"Der Geschichtsunterricht ist gefordert"

Wie gehen Jugendliche mit Migrationshintergrund hierzulande mit der deutschen Vergangenheit um, wie wird sie ihnen in Schulen vermittelt? Ein Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin Viola Georgi

2005 wurde in vielen Veranstaltungen dem 60. Jahrestag des Kriegsendes in Deutschland gedacht. Doch wie gehen eigentlich Jugendliche mit Migrationshintergrund hierzulande mit der deutschen Vergangenheit um, wie wird sie ihnen in Schulen vermittelt? Ein Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin Viola Georgi.

Holocaust-Gedenktag in Auschwitz; Foto: AP
Viola Georgi mußte oft die Erfahrung machen, dass vor allem in deutschen Haupt- und Realschulen das Thema Rechtsradikalismus, Nationalsozialismus und Holocaust oft kein Thema war

​​Frau Georgi, Sie haben sich in Ihrem Buch "Entliehene Erinnerung" mit den Geschichtsbildern junger Migranten in Deutschland befasst, und über Jahre in Umfragen mit Lehrern und Schülern unterschiedliche Standpunkte herausgearbeitet. Was haben Sie dabei festgestellt?

Viola Georgi: Insgesamt habe ich vier Typen von Geschichtsbildern herausgearbeitet. Den ersten Typus habe ich beschrieben als Analogiebildung: Jugendliche, die ihre eigene Diskriminierung im Aufnahmeland Deutschland in Beziehung setzen zu Erfahrungen von Opfern im Dritten Reich. Zum Beispiel erwog eine junge Muslimin, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen sollte, sich aber die Frage stellte, ob sie denn dann als Deutsche mit anderem Glauben nicht auch irgendwann Gefahr läuft verfolgt zu werden.

Ein weiterer Typus ist, die Perspektive der deutschen Gesellschaft zu übernehmen, sich möglichst mit ihr zu identifizieren. Zum Beispiel durch die Überlegung, wie hätte ich mich als deutscher Wehrmachtssoldat verhalten? Es kommt leider aber auch zu Mythen über den Nationalsozialismus. Ein Junge iranischer Herkunft erzählte mir, dass das schlimmste Verbrechen des Zweiten Weltkrieges das Bombardement auf Dresden gewesen sei. Er ließ den Holocaust dabei völlig außer Acht. Hier findet man die Motivation, sich über die Identifikation mit den Opfern eine Legitimation zu erarbeiten, dazuzugehören in der deutschen Gesellschaft.

Es gibt den dritten Typus, der sich sehr stark mit der eigenen ethnischen Gemeinschaft und dem Schicksal auseinandersetzt. Die eigene Flüchtlingsgeschichte ist dabei dominanter als die deutsche Geschichte. Das findet sich bei Jugendlichen, deren Familie eine eigene Verfolgungsgeschichte erfahren hat. Sie haben das Gefühl dass sie ihre eigene Geschichte auf der Folie des Holocaust erzählen müssen, damit sie überhaupt in Deutschland wahrgenommen werden.

Den vierten Typus nenne ich "postnationale Perspektive". Für diese Jugendlichen spielt es gar keine Rolle, welcher Herkunft sie sind, sie sehen sich nicht als Nachfolger von Opfern oder Tätern, sondern sagen sich, es waren Menschen die diese Verbrechen getan haben.

Es existieren also viele verschiedene Erinnerungsperspektiven bei jungen Migranten. Doch wie werden diese im klassischen Schulunterricht unterstützt oder diskutiert?

Georgi:Das hängt vom Geschichtsunterricht ab. Ein klassischer Unterricht, gedacht als Instrument zur Vermittlung einer nationalen Identität, wird dieses Ziel verfehlen. Er wird keine gemeinsame Erinnerungskultur stiften. Ich denke, dass wir uns gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung, dass wir uns mit dem Zuwanderungsgesetz auch als Einwanderungsgesellschaft bekannt haben, fragen müssen, was denn eigentlich mit der Geschichtsvermittlung passiert.

Der Geschichtsunterricht ist, viel mehr als früher, gefordert und aufgerufen, sich multiperspektivisch zu orientieren und Konzepte zu finden - auch in Hinblick auf die Integration von interkultureller Erziehung und Menschenrechtsbildung, die in Deutschland allerdings noch viel zu wenig ausgeprägt ist.

Jugendliche verschiedener Herkunft haben also gar keine Chance sich konstruktiv mit Geschichte im Unterricht auseinanderzusetzen?

Georgi:Das trifft leider zu. Aber nicht nur für diese Jugendlichen, sondern auch für deutsche Schüler, die anfällig sind für rechtsextreme Orientierungen. Ich konnte in meiner Studie die Erfahrung machen, dass gerade in Haupt- und Realschulen das Thema rund um Rechtsradikalismus, Nationalsozialismus und Holocaust oft kein Thema war. Vor allem in der achten und neunten Klasse. Mann kann allerdings auch nicht sagen, dass mangelnde Aufklärung automatisch rechtsextreme Tendenzen aufhält.

Es ist aber fatal, wenn in einigen Bundesländern darüber diskutiert wird, Geschichtsunterricht durch Geografie zu ersetzen. Und eben besonders für Jugendliche mit Migrationshintergrund, bei denen man nicht davon ausgehen kann, dass die Geschichte des Dritten Reiches in ihrer Familie besprochen wird.

Welche Ansätze dies zu ändern existieren denn bereits?

Viola Georgi:Es gibt viele Institutionen, die sich auf dem Weg gemacht haben: Schulen im Rahmen zu Projekten wie zum Beispiel "Demokratie leben und lernen". Das deutsche Menschenrechtsinstitut in Berlin hat sich mit Konzepten und Programmen beschäftigt, auch einige Gedenkstätten. Aber es gibt nach wie vor keine ausgereiften Konzepte, die programmatisch vorliegen. Das Thema befindet sich noch im Experimentierstatus. Es gibt zwar vereinzelt gute Ansätze, aber sie sind kaum systematisiert, weil sich Organisationen und Institutionen wenig untereinander vernetzen.

Welche Arbeit haben Sie dabei mit Ihrem Buch geleistet?

Georgi:Es ist tatsächlich so, dass mein Buch die erste qualitative Studie ist, mit langen Interviews mit Jugendlichen, die ihre Migrationsgeschichte behandelt. Es wird dargestellt, welche Geschichtsbilder bestehen, welche Fragen sie dazu haben, ob oder warum deutsche Geschichte für ihre Identitätsbildung von Bedeutung sein kann, z.B. wenn sie deutsche Staatsbürger sind, oder es werden wollen. Fragen, die nach wie vor von Aktualität sind, weil es keine vergleichbaren Studien gibt, sondern bislang nur Umfragen statistischer Art.

Interview: Petra Tabeling

© Qantara.de 2006

​​ Viola Georgi ist beratend tätig für die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft in Berlin. Sie ist Co-Autorin einer aktuellen Studie zum Thema "Historische und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft", die am 3. und 4. November 2005 im Rahmen einer Fachtagung in Berlin öffentlich diskutiert wurde. Die Studie wurde im Auftrag des Fonds "Erinnerung und Zukunft" initiiert und gibt Handlungsempfehlungen zur erfolgreichen Integration und Partizipation von jugendlichen Migranten.

Literatur:
Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburger Edition, 2003.

Qantara.de

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