Die Heilige des nahenden Irrsinns

Elif Shafak zählt zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der Türkei. Dieses Jahr erschien ihr Roman "Die Heilige des nahenden Irrsinns" auf Deutsch, das erste Buch, das die in den USA lehrende Dozentin für Interkulturelle Studien auf Englisch verfasste.

Die preisgekrönte Autorin Elif Shafak zählt zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der Türkei. Dieses Jahr erschien ihr Roman "Die Heilige des nahenden Irrsinns", das erste Buch, das die in den USA lehrende Dozentin für Interkulturelle Studien auf Englisch verfasste.

Elif Shafak
Nimmt eine kritische, interdisziplinäre Relektüre der Literatur des Nahen Ostens vor: Elif Shafak

​​Zwei ungleiche Freunde, Fremde noch in den USA, leisten sich Gesellschaft in ihrem gegenseitigen nächtlichen Monologisieren. Denn das ist das Beste daran, wenn zwei eine Fremdsprache teilen: Sie verstehen sich im Zweifelsfall auch ohne Worte.

Als sie im Morgengrauen gemeinsam aus der Kneipe kommen, gleichen sie "Ertrinkenden, die an die Wasseroberfläche zu gelangen suchen". Ömer und Abed, Studenten aus der Türkei und aus Marokko, vom äusseren Augenschein her mag man sie für "Schläfer" halten, was geht eigentlich in ihnen vor?

Nicht verwurzelt

Ömer ist betrunken. Er ist der einzig Trunkene in einer nüchternen Welt. In seiner Raserei surft er auf der gnadenlosen Vergänglichkeit der Zeit. Ömer ist Agnostiker, ihm ist nichts heilig, ausser natürlich Kaffee, Postpunk und Frauen. Was bleibt ihm auch übrig? Wo es keine Fixsterne mehr gibt in der Welt, musser wenigstens seine Ideen zu fixen machen.

Der andere, Abed, ist ewig nüchtern. Der einzig Nüchterne in einer rasenden Welt. Er findet, dass Alkohol stinkt. Aber auch wenn er Ömer für einen "Verlorenen" hält, er will ihn nicht bekehren. Statt dessen begleitet er ihn in die Halb- und Unterwelt des amerikanischen Nachtlebens, um dafür zu sorgen, dass der Freund - der nicht weiss, was er tut - keinen Schaden nimmt an Leib und Seele.

Wenn man die Gespräche von der Sucht und der Sehnsucht eines notorisch Herumirrenden und eines ewigen Heimkehrers liest, dann begreift man bald: Die Autorin versteht etwas von der mystischen Erzähl-Logik der Coincidentia Oppositorum.

Elif Shafak, 1971 in Strassburg geboren, verlebte als Tochter einer türkischen Diplomatin ihre Jugendzeit zwischen Madrid, Amman und Köln, kehrte in die Türkei zurück, verliess sie wieder und wanderte in die USA aus.

Mehrfach preisgekrönt

In ihrem ersten Roman, "Der Sufi", den sie im Alter von 27 Jahren veröffentlichte, erzählte sie die Geschichte eines hermaphroditischen Mystikers in einer Sufibruderschaft und gewann damit den Preis der türkischen Mewlana-Gesellschaft für das beste Werk transzendentaler Literatur.

Ihr zweiter Roman, "Spiegel der Stadt", der auch ins Deutsche übersetzt ist, handelt vom Leben der Juden, die vor der spanischen Inquisition in die Konversion flüchten und ins Osmanische Reich des 17. Jahrhunderts.

Elif Shafak nahm in der Türkei alle namhaften Literaturpreise entgegen, noch ehe sie ihr dreissigstes Lebensjahr vollendet hatte. In kürzester Zeit wurde sie so neben Orhan Pamuk zur wichtigsten Repräsentantin einer jungen türkischen Literaturszene.

Im deutschen Sprachraum ist Elif Shafak bisher nahezu unentdeckt. Mit "Die Heilige des nahenden Irrsinns" - nun auch ins Deutsche übersetzt - verfasste sie ihren ersten Roman in englischer Sprache.

Haus der Sprache

Und in der "Weltsprache" müssen sich auch ihre Figuren aus aller Herren Länder nun bewegen. Die Sprache ist ihnen eine Form, ein Haus, in dem sie alle wohnen können: Ömer, Abed und der Spanier Piyu, der Dritte im Bunde, der als frommer Katholik seine vagen Schuldgefühle mit einem Putzzwang abzureagieren sucht. Sie alle sind, wie in Kafkas Amerika-Fragment, Zauberlehrlinge, die zu lernen suchen von den eingesessenen Zeremonienmeistern, die diese Wirklichkeit einrichten.

Nach ihrem Tapetenwechsel tappen sie eine Zeit lang herum in einer Welt der in Frage gestellten Muster und suchen leidenschaftlich und komisch nach einer Verarbeitungsstruktur für die Signale dieser Welt.

Sie werden von Frauen bei der Hand genommen, die sich durch ihre psychosomatischen Idiosynkrasien als echte Amerikanerinnen ausweisen: Da ist Piyus Freundin Alegre, eine Latina aus dem Geschlecht stolzer Frauen, die für ihr Leben gern kocht, aber das Essen verweigert; und da ist Gail, deren früheste Kindheitserinnerung die an ihren ersten Selbstmordversuch ist, der es Erleichterung verschafft, den eigenen Namen wegzuwerfen "wie ein zerbrochenes Spielzeug", und die dabei eine Metamorphose durchmacht vom devoten College-Girl zur wetterleuchtenden "assyrisch-babylonischen Göttin".

Ausgerechnet diese junge Frau, die Slavoj Zizek liest, mit ihren überspannten Selbstbildern und ihrem neurotischen Körper zum Therapeuten läuft und sich in ihrer Haut allemal fremder fühlt als die Greenhorns aus dem Nahen Osten in Amerika - sie ist es, die Ömer sich zur Frau erwählt. Gail, getrieben von Unwirklichkeitsgefühlen und paralysiert von dem Wunsch, "das eigene Gefieder zu zerstören", ist die eigentliche "Heilige des nahenden Irrsinns".

Thema Interkulturalität

Das ist das exzentrische Personal des Global Village, das Elif Shafak unter einem Dach zusammenkommen und disputieren lässt über Schicksalsbegriffe und Fastenzeiten im interkulturellen Vergleich, über die Pforten der Wahrnehmung von Sufis und Junkies und darüber, ob der Mensch Gott braucht oder Gott den Menschen.

Shafak, die heute einen Lehrstuhl für interkulturelle Studien und Gender in Arizona innehat, wo sie eine kritische, interdisziplinäre Relektüre der Literatur des Nahen Ostens vornimmt, spielt sehr bewusst mit den kulturellen Versatzstücken der Hybridität und zugleich mit den Lesererwartungen, die sich aus unseren kulturellen und sprachlichen Programmierungen ergeben.

Dieser Intention ist es wohl geschuldet, wenn die Figuren in manchen Szenen einen Schritt hinter der Lebendigkeit zurückbleiben, zu der sie drängen.

Exil als metaphysisches Problem

Aber es geht Shafak um mehr als bloss um eine globale Sozialanamnese der Einwanderungsgesellschaft. Vielmehr strahlt durch diese Ikonenwand alltäglicher Heiliger die Erkenntnis, dass letztlich das "Exil" ein metaphysisches Problem ist. Diese gefallenen Engel, sie alle sind dort hineingeraten, in dieses Waste-Land von Lebensgier und Todesangst, Mutwillen, Selbsthass und Scham. Ihre Sehnsucht drückt sich durch unzählige Süchte aus, die das Sehnen unmöglich stillen können.

Es ist also durchaus ein Verlangen da in allem Überdruss, eine Richtung in der Leere, eine Trauer in der Komik. Elif Shafak hat sich selbst einmal eine agnostische Mystikerin genannt. Wenn ihre Figuren Kaffee trinken oder Schokolade essen, immer geht es ihr letztlich um die Psychologie einer Heilssuche zwischen Sucht und Sehnsucht.

Ihre Figuren, die sich selbst nicht durchsichtig sind, lässt sie in exaltierten Gesten etwas vom "inkommensurablen Rest" aller menschlichen Lebensvollzüge zum Ausdruck bringen, womit sie etwas von dem Geheimnis des Menschseins enthüllt, das sie gleichzeitig hütet.

​​Manuel Gogos

© Neue Zürcher Zeitung, 17. August 2005

Elif Shafak: Die Heilige des nahenden Irrsinns. Aus dem amerikanischen Englisch von Margarete Längsfeld. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2005

Qantara.de

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