitel sobald wie möglich beseitigt werden", hatte Bagis Ende Oktober erklärt. Auch Erdogan mahnte zur Eile: "Weitere Schritte sollten schneller unternommen werden. Wir haben bereits viel Zeit verloren."

Die Türkei ist seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat. Doch in der Türkei scheint das Interesse an Europa abzuflachen. So zeigte eine aktuelle Umfrage, dass heute nicht mal mehr jeder zweite Türke eine Mitgliedschaft befürwortet. Im Jahr 2004 waren es noch drei von vier Befragten. Gleichzeitig spricht sich ein Drittel ausdrücklich gegen einen EU-Beitritt der Türkei aus, vor neun Jahren waren es nur neun Prozent.

„Ich kann die Bürger verstehen: Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Verhandlungskapitel eröffnet, es gibt kein klares Datum für unseren Beitritt und türkische Bürger werden noch immer vor große Probleme gestellt, ein Visum für Deutschland zu bekommen“, so der türkische Europaminister Bagis in einem aktuellen Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Unter diesen Umständen grenze es schon fast an ein Wunder, dass noch immer recht viele Türken einen EU-Beitritt ihres Landes befürworten, führt Bagis weiter aus. „Tatsächlich glaubt jedoch nur noch ein Bevölkerungsanteil von 25 Prozent, dass wir der Europäischen Union beitreten, so Bagis weiter.

Wirtschaftsexperten für den EU-Beitritt

Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht wird die Notwendigkeit guter Beziehungen der EU zur Türkei deutlich. So findet Muherrem Yilmaz, Vorsitzender der Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (TÜSIAD), dass die Türkei ihre Bemühungen wieder verstärken müsse, wenn sie wirtschaftliches Wachstum, politische Stabilität und Demokratisierung will.

„In wirtschaftlicher Hinsicht braucht die Türkei die EU“, sagt auch der Ökonom und Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez im Qantara-Gespräch. „Es ist wichtig, ein EU-Mitglied oder ein EU-Beitrittskandidat zu sein, wenn es um ausländische Investitionen geht.“ Alleine die EU-Bestrebungen Ankaras zögen Investoren aus dem Ausland an, glaubt Sönmez.

Emre Gönen, Soziologe und Politikwissenschaftler am europäischen Institut der Bilgi-Universität in Istanbul; Foto: Senada Sokollu
„Entweder wird man Mitglied oder eben nicht. Norwegen beispielsweise ist mit jeder Faser in der EU integriert, wollte aber nie EU-Mitglied werden. Das ist auch eine Option für die Türkei“, meint Emre Gönen, Soziologe und Politikwissenschaftler am europäischen Institut der Bilgi-Universität in Istanbul.

„Die Türkei versucht auch Investoren aus anderen Teilen der Welt zu gewinnen, so auch aus dem Nahen und Mittleren Osten. Hier verfügt die Türkei als muslimisches Land über große Potentiale. Die Erweiterung des islamischen Bankenwesens in der Türkei beweist das. Doch der Anteil liegt momentan bei rund fünf Prozent am türkischen Bankensektor. Das ist zu gering, um die wirtschaftliche Situation in der Türkei nennenswert zu beeinflussen. Der türkische Markt benötigt Investitionen aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Hier kommt die EU ins Spiel. „Großartige andere Alternativen gibt es nicht“, so Sönmez.

Ein Motor für den Demokratisierungsprozess

Die Politikwissenschaftlerin Senem Aydin sieht die EU als Motor des Demokratisierungsprozesses im Land. „Vor allem in den letzten fünf Jahren wurde deutlich, dass die türkische Demokratie ohne den Einfluss aus der EU Rückschläge hätte hinnehmen müssen. Es ist daher eine Schande, dass die EU-Beitrittsverhandlungen sich so sehr verzögern“, meint Aydin.

Die Türkei brauche zwar die Europäische Union, um sich zu entwickeln und um ein Ziel vor Augen zu haben, findet auch Emre Gönen, Politikwissenschaftler am europäischen Institut der Bilgi-Universität in Istanbul. „Doch kann man nicht automatisch davon ausgehen, dass die EU auch mehr demokratische Reformen für die Türkei einleitet. Diese Gleichung geht nicht so einfach auf. Man muss für die Demokratie kämpfen und zwar in jedem Lebensbereich“, so Gönen.

Außerdem habe die EU nicht mehr zu bieten als eine Mitgliedschaft, kritisiert der Politikwissenschaftler. „Entweder wird man Mitglied oder eben nicht. Norwegen beispielsweise ist mit jeder Faser in der EU integriert, wollte aber nie EU-Mitglied werden. Das ist auch eine Option für die Türkei“, so Gönen.

Auch der türkische Europaminister Egemen Bagis hält diesen Weg für nicht ausgeschlossen: „Langfristig gesehen wird die Türkei wohl dem Beispiel Norwegen folgen. Wir würden dann zwar die europäischen Standards erfüllen, jedoch niemals Mitglied werden.“

Senada Sokollu

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de