Im Klima der Straflosigkeit

Brasilien, Ecuador, Bangladesch, Indien, Pakistan, Iran, die Türkei, Marokko: Nur einige Länder, in denen Ehrenmorde geschehen. 5.000 Frauen fallen dieser Praxis jährlich zum Opfer. Anja Wehler-Schöck untersuchte das Phänomen am Beispiel der jordanischen Gesellschaft. Mit ihr sprach Naima El Moussaoui.

Brasilien, Ecuador, Bangladesch, Indien, Pakistan, Iran, die Türkei, Marokko: Nur ein paar Länder, in denen Ehrenmorde geschehen. 5.000 Frauen und Mädchen fallen dieser Praxis jährlich zum Opfer. Anja Wehler-Schöck untersuchte am Beispiel der jordanischen Gesellschaft das Phänomen der Ehrenmorde. Mit ihr sprach Naima El Moussaoui.

Der Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005 hatte hierzulande eine hitzige Debatte über Verbrechen im Namen der Ehre entbrannt. Worum geht es überhaupt bei einem Ehrenmord?

Anja Wehler-Schöck: Bei einem Ehrenmord wird eine Frau von einem männlichen Familienmitglied getötet, um die Familienehre wiederherzustellen. Die vorausgegangene Ehrverletzung geschieht durch ein tatsächliches oder vermutetes moralisches Fehlverhalten der Frau.

In der Regel ist dieses Fehlverhalten sexuell konnotiert. Es kann sich aber sehr verschieden darstellen: von allgemeinem Ungehorsam über Kontakt zu einem Mann bis hin zu außerehelichem Geschlechtsverkehr oder der Tatsache, Opfer einer – oft inzestuösen – Vergewaltigung gewesen zu sein.

Wie verbreitet ist die Praxis der Ehrenmorde?

Wehler-Schöck: Nach Schätzungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen fallen jährlich weltweit etwa 5.000 Frauen und Mädchen Ehrenmorden zum Opfer. Pakistan gilt als eines der Länder, in dem mit etwa 500 Fällen jährlich die meisten Ehrenmorde geschehen. Es ist jedoch schwer, mit genauen Zahlen zu arbeiten, da die Dunkelziffer sehr hoch ist. In vielen Fällen werden Ehrenmorde von der Polizei nicht als solche registriert – sei es, weil dafür kein Bewusstsein existiert oder weil die Morde geschickt als Unfälle oder Selbstmorde getarnt sind.

Pakistan ist ein islamischer Staat. Das bestätigt die vorherrschende Annahme, dass Ehrenmorde Ausdruck einer islamischen Kultur sind.

Wehler-Schöck: Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Ehrenmorde weltweit in islamischen Ländern begangen wird, wird oftmals angenommen, dass diese Praxis mit dem Islam verbunden ist. Gelegentlich ist seitens islamischer Gelehrter und Anhänger islamischer Organisationen zu hören, dass Ehrenmorde nach islamischem Recht gerechtfertigt oder sogar gefordert seien.

Allerdings haben sowohl der Ehrkomplex als auch die Praxis der Ehrenmorde keine Wurzel im Islam. So ist beispielsweise die Vorstellung der Übertragbarkeit von Schande von einer Person auf eine andere oder auf ein Kollektiv dem Islam fremd.

Darüber hinaus enthält der Koran ein grundsätzliches Tötungsverbot. Dem Individuum ist es zudem untersagt, das Recht in die eigene Hand zu nehmen.

Der beschriebene Ehrkomplex ist überall dort festzustellen, wo die Gesellschaftsstruktur durch Familialismus, Patriarchalismus und einen starken Einfluss der Religion geprägt ist. Die Praxis der Ehrenmorde ist daher nicht nur in islamischen und arabischen Staaten zu finden, sondern beispielsweise auch in einigen lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien und Ecuador.

Sie haben Ehrenmorde in Jordanien untersucht und nicht zum Beispiel in Ecuador, was den bestehenden Vorurteilen widersprochen hätte. Warum?

Wehler-Schöck: Es war mir wichtig, ein islamisches, arabisches Land zu untersuchen, um speziell auch Ihrer vorausgehenden Frage nachgehen zu können, ob nämlich Ehrenmorde eine Wurzel im Islam, in der arabischen Kultur oder im Stammesrecht haben.

Jordanien stellte für mich einen besonders interessanten Fall dar, da das Land in der internationalen Diskussion um Ehrenmorde in den letzten Jahren ein außergewöhnliches Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erfahren hat. Darüber hinaus zeichnet sich Jordanien gegenüber anderen betroffenen Staaten durch einige fortschrittliche Maßnahmen im Bereich der Gewalt gegen Frauen aus.

Nicht zuletzt muss berücksichtigt werden, dass für eine solche Forschungsarbeit auch das politische Klima eine gewisse Rolle spielt. Anders als etwa im Iran oder in Pakistan ist in Jordanien im Zuge der Liberalisierung eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Problem der Ehrenmorde möglich geworden.

Welche strafrechtlichen Folgen ziehen die Ehrenmorde nach jordanischem Recht nach sich?

Wehler-Schöck: Der Tatbestand "Ehrenmord" existiert im jordanischen Strafrecht nicht. Daher wäre zunächst an die Bestimmungen zu vorsätzlicher Tötung (Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren) und Mord (Todesstrafe) zu denken. Diese Höchststrafen werden aber nur selten verhängt; in der Regel kommen die Täter in Ehrenmord-Fällen sehr milde davon.

Das liegt zum einen daran, dass Ehrenmorde – wie bereits – erwähnt oftmals als Selbstmord oder Unfall getarnt werden, und Polizei und Justiz eine geringe Motivation zeigen, die Umstände dieser Fälle genauer zu untersuchen. Zum anderen existieren im jordanischen Strafrecht eine Reihe von Strafminderungsregelungen und Entschuldigungsgründen, die bei Ehrenmorden häufig herangezogen werden.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass Familien gelegentlich ein jugendliches Familienmitglied mit der Ausführung der Tat beauftragen, da Personen bis 18 Jahre unter das Jugendstrafrecht fallen. In den meisten Fällen müsste auch die Frage nach Anstiftung, Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft geklärt werden. Derartige Erwägungen finden in den Prozessen bislang jedoch noch keine Berücksichtigung.

Insgesamt herrscht somit bezüglich der Ehrenmorde ein Klima der Straflosigkeit. Positiv anzumerken ist, dass in jüngster Zeit eine leichte Tendenz zu strengeren Urteilen festzustellen ist.

Auf der einen Seite haben wir ein Klima der Straflosigkeit. Auf der anderen Seite beteiligten sich Mitglieder der Königsfamilie an einer Demonstration gegen Ehrenmorde. War das nur Publicity-Making oder was tut das Königshaus gegen die Praxis der Ehrenmorde?

Wehler-Schöck: Die jordanische Königsfamilie strahlt eine gewisse Liberalität aus und setzt sich für soziale Belange ein. Oft handelt es sich dabei allerdings eher um symbolische Akte - wie die erwähnte Teilnahme an der Demonstration - als um nachhaltige Maßnahmen zur Verbesserung der Situation.

In der Zivilgesellschaft wird dieses Vorgehen der Königsfamilie daher auch sehr kritisch wahrgenommen und als Strategie gesehen, um durch Vereinnahmung bestimmter Initiativen als Dämpfer unbequemer zivilgesellschaftlicher Aktivität zu wirken.

Ein offensives Vorgehen König Abdullahs gegen Ehrenmorde ist in naher Zukunft nicht zu erwarten. Die Lage in Jordanien ist durch ein fortwährendes Klima politischer Spannungen geprägt, das sich in den letzten Jahren noch verschärft hat. Die Innere Sicherheit hat oberste Priorität für die Regierung.

Vor diesem Hintergrund wird König Abdullah in naher Zukunft weder willens noch in der Lage sein, das Risiko einschneidender Reformschritte in Richtung einer Demokratisierung und sozialen Liberalisierung einzugehen, die zu dauerhaften Veränderungen führen könnten.

Spielen der andauernde politische Konflikt sowie die damit verbundene wirtschaftliche Unsicherheit für das Problem der Ehrenmorde eine Rolle?

Wehler-Schöck: Die permanente Bedrohungssituation wurde und wird von der jordanischen Regierung als Rechtfertigung für die Einschränkung politischer und sozialer Freiheiten herangezogen. Hinter die Landessicherheit müssen Menschen- und insbesondere Frauenrechte zurücktreten. Nicht nur im konservativen Lager wird Gewalt gegen Frauen gelegentlich als vernachlässigbar gegenüber "wirklichen" Problemen wie Armut und Arbeitslosigkeit betrachtet.

Es ist vorstellbar, dass das Klima andauernden Konflikts zu einer Brutalisierung der jordanischen Gesellschaft beigetragen hat. Nach einer Analyse von amnesty international ist in vielen Gesellschaften, deren Alltag durch gewalttätige Auseinandersetzungen gekennzeichnet ist, ein erhöhtes Auftreten von Ehrenmorden zu beobachten.

Interview: Naima El Moussaoui

© Qantara.de 2007

Anja Wehler-Schöck ist Diplom-Politologin (Freie Universität Berlin/ Institut d'Etudes Politique Paris) und arbeitet als Referentin für Gender, Familien- und Jugendpolitik bei einer politischen Stiftung in Berlin.

Anja Wehler-Schöck: Ehrenmorde in Jordanien, Ursachen und mögliche Gegenstrategien, Frankfurt am Main 2007, Verlag Peter Lang, ISBN 978-3-631-55808-9

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