"Ein Buch für ein Buch"

Die arabische Welt wird Gastregion der Frankfurter Buchmesse 2004. Aus diesem Anlass sprach der syrische Philosoph Dr. Sadik J. Al-Azm in Frankfurt über die Situation der arabischen Kultur.

Die arabische Welt wird Gastregion der Frankfurter Buchmesse 2004 sein. Aus diesem Anlass sprach der syrische Philosoph Dr. Sadik J. Al-Azm auf einer Pressekonferenz in Frankfurt im Oktober 2003 über die Situation der arabischen Kultur.

Sadik J. Al-Azm, Foto: Ikhlas Abbis
Sadik J. Al-Azm

​​Bei einem Anlass wie dem heutigen ist es kaum noch möglich, über irgend etwas zu sprechen, ohne sich erst einmal durch rituelle Kommentare zum 11. September, dem Islam, dem Terrorismus, dem Irak, Palästina und der gesamte Nahostfrage zu legitimieren, alles Themen, die in den argwöhnischen Ohren der Europäer das Echo Schrecken erregender Rätsel von einst wie der "Frage des Orients" und des verrufenen "kranken Mannes Europas" widerhallen lassen. Tatsächlich kam der syrische Autor, Wissenschaftler und Kritiker Mohammad Kamel Al-Khatib erst kürzlich in einer Analyse zu dem Ergebnis, der "kranke Mann" sei immer noch krank und die "Frage des Orients" werde auch im neuen Jahrhundert die große ungelöste Frage bleiben.

Ich möchte indes gleich sagen, dass ich nicht vorhabe, über den 11. September, den "kranken Mann" und ähnliche Themen zu sprechen, oder, wie es für Araber oft typisch ist, mich in feierlichen Lobpreisungen unserer glorreichen Vergangenheit und der Rezitation jener alten Weisheit zu ergehen, laut der das moderne Europa doch eigentlich uns alles zu verdanken hat: Averra, die hoch stehende Kultur und Zivilisation des muslimischen Andalusiens, die arabischen Errungenschaften in Wissenschaft, Mathematik und Philosophie, und so weiter und so fort.

Stattdessen möchte ich einige hoffentlich aufschlussreiche Kommentare, erhellende Beobachtungen und nützliche Klarstellungen zur arabischen Kultur im Hier und Jetzt präsentieren. Denn im Gegensatz zur herrschenden Vorstellung in der nicht-arabischen Welt, besonders im Westen, sind Kultur, Denken, Theorien, Literatur und Kunst unserer Region keineswegs so politisch konform, religiös-dogmatisch und geistig steril, wie es von außen und manchmal sogar auch von innen aus gesehen den Anschein hat. Und nichts von dem, was derzeit überall auf der Welt über die Rückkehr des Islam, den Aufstieg des Fundamentalismus, Islamismus und aller möglicher rückwärts gerichteter Ideologien gesagt wird, kann an dieser Tatsache das Geringste ändern.

Gewaltsam in eine moderne Welt gezwungen

Die moderne arabische Kultur ist dem Wesen nach ein langwieriger, hartnäckiger Versuch, (a) eine Antwort auf eine Moderne zu finden, die von Europa erfunden wurde, und (b) sich so schnell und funktionell wie möglich an eine dynamische moderne Welt anzupassen, die ursprünglich von eben diesem selben Europa geschaffen und gestaltet wurde, wobei die Araber, Muslime, Chinesen, Hindus und sonstigen Nicht-Europäer nicht nur nicht gefragt wurden, sondern auch die Zeche zahlen mussten. Die Höhe- und Tiefpunkte, die Leiden und Schmerzen, die Erfolge und Fehlschläge, der Widerstand und die Kämpfe, die Gefühle von Hass und Animosität, die diesen langen Anpassungsprozess immer wieder gekennzeichnet haben, gehen auf die Tatsache zurück, dass die Araber seinerzeit gegen ihren Willen und Widerstand gewaltsam in diese neue moderne Welt hineingezwungen wurden, und dass die Moderne ihnen sodann kraft überlegener Macht, Effizienz und Leistungsfähigkeit von außen aufgenötigt wurde.

Das hat dazu geführt, dass die arabische Kultur und Geschichte heute ohne Europa gar nicht mehr denkbar ist. Tatsächlich hat das gewaltsame Eindringen Europas in die arabische Welt zu einem einschneidenden und definitiven Bruch mit unserer Vergangenheit geführt, den ich nur mit dem nicht weniger endgültigen und definitiven Bruch vergleichen kann, den die gewaltsame arabische Intervention in die Geschichte und Kultur des sassanidischen Persien im Jahr 637 bewirkte. Und ebenso wie die Geschichte Persiens nach dieser Eroberung nicht mehr ohne die Araber und deren plötzliches Vordringen in die farsische Region gedacht werden kann, ist auch die Geschichte und Kultur der arabischen Welt nach der europäischen Invasion nicht mehr ohne Europa, die Moderne und beider plötzliches Vordringen in die arabische Region zu verstehen, ein Vordringen, das mit allem aufräumte, was nicht genügend Lebens- und Widerstandskraft besaß.

Diese Geschichte erklärt die vielfältigen Neurosen, narzisstischen Verletzungen, Minderwertigkeitskomplexe, Trugbilder, kompensatorischen Täuschungen und Erscheinungsformen von Abenteurertum, Verantwortungslosigkeit und verzweifelter Gewalt, wie man sie in der modernen arabischen Geschichte, Kultur und Ideenwelt bis heute so häufig vorfindet.

Antworten finden auf die Realität

Genau deshalb beschäftigen sich die besten Vertreter der heutigen arabischen Kultur, Literatur, Poesie, Kunst, Kritik und Theorie auf vielfältigste Art damit, Antworten auf diese schmerzlichen Realitäten zu finden, indem sie sie demaskieren, entlarven, vermitteln, erklären und gegen sie revoltieren. Und das ist wahrlich kein Wunder, angesichts all dieser Realitäten mit all ihren lähmenden Widersprüchen, Spannungen, Paradoxien und Anomalien, all ihren Rationalisierungen tief sitzender, ritualisierter und ineinander verschachtelter Komplexe emotional höchst aufgeladener Überzeugungen, Wertungen, Bilder und Praktiken, die ihrerseits alle möglichen überkommenen Illusionen, überlebten Haltungen und Einrichtungen sowie anachronistischen Lebens-, Denk-, Regierungs- und Handlungsformen als etwas Geheiligtes, Unantastbares und Unveränderliches erscheinen lassen.

Aus diesem Grund standen Themen wie religiöse und gesellschaftliche Reform, Modernisierung, Liberalisierung, Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit, Säkularismus, Liberalismus und Sozialismus, Demokratie, Toleranz, Freiheit, Despotismus und Bürgerrechte spätestens seit der kurzen Besetzung Ägyptens durch Napoleon Bonaparte im Jahre 1798 allesamt in der ein oder anderen Form auf der Agenda der modernen Geschichte und Kultur sowie des modernen Denkens und Handelns in der arabischen Welt.

Und mehr noch: Spätestens seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren und sind dies die brennenden Fragen, um die die arabische Kultur, das arabische Denken, die arabische Kritik, die arabische Literatur und die arabische Selbstbefragung ununterbrochen kreisen und die sie so gut und angemessen wie irgend möglich zu beantworten suchen.Reformation, Renaissance, Aufklärung

Sadik J. Al-Azm, Foto: Ikhlas Abbis
Sadik J. Al-Azm

​​Tatsächlich war die darauf folgende Periode in Leben, Kultur und Denken der arabischen Welt die Blütezeit der großen Bewegung für liberale Reformen und eine großzügigere Auslegung der Religion, einer Bewegung, die von Wissenschaftlern, Forschern und Historikern in Ost und West mit Bezeichnungen wie Erwachen, Renaissance, religiöse Reformation, liberales Experiment, muslimische Moderne, liberale Ära des modernen arabischen Denkens und so weiter und so fort belegt worden ist.

Und tatsächlich vereinte diese Bewegung all diese Aspekte in sich: eine theologisch-rechtliche Reformation, eine literarisch-intellektuelle Renaissance, eine neue, von Wissenschaft und Vernunft geprägte Aufklärung und darüber hinaus auch eine politisch-ideologische Erneuerung.

Aber da die moderne arabische Geschichte und das moderne arabische Denken keineswegs ohne Ausstrahlung sind, rief diese große Reformbewegung zugleich eine starke Reaktion in Gestalt einer Gegenreformation und einer muslimisch-fundamentalistischen Bewegung hervor. Diese Bewegung fand ihren Kristallisationspunkt im Jahr 1928 in Ägypten in der Gründung der Bewegung der Muslimbrüder, der Mutter aller Fundamentalismen in der arabischen Welt und darüber hinaus auch in einigen weiteren muslimischen Ländern und Gesellschaften.

Islamistische Gegenbewegung

Dass es gerade im Jahr 1928 zur Geburt der organisierten Form dieser Gegenreaktion kam, war kein Zufall, sondern hing damit zusammen, dass die ursprüngliche Reformbewegung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, besonders nach der berühmten ägyptischen Revolution gegen die britische Kolonialherrschaft, in Leben, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Recht Ägyptens und der anderen arabischen Länder rasch und massiv an Boden gewonnen hatte. So bricht auch in Nagib Machfus’ Romantrilogie über das Leben in Kairo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der diktatorische, männerbeherrschte muslimische Haushalt genau zum Zeitpunkt des Ausbruchs der großen ägyptischen Revolution rettungslos zusammen. Die religiöse Gegenreaktion hingegen definierte sich naturgemäß essenziell als Antireformation, Antirenaissance, Antiaufklärung und Antierneuerung, und zwar als all dies zugleich.

Konzept der "Authentizität"

Diese Gegenreformation bildete dann später die Basis für die Popularität des machtvollen Konzepts der "Authentizität", eines Konzepts, das schließlich zu den großen arabischen Debatten der sechziger und siebziger Jahre über Begriffspaare wie "Altes versus Neues", "Authentizität versus Verankerung in der Jetztzeit", "Erbe versus Erneuerung", "Identität versus Moderne", "Religion versus Säkularität" führte. Damals schien die arabische Welt angesichts dieser Gegensätze und ihrer Extreme wie Hamlet dramatisch zu schwanken, zu zögern, zu zaudern und hin und her zu oszillieren. Die Debatten waren stark von der Leidenschaft des Elementaren, der brütenden Intellektualität kopflastigen Disputs und der lyrischen Empfindsamkeit des Poetischen geprägt. Wie in Shakespeares berühmtestem Drama schien es den Arabern im Lauf dieser heftigen geistigen Gefechte, als sei "die Zeit aus den Fugen", und als sei auch in ihrem "Staate etwas faul", und auch die Frage, ob sie die Urheber ihres Schicksals seien oder ob "eine Gottheit ihre Zwecke formt", kehrte mit einer tragischen Intensität zurück, die ihresgleichen suchte.

Die existenzielle Angst, die im Hintergrund all dieser Auseinandersetzungen, Fragen, Gewissensbefragungen, Untersuchungen und Neubewertungen lag, erwies sich als intellektuell produktiv, kulturell bereichernd, künstlerisch stimulierend und politisch subversiv.

Suche nach Lösungen

Ein wichtiges Zeugnis dieser aufwühlenden Entwicklungen sind die vielen dicken Bände historisch-philosophischer Studien, die sich zum Ziel setzten, all diese brennenden Fragen und Probleme grundlegend und definitiv, ja, mit dem messianischen Impetus endgültiger Lösungen zu behandeln. Ein anderes wichtiges Beispiel sind die bedeutenden Interventionen, Impulse, Diskussionen und Beiträge, die das arabische Denken und die arabische Kultur zu den großen Debatten und Kontroversen beigesteuert haben, die die Welt im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Atem gehalten haben: den Debatten über den Orientalismus, über die islamische Revolution im Iran, über den Fundamentalismus, über Salman Rushdie, über das Thema Islam und Terrorismus, über Islam und Moderne, über das Ende der Geschichte und den Zusammenstoß der Kulturen sowie über Zivilgesellschaft und Demokratie.

Ich möchte schließen, indem ich, als engagierter arabischer Wissenschaftler und öffentlich tätiger Intellektueller, meinen Stolz und meine Befriedigung darüber zum Ausdruck bringe, dass es während des Leidensweges Salman Rushdies und des damit verbundenen weltweiten Aufruhrs in der gesamten arabischen Welt zu keiner Zeit Gewalttätigkeiten, Mordaufrufe oder Aufforderungen zur Befolgung der Fatwa gegen Rushdie gegeben hat. Tatsächlich war die arabische Welt, und hier wiederum besonders der Mashrek, der einzige Teil der internationalen muslimischen Gemeinde, in dem es zu einer echten, breiten und intensiven Debatte über die Satanischen Verse kam. Aus dieser Debatte ging ein Vorschlag hervor, der die arabische Intelligenz dazu aufrief, von nun an einem neuen Ehrenkodex zu folgen: Während unsere Vorfahren nach dem Prinzip Auge um Auge und Zahn um Zahn handelten, werden wir uns von nun an nach dem Prinzip "Ein Buch für ein Buch, ein Gedicht für ein Gedicht, ein Roman für einen Roman" richten.

Sadik J. Al-Azm

Der Vortrag wurde am 9. Oktober 2003 auf der Pressekonferenz zum Thema 'Die arabische Welt als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2004' gehalten.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Referenten.

The Arab League Educational Cultural and Scientific Organization (ALECSO)