"Eine Welle des Lichts im Ozean der Dunkelheit"

Am 30. August 2016 jährte sich der Todestag von Naguib Mahfuz zum zehnten Mal. Der ägyptische Schriftsteller, der weithin als Begründer des arabischen Romans gilt, erhielt 1988 den Literaturnobelpreis für seine "nuancenreichen Werke – bald klarsichtig realistisch, bald evokativ mehrdeutig". Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Nagib Mahfuz wollte nicht, dass seine frühen Essays aus alten Zeitschriften herausgefischt, abgestaubt und in einer Anthologie versammelt würden. Die Gründe liegen auf der Hand: Der ägyptische Nobelpreisträger publizierte die ersten Texte um 1930, noch als unfertiger 18jähriger Philosophiestudent. Unter diesem frühesten Essays finden sich das schwerfällige "The Demise of Old Beliefs and the Emergence of New Ones" (Der Niedergang alter und das Aufkommen neuer Überzeugungen) und das etwas ratlos wirkende "Women and Public Office" (Frauen und öffentliche Ämter).

Doch schließlich gab Mahfuz nach und genehmigte die Veröffentlichung seiner frühesten Schriften. Im Jahre 2003, als der Autor 92 Jahre alt war, erschien ein Sammelband auf Arabisch. Er wurde nun von Aran Byrne in ein taugliches Englisch übersetzt und von der neuen Gingko Library publiziert.

"Über Literatur und Philosophie"

Der Gigant der ägyptischen Literatur des 20. Jahrhundert war zu Recht skeptisch, was die Publikation seiner Jugendwerke betraf: Die Essays zeugen von einem unbändigen Hunger nach Wissen, aber sie lesen sich zumeist wie Seminararbeiten. Sie unterscheiden sich sehr von den späteren, persönlich gehaltenen Schriften, in denen die Träume, Leidenschaften und Erfahrungen des großen Literaten zum Ausdruck kommen. Abgesehen von letzten Essays in "On Literature and Philosophy" ist der Ton ein wenig pedantisch.

Und doch war, wie der Literaturwissenschaftler Rasheed El-Enany in seiner Einleitung schreibt, Mahfuz' Widerstand gegen die Veröffentlichung nicht ganz berechtigt. Die Essays sind als eigenständige Werke vielleicht nicht interessant genug und tragen nicht gerade zur literarischen Statur des Nobelpreisträgers bei. Aber sie runden das Gesamtwerk des großen Autors auf faszinierende Weise ab und werfen ein interessantes Schlaglicht auf die Interessen gebildeter Ägypter in den frühen 1930er Jahren.

Buchcover Naguib Mahfuz: "On Literature and Philosophy" im Verlag Gingko Library
"Die Essays sind als eigenständige Werke vielleicht nicht interessant genug und tragen nicht gerade zur literarischen Statur des Nobelpreisträgers bei. Aber sie runden das Gesamtwerk des großen Autors auf faszinierende Weise ab und werfen ein interessantes Schlaglicht auf die Interessen gebildeter Ägypter in den frühen 1930er Jahren", schreibt Qualey..

Die frühesten Texte sind vollkommen leidenschaftslos. Wie ein Dozent vor einem überfüllten Hörsaal an der Fuad I-Universität teilt Mahfuz dem Leser höchst akribisch mit, was er gelernt hat, hauptsächlich über westliche Philosophie. Selbst wenn er einmal Position bezieht, wie beispielsweise zugunsten des Sozialismus, tut er dies mit einer gewissen Verlegenheit.

Die Abhandlungen über Plato, Sex, Wahrnehmung, Bewusstsein und Tiere sind für sich genommen nicht publikationswürdig, aber sie zeigen Mahfuz als gewissenhaften Konstrukteur von Welten. Er errichtet das Universum der westlichen Philosophie, indem er einen Philosophen nach dem anderen abhandelt. Seine Details sind gelegentlich nicht korrekt, aber er breitet ein eindrucksvolles Panorama vor uns aus – wie er es später in seiner "Kairo-Trilogie" tun wird.

Mahfuz sagte einmal, er habe sich zwischen Literatur und Philosophie entscheiden müssen – und er wählte die Literatur. Das war definitiv eine Berufung, denn nichts deutet darauf hin, dass aus Mahfuz ein großer Philosoph geworden wäre. Doch die Fragestellungen und der rational-wissenschaftliche Ansatz der Philosophie haben seine Erzählweise zweifellos geprägt.

Den Westen im Blick

Ein weiterer interessanter Aspekt des Sammelbandes ist, dass arabische und muslimische Philosophen kaum erwähnt werden. Erst in dem 1943 entstandenen Essay "I Have Read (Part 2)" kommt Mahfuz beiläufig auf Abbas El-Akkads "A Compilation of Islam's Geniuses" zu sprechen. Und dann auch nur als Stütze für sein Argument hinsichtlich der Wahlfreiheit des Schriftstellers: "Dem Schriftsteller steht es frei, zu schreiben, was ihm gefällt, und dem Leser steht es frei, dies zu lesen oder auch nicht. Die Freiheit des Schriftstellers stellt, wie schon erwähnt, ihre eigenen Regeln auf.“

Zu diesem Zeitpunkt ist Mahfuz fast 32 und ein ganz anderer Schriftsteller als mit 18. Er hat deutlich mehr Energie und Selbstsicherheit aufzuweisen. Und sein Interesse hat sich auf Gestalten aus der arabischen und ägyptischen Kunst und Wissenschaft verlagert.

Viel später, wie in "Naguib Mahfouz at Sidi Gaber: Reflections of a Nobel Laureate, 1994-2001" deutlich wird, legt Mahfuz ein großes Interesse an der kulturellen Tradition der arabischen und islamischen Welt an den Tag. Doch als junger Mann war er ausschließlich auf westliche Denker fokussiert, von den Vorsokratikern bis hin zu Darwin, Spencer und Freud.

Enany erkennt dies in seiner Einleitung als einen nicht unbedeutenden blinden Fleck. Er vermutet, dass darin die Wurzeln von Mahfuz' Widerstand gegen die islamische Erweckungsbewegung der Muslimbruderschaft liegen. Doch interessanterweise enthält das letzte Essay "Concerning the Book: Artistic Imagery in the Qur'an" ein Lob für Sayyid Qutb, später einer der führenden Theoretiker der Bruderschaft. Mahfuz findet kaum kritische Worte für Qutb, sein Lob dagegen fällt fast so schwärmerisch aus wie das für die berühmte Sängerin Umm Kulthum.

Vielleicht weist das blinde Vertrauen, das der junge Mahfuz der westlichen Philosophie entgegenbringt, darauf hin, dass er Wissenschaft und "Fortschritt" für ein Allheilmittel hielt, ganz so wie der junge Kamal in seiner Kairo-Trilogie. Die frühen Essays könnte in der Tat Kamal 'Abd al-Jawad geschrieben haben. Der junge Mahfuz hielt wissenschaftliches Denken nicht nur im Bereich der Technologie und Philosophie für wichtig, sondern auch für die Literatur. Die Wissenschaft, schrieb er in einem Essay von 1936, "bietet der Literatur wertvolle Möglichkeiten, ihre Ausgestaltung und Ausdrucksweise zu verbessern".

Auf dem Weg zum Erwachsenwerden

Den frühen Essays aus den 1930er Jahren fehlt noch die Leidenschaft, die in den letzten Texten der Sammlung aufblitzt. Die Veränderung macht sich bemerkbar, als Mahfuz sein erstes Vierteljahrhundert hinter sich hat. Er referiert nicht länger Vorlesungen über westliche Philosophie, sondern schreibt über Umm Kulthum, Zakaria Ahmed, Abbas El-Akkad und Sayyid Qutb. Das ist der neue Mahfuz, der nicht nur wiederkäut, was er über den Westen gelernt hat, sondern seine eigenen Erzählräume zu definieren beginnt.

Das 1936 verfasste Essay "Art and Culture" markiert vielleicht den Wendepunkt. Hier befindet sich Mahfuz im Grenzbereich zwischen Wiedergabe und Eigenständigkeit. Und er gibt uns ein sokratisches Eingeständnis seiner eigenen Unwissenheit: "Was wir gelernt habe, ist lediglich eine Welle von Licht auf einem unendlichen Ozean der Dunkelheit."

Diese Haltung kam ihm als Erneuerer der arabischen Erzählkunst sehr zugute.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff