Das bittere Erbe der ehemaligen Sklaven

Im südöstlich gelegenen tunesischen Gouvernement Medenine erschloss die Musik den sozial marginalisierten Schwarzen nach ihrer Freilassung aus der Sklaverei den Weg zu etwas mehr Selbstbestimmung. Doch damit gibt sich die jüngere Generation heute nicht mehr zufrieden. Von Marta Scaglioni

Von Marta Scaglioni

Nach einer Reihe von Aufständen und dem Sturz seiner Regierung floh Tunesiens ehemaliger Präsident Zine el-Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien.  Nach dem Führungswechsel lockerte sich die Zensur. In den Medien und in der akademischen Welt waren jetzt Debatten über bisher tabuisierte Themen möglich – auch über den Rassismus gegen schwarze Tunesier.

Vor 2011 sprach man in Tunesien nicht über ethnische oder religiöse Unterschiede. Dabei setzte Habib Bourguiba bereits nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1956 auf eine Politik der Nationenbildung (1957-1987) und betonte die gemeinsame Geschichte sowie die religiöse, ethnische und politische Homogenität aller Tunesier. Dennoch prägten Rassismus und soziale Segregation weiter den tunesischen Alltag. Viele Tunesier verwenden heute noch die Worte wassif (Diener) oder abid (Sklave), wenn es um Schwarze geht.

Zwar gibt es keine offiziellen Statistiken über den Anteil der Schwarzen in der tunesischen Bevölkerung, doch die Verbände zur Gleichstellung der Schwarzen gehen von mehr als 15 Prozent aus. Auch fehlen genaue Daten über Beschäftigungsprofile schwarzer Tunesier. Ein Großteil dürfte aber den untersten sozialen Schichten angehören. Mischehen zwischen schwarzen und weißen Tunesiern sind nach wie vor verpönt. Noch heute bezeichnen Schwarze in ländlichen Gebieten ihre ehemaligen weißen Herrschaften als sidi und lella (Herr und Herrin). So wirkt die Vergangenheit der Sklaverei bis in die Gegenwart nach und hält das sozioökonomische Gefälle zwischen Schwarz und Weiß aufrecht.

Das '"Ende" der Sklaverei in Tunesien

Obgleich nicht alle schwarzen Tunesier von Sklaven abstammen, kann man die Geschichte der schwarzen Tunesier nur verstehen, wenn man etwas über die Sklaverei und den transsaharischen Sklavenhandel weiß. Die Verschleppung von Sklaven aus dem Sudan, dem 'Land der Schwarzen', in das heutige Tunesien erreichte ihren Höhepunkt zur Zeit des Osmanischen Reichs. Sie mussten meist als Landarbeiter oder Diener arbeiten.

Der Bey von Tunis, Ahmad I. al-Husain (1837-1855), Foto: Wikipedia
Der Bey von Tunis, Ahmad I. al-Husain (1837-1855), schaffte als erster muslimischer Herrscher die Sklaverei und den Sklavenhandel ab. Dabei dürfte auch der Druck der europäischen Großmächte eine Rolle gespielt haben.

Der Bey von Tunis, Ahmad I. al-Husain (1837-1855), schaffte als erster muslimischer Herrscher die Sklaverei und den Sklavenhandel ab. Dabei dürfte auch der Druck der europäischen Großmächte eine Rolle gespielt haben.

Die weitere Entwicklung nahm im Norden des Landes einen deutlich anderen Verlauf als im Süden.

Im nördlich gelegenen städtischen Tunis versuchten viele der freigelassenen Sklaven, durch Landstreicherei, Prostitution und Hausieren zu überleben. Denn die meisten bürgerlichen Familien lehnten es ab, Sklaven weiter als Diener zu beschäftigen. So gesehen war die Befreiung für die Sklaven rein juristischer Natur und brachte ihnen in sozioökonomischer Hinsicht kaum Vorteile.

Im ländlichen Süden hingegen blieben freigelassene Sklaven oft in den Haushalten ihrer ehemaligen Herren als ousfane – Hausangestellte. Infolgedessen verwandelte sich die Sklaverei im Süden langsam in eine andere islamische Institution, die wala’ - eine Patronatsbeziehung, in der freigelassene Sklaven den Namen ihrer früheren Herren annahmen und zur Unterscheidung oft das Suffix abid oder shwuashin (der politisch korrektere Begriff für befreite Sklaven) anhängten.

Die Bedeutung von Tayfa

Trotz der genannten Unterschiede gab es eine Entwicklung, die den Norden mit dem Süden verband – die Musik. Landesweit strebten freigelassene Sklaven eine Laufbahn als Musiker an, da dieser Beruf allen Schwarzen offen stand. Die Vielzahl der Zeremonien und Festivitäten schafft eine große Nachfrage. Wegen des geringen sozialen Ansehens der Musiker mussten die Schwarzen zudem kaum mit Weißen konkurrieren.

Schwarze Sänger und Gruppen spielten oft bei Hochzeiten oder Wallfahrten. Im Gouvernement Medenine war beispielsweise die musikalische Begleitung durch Tayfa-Gruppen für Hochzeiten, Beerdigungen und andere Zusammenkünfte sehr gefragt – auch von weißen Familien. Tayfa-Musiker improvisieren Lieder, die die Braut und den Bräutigam preisen, und erzählen Geschichten, die im gesellschaftlichen und kulturellen Leben verankert sind.

Vor allem ältere schwarze Tunesier identifizieren sich mit diesem musikalischen Erbe. "Der Süden ist voller Poesie", erklärt der 80-jährige Ali stolz. "Die Menschen hier sind wahre Dichter." In seinem Dorf El Gosbah sind die Tayfa-Gruppen immer noch stark vertreten. Insgesamt jedoch droht die eigentliche Kunst zu verblassen. Traditionell geben Väter ihre Kenntnisse an die Söhne weiter. Sie bringen ihnen bei, wie man trommelt, singt, Gedichte schreibt und improvisiert.

Ältere Tayfa-Musiker beziehen ihr Selbstwertgefühl nach wie vor aus ihrem musikalischen Können. "Wir sangen bisweilen in Monastir für Präsident Habib Bourguiba anlässlich seines Geburtstags", erinnert sich Dhaw, ein älterer Herr in den Achtzigern. "Die Lieder handelten davon, wie er Tunesien in die Unabhängigkeit führte und wie fleißig, bescheiden und mutig er war." Auftritte für den Präsidenten galten als großes Privileg, nicht zuletzt deswegen, weil er in ihren Erinnerungen eine hohe Wertschätzung erfuhr.

Tunesiens Präsident Habib Bourguiba; Foto: dpa
Tayfa-Klänge zu Ehren des Präsidenten: „Wir sangen bisweilen in Monastir für Habib Bourguiba anlässlich seines Geburtstags“, erinnert sich Dhaw, ein älterer Herr in den Achtzigern. „Die Lieder handelten davon, wie er Tunesien in die Unabhängigkeit führte und wie fleißig, bescheiden und mutig er war.“ Auftritte für den Präsidenten galten als großes Privileg, nicht zuletzt deswegen, weil er in ihren Erinnerungen eine hohe Wertschätzung erfuhr.

Hinzu kam die Überzeugung, von Gott mit der Aufgabe betraut worden zu sein, an vergangene Ereignisse zu erinnern und sie zu erzählen. Und schließlich konnte man mit Tayfa seine Familie ernähren. "Ich konnte dank Tayfa alle meine sechs Jungen zur Schule und später zur Universität schicken", berichtet ein Mann stolz. Die Tayfa -Musiker erwarben sich die Achtung ihrer schwarzen Gemeinde und spendeten Geld für soziale Zwecke.

Generationsunterschiede

Die jüngere Generation hat eine andere Wahrnehmung von Tayfa. Die Musik als gemeinsames Identitätsmerkmal der weiterhin nach Klasse und Region segregierten Schwarzen ist für die jüngere Generation ein Teil der Struktur, die die Ungleichheit fortschreibt und die paternalistische Beziehung zwischen Weiß und Schwarz untermauert.

Der 29-jähige Yassin will beispielsweise nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten. Er will kein Tayfa-Sänger werden. "Die Weißen 'kümmern' sich nur deshalb um Tayfa, weil sie uns immer noch als Sklaven wahrnehmen", meint er. "Sie wollen von uns gepriesen werden..." So klingt aus den Liedern bisweilen die Botschaft: 'Schau, wie glücklich du bist, einen weißen Mann zu heiraten'. Yassin lehnt diese Unterwerfung als entwürdigend ab. Kein Wunder, dass ein Tayfa-Musiker beklagt: "Jüngere Generationen wollen einfach nicht mehr Tayfa singen".

Einst nutzten Tayfa-Künstler und andere schwarze Musiker eine Nische, die zwar sozial wenig anerkannt war, ihnen aber ein Auskommen ermöglichte. Die damit erwirtschafteten Erträge kamen ihren Familien zugute. Daraus wiederum leiteten sich Emanzipationsstrategien ab, die den jüngeren Generationen neue Chancen eröffnen.

Doch diese wollen einen anderen Weg gehen. Auf der Tradition ihrer Vorfahren lastet in ihren Augen der Schatten der Sklaverei. Sie sehen darin eine fortgeschriebene Entmündigung und Marginalisierung der schwarzen Tunesier. Sie wollen etwas Besseres.

Marta Scaglioni

© Open Democracy 2018

Marta Scaglioni ist Doktorandin an der Universität Bayreuth und der Universität Mailand-Bicocca, Italien.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers