"Literatur beginnt an dem Punkt, wo ich vergesse, wer ich bin"

Mit einem professionellen Auftritt und einer Vielzahl interessanter literarischer Neuerscheinungen hinterlässt der diesjährige Ehrengast einen guten Eindruck. Aber wird das zum Motto erhobene Bekenntnis zur Diversität auch auf die Verhältnisse im Land selbst zurückwirken? Von Angela Schader

Von Angela Schader

Messebesucher vor Schriftstellerplakaten; Foto: AP
Nicht europäisch "trost- und farblos", sondern im Gegenteil "faszinierend farbig" wollte sich die Türkei bei ihrem Messeauftritt zeigen.

​​ "Wie sein Kopf auch geartet sei, ein Mensch muss unbedingt ein Jackett, eine Hose und irgendeinen Hut tragen, um das Prädikat des Europäers zu erlangen. Diese trost- und farblose Kleidung ist die Uniform der Zivilisation." So schreibt der türkische Dichter Ahmet Hasim 1932 aus Frankfurt; seit neun Jahren setzte damals die kemalistische Regierung alles daran, auch ihre junge Republik an dieser Zivilisation teilhaben zu lassen.

An der Frankfurter Buchmesse bezeichnet der islamisch orientierte Denker Rasim Özdenören dieses Projekt dann kurzerhand als "Sackgasse". Modernisierung heisse immer, dass sich eine nichtwestliche Gesellschaft nach dem westlichen Modell zu wandeln habe; eine solche Entwicklung komme nicht aus der Eigendynamik der betreffenden Kultur heraus, sondern sie sei lediglich Imitation, die zum ewigen Hinterherhinken verurteile. Die frustrierenden Erfahrungen der Türkei mit der EU scheinen dies zu bestätigen; doch warnte Rainer Hermann, der als Auslandkorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" seit langem in Istanbul lebt, vor weiteren Abwehrreflexen.

Die reformwilligen Kräfte in der Türkei seien auf Rückendeckung aus Europa angewiesen; Europa seinerseits - im Blick auf die wohl noch längerfristig dominierende Konfliktlage zwischen Orient und Okzident - jedoch nicht minder auf ein Zusammengehen, das als Modell für die Vereinbarkeit westlicher Moderne und islamisch geprägter Kultur dienen könne.

Auch der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk konstatierte in seiner Eröffnungsrede, die Türken hätten sich "in den letzten hundert Jahren so missverstanden gefühlt, dass wir aus dieser Einstellung geradezu einen Teil unseres Selbstverständnisses beziehen" - und mahnte umgehend: "Doch wer aus dem Unverstandensein einfach auf interkulturelle Unverträglichkeiten schliesst (. . .), der leistet einem um sich greifenden gefährlichen Gedanken Vorschub, nämlich der Vorstellung, auch die vom Westen entwickelten Ideale von Demokratie und Meinungsfreiheit seien uns von Natur aus fremd und mit unserer Lebensart nicht zu vereinbaren."

Vielstimmigkeit - und wenig Zuhörer

Nicht europäisch "trost- und farblos", sondern im Gegenteil "faszinierend farbig" wollte sich die Türkei bei ihrem Messeauftritt zeigen. Das als buntes Labyrinth gestaltete Logo wurde bei der Ausstellung im Messe-Forum geschickt wieder aufgenommen, indem diese einen in verschiedene Farbsektoren aufgeteilten, labyrinthischen Gang durch die Epochen und Stilrichtungen der türkischen Literatur inszenierte.

Auch im Pavillon auf dem Messegelände gelang es, Elemente der kulturellen Tradition - osmanische Architektur, Buchkunst und Kunsthandwerk, aber auch die volkstümlichen Eulenspiegeleien des Nasreddin Hoca oder die experimentellen Texte der Dichterin Sevim Burak - anregend und frei vom Staub des Folkloristischen zu präsentieren. Die ausserhalb des Messegeländes bespielten Ausstellungsorte reichten von Dom und Paulskirche bis zum Schnäppchenkaufhaus Expozeil und zu der in einem romantisch-baufälligen Hinterhof versteckten Ausstellungshalle; während man dort Einblick in eine vielseitige, auf der Höhe der Zeit operierende Kunstszene erhielt, wartete das Völkerkundemuseum mit einmal versponnenen, dann wieder schneidend bösen Karikaturen auf, die den Zeitraum vom Verfall des Osmanischen Reiches bis in die Gegenwart überspannen.

Für die ethnische Vielfarbigkeit der Türkei schliesslich standen nebst den im Haus am Dom gezeigten, bestechenden Fotografien von Attila Durak auch zwei Podiumsdiskussionen ein. Die erste, von Schriftstellerinnen und Schriftstellern armenischer Herkunft bestritten, bot hohe Qualität und differenzierte Statements; während Jaklin Celik den Begriff der Multikulturalität kritisch hinterfragte und darin auch ein Moment der Überheblichkeit, des blossen (und keineswegs selbstverständlichen) Duldens des "Anderen" ausmachte, fand Esther Heboyan, sie habe sich in der Türkei als Armenierin nie marginalisiert gefühlt; die schmerzhafte Erfahrung des Andersseins sei erst beim Umzug nach Deutschland und später nach Frankreich gekommen, solange sie die Sprache nicht beherrschte und zum Schweigen verurteilt war.

Mitarbeiterin am türkischen Stand; Foto: DW/Schuhmann
Türkei: Vereinbarkeit von westlicher Moderne und islamisch geprägter Kultur?

​​ Raffi Kebabciyan freilich hob hervor, dass man in der Türkei den Genozid an den Armeniern nach wie vor weitgehend totschweigen müsse; und legte später mit der scharfen Frage nach, wieso sie sich hier eigentlich auf Türkisch unterhielten, da sie doch alle armenischer Muttersprache seien. Tatsächlich hätte eine Diskussion auf Armenisch nur schon deshalb nahegelegen, weil das spärliche Publikum zum Grossteil offensichtlich aus in Deutschland lebenden Landsleuten bestand; in Anbetracht der Virulenz des armenischen Themas in der hiesigen Türkei-Diskussion ist dieses mangelnde Interesse bedauerlich und bedenklich.

Auch die Gesprächsrunde "Andere Farben, andere Stimmen", in der neben den armenischen Literaturschaffenden Karin Karakasli und Ikna Sariaslan der jüdischstämmige Autor Mario Levi und der Kurde Selim Temo auftraten, war schwach besucht - obwohl Levi nach Sariaslans etwas langfädigen Ausführungen für einen Eklat sorgte. Es sei dies das dritte und letzte Mal, dass er an einer derartigen Gesprächsrunde teilnehme, kündigte der Autor an, und er habe hier überhaupt nur zugesagt, um seinen Protest zu artikulieren.

Seit Jahrzehnten sei er als Schriftsteller präsent und würde lieber als solcher begrüsst, statt in die Minderheiten-Ecke abgeschoben zu werden; es sei auch keineswegs sein Problem, einer Minderheit anzugehören, sondern vielmehr, Türke und Istanbuler zu sein: Was das Land, die Stadt beschäftige, treibe auch ihn um. Selim Temo dagegen gab zu, sich nicht von der Last seiner Herkunft freischreiben zu können.

Nobelpreisträger Orhan Pamuk; Foto: AP
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk: "Türken haben sich in den letzten hundert Jahren [...] missverstanden gefühlt"

Er fühle sich weder dem Türkischen noch dem Kurdischen wirklich zugehörig, habe nie eine literarische Sprache, sondern immer nur die Sprache des Widerstands entwickeln können. Gern hätte er sich im geistigen Raum der Weltliteratur bewegt, aber die Beschränkungen der "Opferliteratur" lägen "wie ein Todesurteil" auf seinen Schultern. Darin traf er sich sozusagen ex negativo mit Karin Karakasli, die befunden hatte: "Literatur beginnt an dem Punkt, wo ich vergesse, wer ich bin."

Meinungsfreiheit - Vogelfreiheit ​​

Mit Blick auf das Motto des Messeauftritts konstatierte der Verleger Seyfi Öngider knapp, dass es im Bereich der Meinungsfreiheit in der Türkei keine Farben gebe, sondern lediglich Schwarz. Auf dem Podium zum Thema "Meinungsfreiheit und die Erfahrungen der Verlegerbranche" sassen neben Öngider sein ebenfalls wegen missliebiger Publikationen vielfach gerichtlich belangter Kollege Ragip Zarakolu, der Jurist Fikret Ilkiz und Etyen Mahçupyan, der nach der Ermordung Hrant Dinks die Herausgabe der armenisch-türkischen Wochenzeitung "Agos" übernahm.

Dem Zuhörer dieser Diskussion mochten, wie es einst der eingangs zitierte Ahmet Hasim formuliert hatte, die Ohren "von beiden Seiten seines benommenen Kopfes wie zwei nervöse Blätter" abstehen: Da kamen nebst der Vielfalt obrigkeitlicher Schikanen und einer "sehr kreativen Art, Druck auszuüben" auch die mutigen und gelegentlich nicht minder kreativen Gegenzüge der Verleger zur Sprache.

Henry Millers wegen Anstössigkeit zensierter "Wendekreis des Krebses" etwa erschien mit im Haupttext brav eingeschwärzten Passagen - wobei diese aber im Gerichtsurteil, das im Buch mit abgedruckt war, auf Punkt und Komma nachzulesen waren. Ein Farbpunkt oder Lichtblick mag immerhin sein, dass diese Veranstaltung vom türkischen Organisationskomitee selbst ins reichhaltige (und vom unermüdlichen Team der Dolmetscherinnen und Dolmetscher meist kompetent vermittelte) Diskussionsprogramm eingebracht wurde.

Ob sie in dieser Form auch in der Türkei hätte stattfinden können, sei dahingestellt; dort dürften aber zumindest die mutigen und unmissverständlichen Worte, die Orhan Pamuk bei seiner Eröffnungsrede der mangelnden Meinungs- und Ausdrucksfreiheit gewidmet hatte, dem Thema einen Platz weit oben auf der Agenda verschafft haben.

Angela Schader

© Neue Zürcher Zeitung 2008