Innenansichten einer geschlossen Gesellschaft

Türkeistämmige Männer brechen das Schweigen und reden in Selbsthilfegruppen oder auf Theaterbühnen von ihren Problemen und wie sie sie überwinden können. Auch in der türkischen Literatur sind diese „Süpermänner“ angekommen. Von Astrid Kaminski

Von Astrid Kaminski

Wir vergeben Männern schon ziemlich viel, allerdings unter einer Voraussetzung: Sie müssen ihre Schwäche zeigen, ihre Achillesferse, ihre Siegfriedstelle, zumindest ein klein bisschen vor uns kollabieren. Männer mit mehr oder weniger geschlechter-egalitärer Erziehung haben das inzwischen im Repertoire beziehungsweise können gar nicht anders. Solche, die in wertekonservativen patriarchalen Verhältnissen aufgewachsen sind, tun sich unter Umständen schwerer.

Dazu gehören die unerfahrenen und ahnungslosen Kerle aus dem Erzählungsband „junge verlierer“ des jungen, türkischsprachigen Starautors Emrah Serbes. Sie ziehen ihren Machismo unbelehrbar durch. Aber ihr Autor weiß genau, wo sie verletzlich sind. Er lässt sie vom Sandeimer an mit ihrem Erziehungsballast gegen die Wand gehen, auch wenn klar ist – nur ihnen nicht –, was schief läuft.

Was LeserInnen mitfühlen und mitschimpfen lässt, ist für die Protagonisten und ihre Umgebung existentiell. Umso mehr, wenn an den patriarchalen Wertekanon oft auch andere Überlegenheitsvorstellungen wie die von Nationalismus und pseudoreligiösen Vorstellungen verbunden sind.

Türkische Männer sind nicht die einzigen, nicht die ersten, und wahrscheinlich auch nicht die letzten, die solche Probleme haben. Aber sie sehen ihnen zunehmend ins Auge, und sie tun das auch noch so, dass man ihnen gern dabei zuschaut.

Gescheiterte Machos

Kazim Erdogan übernimmt Urkunde von Bundespräsident Gauck; Foto: dpa
2007 hat der Psychologe Kazim Erdogan die erste türkische Vätergruppe im Problembezirk Berlin-Neukölln gegründet. Für seine Arbeit erhielt er das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Gauck.

Schon in der großartigen Kurzprosa von Sait Faik oder Metin Eloğlu aus der Mitte des 20. Jahrhunderts vagabundieren gescheiterte Machos so rettungslos wie unterhaltsam durch ihr geliebtes Istanbul. Wenn schon stranden, dann erstens besoffen und zweitens poetisch. Darauf, in eine Selbsthilfegruppe zu gehen, wären sie nie gekommen.

Ebendies tun türkeistämmige Männer heute. Sie wollen über ihren Ehrbegriff, die damit oft einhergehende Doppelmoral, religiöse Vorstellungen, Gewalt und Versagensängste sprechen. Über den Selbstmordversuch des Bruders im Alter von acht Jahren.

Da gibt es Menschen, die kurz davor sind, ihrer Frau etwas anzutun, und versuchen eine Lösung zu finden, andere, die von den Familien ihrer Frauen abgelehnt wurden, weil sie ihr Rollenbild nicht mehr erfüllen wollten oder konnten. Solche, die extreme Gewalterfahrungen durch ihre Väter erlitten – Gürtel, Stöcke und Schlimmeres – solche, deren Kinder entführt wurden. Viele stehen im inneren Zwiekampf mit ihrem Verstand, einer persönlichen Ethik und den erlernten Mustern.

Das eigene Leben reparieren

2007 hat der Psychologe Kazim Erdogan die erste türkische Vätergruppe im Problembezirk Berlin-Neukölln gegründet. Inzwischen sind es sechs. Gäbe es mehr finanzielle Förderung, wären es noch mehr, die Nachfrage ist da.

Auch in anderen Städten wie Hamburg, Nürnberg und München entstehen Initiativen. Oder in der Nähe von Izmir, in der Türkei. Auch eine internationale Gruppe gibt es in Berlin inzwischen. Das positive Medienecho, meint Erdogan, habe mitgeholfen, den Männern Mut zu machen. Der so unermüdlich wie unerschütterlich optimistisch wirkende Mann, dem Joachim Gauck 2012 das Bundesverdienstkreuz verlieh, sprach bislang auf 200 Veranstaltungen zum Thema.

Die Münchner Autorin und Journalistin Isabella Kroth war die erste, die sich umfassend für die Initiative interessierte und für ihr Buch „Halbmondwahrheiten“ 12 einfühlsame Portraits verfasste. Sie stieß auf Männer, die ihre Geschichten erzählen und reflektieren.

Auch diese Öffnungen nach außen gehören in den Gruppen von Kazim Erdogan zum Prinzip. Die Teilnehmer sprechen nicht nur unter sich, sondern auch auf Elternabenden, sie helfen bei Umzügen oder kümmern sich um Schulgärten. Sie wollen reparieren, ihr Image, ihr eigenes Leben und das der anderen.

Das Gefängnis als Befreiung

Symbolbild Spielsucht unter türkischen Männern; Foto: dpa
"Türkische Männer sind nicht die einzigen, nicht die ersten, und wahrscheinlich auch nicht die letzten, die solche Probleme haben. Aber sie sehen ihnen zunehmend ins Auge, und sie tun das auch noch so, dass man ihnen gern dabei zuschaut", sagt Astrid Kaminski.

Inzwischen sind die Geschichten der türkeistämmigen Männer auf der Theaterbühne und im Film angekommen. Die durch den Jugendmilieufilm „Prinzessinnenbad“ bekannt gewordene Regisseurin Bettina Blümner hat auf Grundlage des Buchs den Dokumentarfilm „Halbmondwahrheiten“ gedreht.

Im Berliner Ballhaus Naunynstraße – dem durch die ehemalige Intendantin Shermin Langhoff gegründeten Theater für postmigrantische Perspektiven – stehen „Süpermänner“ auf der Bühne. Fünf Selbst-Darsteller, die aus ihrem Leben erzählen. Einer von ihnen lebt, wenn er nicht auf der Bühne steht, derzeit hinter Gittern. So dramatisch die Geschichten sind, so viel Stoff geben sie her.

Derjenige, der eine Haftstrafe absitzt, hatte eine kranke Frau und Zwillinge zu Hause, Mietschulden, das Geld reichte nicht. Also kam ihm zuletzt die Idee, mit Raubüberfällen seine Lage aufzubessern. Seine deutsche Frau war einverstanden: „Aber mach’s maskiert“, riet sie ihm. Er hörte nicht auf sie. Mit Heißluftpistole zog er los.

Dem ersten Opfer gab er die Bankkarte nach Sichtung des Kontostandes zurück. Gerade genug, um die Miete zu bezahlen, dachte er sich, wie soll die Frau da leben? Beim dritten Versuch wurde er geschnappt. Zehn Jahre Haft. Die beste Zeit seines Lebens, meint er. Zeit für sich, zum Lernen, Abitur machen (Schnitt 1,59), Neuanfangen.

Es scheint, als hätten die Männer von Natur aus ein Schelmenromantalent. Offenbar taucht dieses Genre in der türkischsprachigen Literatur nicht umsonst so häufig auf. Zuletzt bei Emrah Serbes. Von soviel Drive, Sprachwitz und soziologischer Zuspitzung wie in „junge verlierer“ kann man nicht genug bekommen, auch wenn es weh tut. Und dann ist da auch dieses Gespür für die klein-großen Momente des Zusichkommens. Wenn sich Vater und Sohn ihre Unwichtigkeit eingestehen, indem sie feststellen, dass noch nicht einmal der Bewegungsmelder sich für sie interessiert.

Die Literarizität solcher Leben kann und soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, wie hart sie für alle Beteiligten in Wirklichkeit sind. Wer Fakten sucht, sei an die vielbeachtete Studie „Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt“ der Autorin Pinar Selek erinnert. Sowohl der Inhalt als auch die auf die Publikation folgenden Angriffe gegen die Autorin stehen für das, was noch bewältigt werden muss.

Astrid Kaminski

© Qantara.de 2014

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

 

Emrah Serbes: „junge verlierer. Erzählungen“. Aus dem Türkischen von Oliver Kontny. binooki Verlag Berlin 2014. 167 S., geb. 16, 90 €

Pinar Selek: „Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten“. Orlanda Verlag Berlin 2010. 237 S.

Isabella Kroth: „Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland. Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft“. Diederichs Verlag München 2010. 220 S.