Dialog der tauben Ohren überwinden

Die arabische Welt ist voller Gegensätze zwischen den breiten Massen und Machteliten, Stadt und Land, arm und reich. Solange diese Widersprüche bestehen, wird die Entwicklungsblockade weiter anhalten, die die arabische Welt von innen heraus zu zerstören droht, meint der libanesische Autor Karam al-Helou in seinem Essay.

​​Die letzten 40 Jahre seit der epochalen Niederlage der Araber im Sechstage-Krieg von 1967 haben es gezeigt: Zwischen den Eliten und der breiten Masse in der arabischen Welt klafft ein gewaltiger Bruch - bis hin zu einer völligen gegenseitigen Ablehnung und Abspaltung.

Die jüngsten Kriege - 2006 im Libanon und Anfang dieses Jahres in Gaza - haben diesen Bruch mit seinen Kommunikationsdefiziten und der fast vollständigen Loslösung beider Seiten voneinander nur einmal mehr belegt.

Während die Massen von ihren Eliten wie von selbst eine grundsätzliche politische Positionierung gegen diese Kriege erwarteten, hatten die Eliten ihrerseits eine derartige Option überhaupt nicht einkalkuliert; sie taten die beiden Kriege als chaotisches Draufgängertum ab.

Dabei ließen sich noch einmal die Gegensätze und Feindseligkeiten zwischen den Eliten der arabischen Welt, die alle wichtigen Posten in Politik, Wirtschaft und Kultur besetzt halten, und den breiten Massen beobachten.

Autoritärer Staat und Bevormundung durch die Eliten

Die Beziehung zwischen Elite und Volk offenbart sich im autoritären Staat - das in der arabischen Welt am weitesten verbreitete politische System, das die Menschen als stetigen Unruhefaktor und Quelle der Bedrohung für seinen Machterhalt sieht.

So umgibt er sich mit Geheimdiensten, Sondereinsatzkommandos und sonstigen Spezialeinheiten und spioniert eifrig jeglichen Regungen hinterher, die sich vielleicht noch seiner Kontrolle entziehen und daher aus dem Ruder laufen könnten.

Demonstration in Ägypten gegen das Regime; Foto: AP
Demonstration in Ägypten: "Aus Sicht der arabischen Parteien stellen die Massen eine riesige Herde von Blinden dar, die sich nach gusto in die eine oder andere Richtung leiten lässt", so al-Helou.

​​Es gilt, jede Meinung im Keim zu ersticken, die die "Errungenschaften" und "großartigen Ruhmestaten" des autoritären Staates nicht lobt oder ihnen gar widerspricht. Jedes Erstarken der Zivilgesellschaft wird dabei zur Gefahr für die tyrannische Allmacht des Regimes.

Den politischen Eliten gilt die breite Masse als beschränkt, pöbelhaft und bedarf daher einer ständigen Bevormundung: Das Volk hat die Pläne und Vorhaben der Eliten daher ohne Murren hinzunehmen. Dazu gehört auch, in den Krieg zu ziehen, wenn es den Eliten passt, selbst wenn dieser Krieg reiner Wahnsinn ist. Auch Kriegsfolgen sind klaglos und ehrfürchtig hinzunehmen.

Dies wird zur quasi-heiligen Pflicht zum Wohle der arabischen Nation erhoben, selbst wenn die Folgen in Wirklichkeit verheerend sind. Ebenso muss die breite Masse einen Frieden ohne Murren und Klagen akzeptieren, so er denn den Eliten genehm ist, selbst wenn sie damit eine Abkehr von all ihren nationalistisch-panarabischen Schlagwörtern vollziehen.

Schicksalsergebenheit der Massen

Im Gegenzug betrachten die Massen die Macht der Eliten als ein auswegloses Schicksal, mit dem sie zähneknirschend zurechtkommen müssen.

Selbst das Verhältnis zwischen den politischen Parteien und den Massen macht hier keine Ausnahme. Parteien sind üblicherweise nämlich nicht Ausdruck des Volkswillens, sondern ähneln eher unzugänglichen Trutzburgen oder kleinen Nestern von Unbeugsamen am Rande der Gesellschaft, in denen man sich vor den realen Sorgen, Ängsten und Hoffnungen der Menschen verschanzt.

Keine der beiden Seiten hört der anderen zu: Ein Dialog der tauben Ohren. Die Fragilität der politischen Parteien lässt sich leicht feststellen. In den meisten arabischen Ländern hält sich ihre propagierte Breitenwirkung sehr in Grenzen und sie erweisen sich als unfähig, wirklich ins Bewusstsein der breiten Masse vorzudringen.

Symbolbild Armut; Foto: AP
Die Schere zwischen arm und reich driftet in der arabischen Welt immer weiter auseinander. Die reichen Eliten interessieren sich nicht für die Belange des Volkes.

​​In Ägypten beispielsweise gehören nur ganze zwei Prozent der Bevölkerung einer Partei an! Die Parteien selbst dagegen haben sich immer als Kopf und Herz der Gesellschaft verkauft, als deren geistige und nationalistische Avantgarde.

Aus Sicht der arabischen Parteien stellen die Massen eine riesige Herde von Blinden dar, die sich nach gusto in die eine oder andere Richtung leiten lässt. So verkamen die Parteien zu ungeliebten Marktschreiern von Ideologien. Die erwähnte beunruhigende Kluft mit einer fatalen Entfremdung von den Menschen tat sich auf.

Und da es neben diesem Graben sogar noch einen anderen Graben gibt, nämlich den innerhalb der Parteien selbst, zwischen deren Spitzen und der Basis, lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass eine Besorgnis erregende Kluft zwischen den Parteieliten und deren Basis liegt.

In der Welt der Reichen

Vielleicht ist es jedoch die Kluft zwischen der Welt der Reichen und der armen, breiten Masse, die besonders beunruhigend hervorsticht. Diese Schere nämlich driftet seit Mitte des letzten Jahrhunderts mit dem schrittweisen Dahinschwinden der Mittelschicht immer weiter auseinander.

Die Reichen verfolgen argwöhnisch und besorgt die Massenbewegungen mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, interessieren sich aber kaum wirklich für das Heer der 100 Millionen Analphabeten und Armen und 14 Millionen Arbeitslosen in der arabischen Welt.

Die Massen ihrerseits üben sich in stummem Groll, während sie insgeheim auf den Moment warten, in dem sich im Zusammenstoß mit der reichen Elite alles entlädt.

Hungeraufstand in Kairo; Foto: dpa
Extreme Widersprüche in der arabischen Welt: Hungeraufstand in Kairo, während die Reichen im Luxus schwelgen.

​​Während sie ihrer Armut und ihrem Elend überlassen bleiben, schwelgen die Wohlhabenden im Luxus, häufen auf ausländischen Bankkonten gewaltige Reichtümer an und denken nicht im Traum daran, diese zur Entwicklung ihrer jeweiligen Gesellschaften einzusetzen oder den Elenden und Bedürftigen zu helfen, die sich, geplagt von Hunger, Analphabetentum und Arbeitslosigkeit, nur mit Mühe über Wasser halten.

Diese Kluft lässt sich in gleichem Ausmaß auch im Verhältnis der intellektuellen Elite zur breiten Masse beobachten. Die Intellektuellen empfinden sich selbst als überlegen, die breite Masse dagegen als minderwertig und beschränkt, so dass sie es als ihre prophetische Mission betrachten, die Massen zu bevormunden.

Letztlich hat sich allerdings die Kluft zu den Massen noch so weit vertieft, dass die Intellektuellen immer neue, pragmatische Reformen diskutieren, die Massen aber genau die Gegenrichtung einschlagen und sich in irrational-abergläubischen Illusionen verrennen.

Und schließlich spielt noch eine weitere Elite eine Rolle in der arabischen Welt: Die Führer der unterschiedlichen religiösen und tribalen Gruppen, die sich gegen jede Erneuerung und Entwicklung stemmen.

Diese Kluft lässt sich nur vor dem Hintergrund der Tatsache verstehen, dass die arabische Welt von extremen Gegensätze geprägt ist: von Herrschern und Beherrschten, Stadt und Land, Arm und Reich, der breiten Masse und den Intellektuellen, Modernismus und Traditionalismus. Wenn diese Widersprüche nicht aufgehoben oder zumindest abgemildert werden, droht die arabische Welt, sich von innen heraus zu zerstören.

Karam al-Helou

© Qantara 2009

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas

Der libanesische Autor und Publizist Karam el-Helou schreibt für überregionale arabische Zeitungen wie Al-Hayat und An-Nahar.

Qantara.de

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