Die einen feiern, die anderen gehen

Es läuft genauso wie in der Endphase der Osmanen, Erdoğans großen Vorbildern. Während sich der türkische Präsident einen dritten Palast genehmigt, verlassen gut ausgebildete junge Leute das Land. Von Bülent Mumay

Von Bülent Mumay

In der Türkei war Ende der achtziger Jahre alles im Wandel, aber die Sendezeit für Western am Sonntagmorgen um 09:55 Uhr blieb stets dieselbe. Wir alle wuchsen mit Klassikern wie "Zwei glorreiche Halunken" oder "Für eine Handvoll Dollar" heran. Im Park spielten wir Duelle nach, wie wir sie in den Western gesehen hatten, und fingen unsere ausgerissenen Phantasiepferde mit Lassos wieder ein wie die Cowboys.

Diese Westernreihe der alten Türkei setzte sich im staatlichen Fernsehen auch in Erdoğans "neuer Türkei" fort – bis Präsident Trump anfing, auf Twitter gegen die Türkei zu wettern. Da trat die AKP-Regierung, die den wirtschaftlichen Niedergang dem "von den Vereinigten Staaten angezettelten Finanzkrieg" in die Schuhe zu schieben versucht, auf den Plan.

Der staatliche Sender TRT beschloss, aus Protest gegen die amerikanische Politik die Western aus dem Programm zu nehmen! Die Cowboys mussten also dafür bezahlen, dass die türkische Lira gegenüber dem Dollar abstürzte.

Dabei hatten weder Cowboys noch Trump etwas mit den Engpässen der türkischen Wirtschaft zu tun. Erdoğan versuchte lediglich wieder einmal, eine hausgemachte Krise auf einen äußeren Feind abzuwälzen. Die Autonomie der Finanzverwaltung war abgeschafft worden, die Staatskasse Erdoğans Schwiegersohn unterstellt, und die türkische Lira büßte aufgrund der Unsicherheit in der Wirtschaft an Wert ein. Doch darum ging es nicht allein.

Ökonomie im Abschwung

Die beiden tragenden Säulen der türkischen Wirtschaft, der Automobilsektor und die Baubranche, erlebten eine Flaute. Jüngst veröffentlichten Zahlen zufolge brach der Autoverkauf im Vergleich zum Vorjahresmonat im August um fünfzig Prozent ein. Wer nicht weiß, was der nächste Tag bringt, kauft kein neues Auto.

Ebenso machte die Baubranche, auf die sich die Regierung verlassen hatte, nicht mehr reich. Der Immobilienbestand in den Händen der Bauunternehmer blähte sich auf, so dass vor ein paar Wochen mit staatlicher Unterstützung eine Verkaufskampagne lanciert wurde.

Erdoğan während einer Rede im Juni 2018 am neuen Flughafen von Istanbul; Foto: picture-alliance/AA
Sucht nach Superlativen: "Das neueste Zeugnis von Erdoğans Osmanen-Verehrung ist der Bau des neuen Flughafens in Istanbul, der den Staat Milliarden Euro kostet. Vom Palast kam kein Dementi für die Berichte, denen zufolge der Flughafen, angelegt als der größte in Europa, den Namen Abdulhamid Han tragen soll. Abdulhamid II. war der Sultan des Niedergangs des Osmanischen Reichs", so Bülent Mumay.

Obwohl Plakate mit dem Slogan "Erwerbszeit für die Türkei" die Straßen pflasterten und entsprechende Anzeigen die Zeitungen überschwemmten, konnten lediglich ein paar tausend Immobilien an den Mann gebracht werden. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren 30.000 Wohnimmobilien abgesetzt worden.

Das Volk ist von wirtschaftlichen Sorgen geplagt, aber die Regierenden setzen ihren prunkvollen Lebensstil fort. Erdoğan rief die Leute zum Sparen auf, in seinem 1.150-Zimmer-Palast aber ließ er kürzlich den Gästen bei einem Cocktailempfang tropische Köstlichkeiten vorsetzen. "Cocktailempfang" sage ich, die Drinks waren aber selbstverständlich alkoholfrei. Zu Ingwer-Lachs-Sushi wurden Drachenfrucht-Smoothies und Aloe-Vera-Cocktails mit Sternfrucht gereicht. Vor ein paar Monaten hatte Erdoğan den Grundstein für seinen Sommerpalast gelegt; jetzt gab er bekannt, Anweisungen für einen dritten Palast erteilt zu haben.

Wie könnten wir ihnen verdenken, dass sie fortgehen?

All dieser Prunk, die Verschwendung zu Beginn einer Wirtschaftskrise sind in diesem Land nichts Neues. Es läuft genauso wie in der Endphase der Osmanen, Erdoğans großen Vorbildern. Empfänge, welche die Realität im Land ausblenden, erinnern an die osmanische Tulpenzeit zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts. Die Gesellschaft im Dunstkreis des Palastes setzte damals auch nach dem Verlust der europäischen Territorien ihr Luxusleben fort, als wäre nichts geschehen. Da ist es nicht verwunderlich, dass Erdoğan neue Paläste in Auftrag gibt. In den letzten Jahren des Osmanen-Reiches führte die Errichtung bombastischer Prachtbauten letztlich zum wirtschaftlichen Ruin des Staates.

Der Präsidentenpalast in Ankara; Foto: picture-alliance/abaca
Prunk, Protz und Großmannssucht: „Es läuft genauso wie in der Endphase der Osmanen, Erdoğans großen Vorbildern. Die Gesellschaft im Dunstkreis des Palastes setzte damals auch nach dem Verlust der europäischen Territorien ihr Luxusleben fort, als wäre nichts geschehen. Da ist es nicht verwunderlich, dass Erdoğan neue Paläste in Auftrag gibt. In den letzten Jahren des Osmanen-Reiches führte die Errichtung bombastischer Prachtbauten letztlich zum wirtschaftlichen Ruin des Staates", schreibt Bülent Mumay.

Im neunzehnten Jahrhundert in Istanbul errichtete Paläste wie die von Çiragan und Dolmabahçe sowie etliche Villen brachten den Osmanen das Ende. Die Sultane taten, als wäre nichts geschehen, und versuchten, dem Volk etwas vorzumachen, konnten aber nicht einmal mehr die Architekten bezahlen. Die wurden für ihre Dienste nicht mit Geld, sondern mit Land entlohnt.

Das neueste Zeugnis von Erdoğans Osmanen-Verehrung ist der Bau des neuen Flughafens in Istanbul, der den Staat wiederum Milliarden Euro kostet. Vom Palast kam kein Dementi für die Berichte, denen zufolge der Flughafen, angelegt als der größte in Europa, den Namen Abdulhamid Han tragen soll. Abdulhamid II. war der Sultan des Niedergangs des Osmanischen Reichs. Die Rede ist von eben jenem Sultan, der die größten territorialen und demographischen Verluste des Reiches zu verantworten hatte.

In den Untergang wie die Titanic

Während die Türkei in den Untergang schlittert wie die Titanic, auf der noch beim Sinken das Orchester weiterspielte, schauen sich jene, die die Gefahr erkennen, nach sicheren Häfen um. Kürzlich veröffentlichte das staatliche Statistikinstitut Zahlen, denen zufolge im vergangenen Jahr fast 254.000 Bürger die Türkei verließen.

Türkische Lira-Scheine; Foto: picture-alliance/dpa
Türkische Währung auf Talfahrt: Die Türkei befindet sich in einer schweren Währungskrise, seit Jahresbeginn verlor die Lira etwa 40 Prozent an Wert gegenüber dem Dollar. Laut Aussagen von Finanzminister Berat Albayrak rechnet man in diesem Jahr mit einer Inflation von über 20 Prozent und mit sinkenden Wachstumszahlen in den kommenden Jahren.

Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl derer, die ihre Zukunft im Ausland sehen, um 42 Prozent. Gut 42 Prozent der Auswanderer sind zwischen 20 und 34 Jahre alt. Es sind Hochschulabsolventen oder junge Berufstätige mit besten Aussichten, die der Türkei den Rücken kehrten.

Die Abwanderung fand vor allem aus Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Bursa statt, also aus den Städten mit dem höchsten Einkommens-, Bildungs- und Industrialisierungsniveau. Dass sie gehen, wundert niemanden. Ein Bild der Wirtschaft habe ich oben skizziert. Und wie es um die Demokratie im Land steht, wissen Sie ohnehin.

Die Situation der Rechtsprechung fasste indes Kanzlerin Merkel kürzlich in einem einzigen Satz hervorragend zusammen. Sie bekannte, dass in der Türkei nicht die Justiz ihre Urteile fällt, sondern die Politik. Denn nach der Freilassung einiger deutscher Staatsbürger in der Türkei habe, so resümierte sie, das beharrliche Sprechen dazu geführt, dass einige jetzt frei seien. Das wussten wir ja bereits.

Unser Kollege Deniz Yücel hatte in dem Video, das er nach seiner Freilassung in den sozialen Medien verbreitete, gesagt: "So wie meine Verhaftung nichts mit Recht und Gesetz und Rechtsstaatlichkeit zu tun hatte, hat auch meine Freilassung nichts mit alledem zu tun."

Wie können wir angesichts dieser Szenarien jenen böse sein, die fortgehen? Wie könnten wir sie hier halten, wo es keinen wirtschaftlichen Wohlstand, keine Demokratie, keine Gerechtigkeit gibt?

Wir, die wir zurückbleiben, trösten uns mit einer Zeile aus Yılmaz Erdoğans Gedicht "Die Melancholie des Busbahnhofs": "Nicht jenen, die fortgehen, gehört der Herbst, sondern jenen, die dableiben."

Bülent Mumay

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2018

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe