Passen die Araber in die moderne Welt?

Patrick Seale, ausgewiesener Kenner der arabischen Welt, meint, die arabischen Nationen müssen dem Beispiel der Türkei folgen, um Teil der modernen Staatengemeinschaft werden zu können.

Und der Westen muss sie dabei nach Kräften unterstützen.

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Patrick Seale

​​Vielleicht die entscheidendste Streitfrage, die gegenwärtig von Politikern und Intellektuellen überall in der Welt diskutiert wird, ist, wie der schwer wiegende Antagonismus zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und der arabischen Welt zu bewältigen ist. Die Debatte nimmt viele Formen an, doch der Tenor verändert sich kaum.

Im Kern geht es dabei um die Frage, ob am Ende der Auseinandersetzung eine friedliche Koexistenz stehen kann oder ob der Weg zu offener Feindschaft und Konflikt vorgezeichnet ist — wie es Samuel P. Huntington in seinem berühmten (oder sollte man sagen: berüchtigten?) Werk Kampf der Kulturen meinte, vorhersagen zu können.

Aggressive Machtpolitik der USA

Seit der Amtsübernahme durch George W. Bush hat die US-amerikanische Außenpolitik eine ausgesprochen aggressive und konfrontative Haltung eingenommen, zu der die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 zweifellos maßgeblich beitrugen. Bushs rasche Antwort bestand in seiner Doktrin vom "global war on terror" und der erklärten Absicht, die Regime im Irak und in Afghanistan notfalls mit Gewalt zu stürzen.

Nun, zu einem recht späten Zeitpunkt, versuchen die USA, die Schärfe aus ihren bisherigen Verbalattacken herauszunehmen, wofür die jüngste Initiative für ein Programm zur Durchsetzung der Demokratie im "ganzen Mittleren Osten" ein Beispiel sein mag. Ein anderes ist die Gründung des von Washington gesponserten Fernsehsenders Al Hurra. Doch verfehlten diese Anstrengungen bisher ihre Wirkung und das Verhältnis der Vereinigten Staaten zur arabischen und islamischen Welt bleibt geprägt von gegenseitiger Furcht, von Verdächtigungen und Missverständnissen.

Die Angst der EU vor muslimischen Immigranten

Der Europäischen Union ergeht es nicht viel anders. Ihre Angst vor dem Import von Gewalt und unerwünschten Einwanderern aus der arabischen und islamischen Welt bildete das Hauptmotiv für die "Europa-Mittelmeer-Partnerschaft" (diese umfasst die EU sowie zwölf Partner aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum: Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Israel, Palästinensische Autonomiegebiete, Jordanien, Libanon, Syrien, Türkei, Zypern, Malta; Libyen ist Beobachter) im Rahmen des so genannten Barcelona-Prozesses.

Eng verbunden hiermit ist die Frage nach der Rolle des Islam innerhalb Europas, zumal es sich bei den Muslime um eine große und zudem schnell anwachsende Bevölkerungsgruppe handelt. Die größte Herausforderung liegt natürlich darin, wie die Immigranten in die weltlichen Strukturen ihrer europäischen Gastländer integriert werden können. Ein Problem, das aller Voraussicht nach bereits in einigen Jahren noch schwieriger zu lösen sein wird als heute schon.

Muslime sollen säkulare Grundwerte anerkennen

In Frankreich dreht sich die Debatte in der Hauptsache um das Kopftuch, insbesondere darum, ob es islamischen Schülerinnen erlaubt sein sollte, dieses in staatlichen Schulen zu tragen. Gerade wurde ein Gesetz erlassen, das eben dieses verbietet.

Keineswegs aber sollte dieses Gesetz dahingehend interpretiert werden, dass Frankreich seine fünf bis sechs Millionen Muslime nicht integrieren oder, dass es sie gar grundsätzlich an der Ausübung ihrer Religion hindern wollte. Es heißt lediglich, dass die Muslime gebeten werden — genau wie die Christen und Juden — die für alle geltenden säkularen Grundprinzipien des Staates anzuerkennen.

Ein anderer, zum gleichen Thema gehörender, politisch jedoch sehr viel weiter reichender Aspekt ist die Frage, ob der Türkei die Mitgliedschaft in der EU zugestanden werden soll — eine Frage, deren Antwort wohl positiv ausfallen wird, falls die Beitrittsverhandlungen mit Ankara, wie zu erwarten, im kommenden Dezember aufgenommen werden sollten.

In den letzten drei oder vier Jahren hat die Türkei auf dem Weg nach Europa enorme Fortschritte gemacht. zu Recht erwartet es nun, dass diese Anstrengungen anerkannt und belohnt werden.

Der Westen darf die Araber nicht im Stich lassen

Die Zukunft des mittleren Ostens ist von immenser Bedeutung — für Europa wie für die gesamte westliche Welt. Die einzige Schlussfolgerung, die aus den Ereignissen der letzten zwei oder drei Jahre vernünftigerweise zu ziehen ist, ist die, dass es sich der Westen nicht leisten kann, die Araber und Muslime fallen zu lassen. Zu viel steht auf dem Spiel, wenn er an seinem gewohnten Lebensstil festhalten will.

Die Lektion, die aus allen größeren Geschehnissen und Initiativen, die in der Region Wirkung entfalten — ob es um den "war on terror" geht, die Besetzung des Irak, die Versuche zur Eindämmung der Weitergabe nuklearer Technologie, Europas Barcelona-Prozess oder um die türkische EU-Mitgliedschaft — gelernt werden muss, ist, dass die nötigen Reformen der arabischen und islamischen Länder von innen kommen müssen oder sie ihnen von außen aufgezwungen werden.

Bisher haben es die Araber versäumt, dem türkischen Beispiel mutiger Reformen zu folgen. Nur zögerlich und ängstlich sprechen sie davon, ohne aber den Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Die Türkei verfügt über eine funktionierende parlamentarische Demokratie, eine freie Presse, eine mehr als hinreichende zivile Kontrolle des Militärs und eine prosperierende Zivilgesellschaft mit Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen.

Die Türkei hat die Todesstrafe abgeschafft und ist den Kurden in ihrem Verlangen nach gestärkter Identität entgegengekommen, was voraussetzte, das schmerzhafte Trauma eines blutigen Bürgerkriegs zu überwinden, der mehr als 35.000 Menschen das Leben kostete.

Die Türkei hat sich als eigenständige Nation erwiesen

Trotz ihrer engen Bindungen an die USA und die Atlantische Allianz, hat sich die Türkei als fähig erwiesen, eine eigenständige Außenpolitik zu formulieren (was sich spätestens im letzten Irakkrieg zeigte, als sie den amerikanischen Truppen den Durchmarsch durch ihr Territorium verwehrte). Mit großen Schritten bewegt sich die Türkei auf die Einhaltung internationaler Standards im ökonomischen, sozialen und politischen Leben zu.

In Zypern übt die Türkei großen Druck auf die türkischen Zyprioten und ihren starrsinnigen Führer Rauf Denktasch aus, um sie dazu zu bringen, den von UN-Generalsekretär Kofi Annan ausgearbeiteten Plan zur Wiedervereinigung der Insel anzunehmen. In all diesen Bereichen ist die Türkei den Forderungen der Europäischen Union nachgekommen.

Die arabische Welt bleibt zurück

So kann es nicht ausbleiben, dass die türkischen Bemühungen auch Einfluss auf seine Nachbarn haben. Syrien hat erst vor kurzem damit begonnen, seine Beziehungen zur Türkei zu verbessern, eine erfreuliche Entwicklung. Trotzdem macht es keine Anstalten, dem Beispiel der Türkei zu folgen.

Anfang März wurde in Damaskus eine Gruppe von Bürgerrechtlern festgenommen, deren einziges "Verbrechen" darin bestand, auf Plakaten, die sie vor dem Parlament hochhielten, das Ende des Ausnahmezustandes zu fordern, der seit inzwischen 40 Jahren (!) in Kraft ist. Diese Repressalien sind ein weiterer Schlag für das sowieso schon stark beschädigte internationale Ansehen Syriens.

Die Verhaftungen waren aber nicht nur ein arger Rückschritt, sondern sprachen allen Erklärungen Hohn, sich ernsthaft um Reformen und eine Modernisierung des Landes zu bemühen. Wie können selbst Wohlmeinende Syrien noch verteidigen, wenn all seine Handlungen nur auf falsch verstandene nationale Interessen und ein ebenso antiquiertes wie engstirniges Sicherheitsverständnis hindeuten?

Die Welt schreitet fort, doch die Araber bleiben weit zurück. Die Vereinigten Staaten sind gefesselt durch die Kampagne für die Präsidentschaftswahl im November, in der es durchaus um eine Richtungsentscheidung geht, könnte sie doch zu einer Neuausrichtung der amerikanischen Politik gegenüber dem Rest der Welt und zu einer Entspannung des durch Bushs Doktrin des "Präventivkrieges" angespannten Verhältnisses führen.

Europa sieht der baldigen Erweiterung auf 25 Mitgliedsländer im kommenden Mai entgegen — eine eindrucksvolle Ausdehnung und zudem eine gewaltige Kraftanstrengung, zwingt sie die Gemeinschaft doch, sich, vielleicht zum ersten Mal seit Beginn des europäischen Projekts vor einem halben Jahrhundert, sich ernsthaft mit ihrem Wesen und ihren eigentlichen Aufgaben auseinander zu setzen.

Mitgliedschaft der Türkei würde den Islam in Europa integrieren

Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union würde die Grenzen der Gemeinschaft neu definieren, helfen, das Trauma des 11. September zu überwinden und die so dringend nötige Akzeptanz des Islam als integralem Bestandteil der sozialen und politischen Identität Europas befördern.

Die Existenz eines stabilen und wirtschaftlich gesunden islamischen Landes innerhalb der EU würde eine ungeheure Außenwirkung haben — sowohl auf Europa als auch auf seine arabischen und islamischen Nachbarn.

Falls die Verhandlungen 2005 beginnen, wäre mit einem Beitritt zwischen 2010 und 2012 zu rechnen. Diese Jahre müssen die arabischen Staaten nutzen, um die drängendsten Probleme ihrer eigenen Gesellschaften zu lösen.

Soziale und politische Strukturen unter enormem Druck

Jedem objektiven Beobachter ist klar, dass die gegenwärtigen sozialen und politischen Strukturen der arabischen Länder keinen Bestand haben können. Diese Strukturen stehen unter einem solch gewaltigen Druck, dass sie unweigerlich zusammenbrechen, sollten die Regierungen nicht rasche Maßnahmen ergreifen, um den berechtigten Forderungen ihrer Bevölkerungen entgegenzukommen.

Ein drängendes Problem in beinahe jedem arabischen Land ist das Fehlen von Jobs in einer Zahl, die geeignet wäre, mit dem praktisch ungebremsten Bevölkerungswachstum Schritt zu halten.

Die Volkswirtschaften der arabischen Länder bedürfen dringend einer Reform, um diese Jobs zu schaffen. Politische Freiheiten, verantwortungsbewusste Regierungsführung, ein besseres Bildungssystem und ein ernsthaftes Einschreiten gegen die Korruption und den schamlosen Machtmissbrauch der Eliten — all dies sind dringend benötigte Reformen, damit die arabischen Gesellschaften tatsächlich in die Lage versetzt werden, ihren Platz in der modernen Weltordnung einzunehmen.

Reformen von innen dringend notwendig

Den USA und Europa ist es ein ernsthaftes Anliegen, stabile, sichere und prosperierende Gesellschaften zu schaffen. Das Aufkommen des islamistischen Terrors — das große neue Phänomen des 21. Jahrhunderts — führte ihnen nur zu deutlich vor Augen, wie eng ihre Zukunft mit der Entwicklung der arabischen und islamischen Welt verbunden ist.

Daher rührt meine feste Überzeugung, dass die augenfälligste Lehre, die aus den gegenwärtigen Zeitläuften zu ziehen ist, die von der dringenden Notwendigkeit innerer Reformen in den arabischen und islamischen Ländern ist, wollen sie nicht riskieren, dass ihnen diese radikalen Veränderungen von außen aufgezwungen werden.

Patrick Seale

© Patrick Seale 2004

Patrick Seale ist Publizist und Autor mehrerer Bücher zum Nahen und Mittleren Osten. Bekannt wurde er insbesondere durch seine umfangreiche Biographie des ehemaligen syrischen Präsidenten Hafis al-Assad. Er studierte im Libanon Arabisch am Middle East Centre for Arabic Studies, arbeitete sechs Jahre als Wirtschaftsjournalist für die Nachrichtenagentur Reuters und mehr als zwölf Jahre für The Observer.