Im Spannungsfeld weltanschaulicher Instrumentalisierung

Vor 30 Jahren publizierte Edward Said sein Hauptwerk "Orientalism". Für westliche Akademiker avancierte das Buch zum Manifest der theoretischen Entkolonialisierung – aber wie wurde sein intellektuelles Erbe in der arabischen Welt aufgenommen? Antworten von Markus Schmitz

Von Markus Schmitz

​​ Fünf Jahre nach seinem Tod und 30 Jahre nach der Erstpublikation seiner vieldiskutierten Orientalismus-Studie (Orientalism, 1978) ist der Einfluss Edward W. Saids (1935-2003) ungebrochen. Indem der palästinensisch- amerikanische Intellektuelle die Grenzen seiner akademischen und nationalen Herkunft überschritten hat, erzielte seine Kritik Wirkung von fächerübergreifendem wie globalem Ausmaß.

Doch obschon seine Bedeutung für die Zusammenführung vormals getrennt geführter Debatten unbestritten ist, erweist es sich als äußerst schwierig, den kulturellen, politischen oder theoretischen Ort Edward Saids zu bestimmen. Er, der sich gleichzeitig als orientalisches Subjekt, als "der letzte jüdische Intellektuelle" in der Tradition Adornos, als Wahlpalästinenser und als New Yorker Exilant präsentiert, lässt sich nicht einfach als Repräsentant der arabisch-akademischen Diaspora beschreiben. Während inzwischen unzählige Einführungen, Sonderausgaben und Reader den verschiedensten Wirkungsfeldern des Kulturkritikers wie der politisch engagierten öffentlichen Person nachgehen, findet die innerarabische Said-Rezeption kaum Berücksichtigung. Dies muss überraschen, da Edward Said seit Anfang der 1990er Jahre als Akteur lokaler Debatten in Kairo, Beirut oder Ramallah in Erscheinung tritt.

Das "Andere" als Leserschaft Der ägyptische Politologe Ahmed Abdalla hatte Anfang der 1980er Jahre seine arabischen Leser darauf hingewiesen, dass der westliche Begriff vom "Anderen", von dem zahlreiche postkoloniale Theoretiker schreiben und sprechen, nicht zuletzt und besonders auf Araber und Muslime zu beziehen sei. Insofern durfte man gespannt sein, wie die Leser in der arabischen oder so genannten islamischen Welt auf eben jene Interventionen reagieren würden, die vorgaben, aus dem Inneren der westlichen Metropolen heraus den Kampf um kulturelle Dekolonisation zu führen.

Foto Islamische Enzyklopädie; Foto: picture alliance/dpa
Edward Said forderte die Formation eines (selbst-)kritischen arabischen Diskurses.

​​ Edward Said bildet in diesem Zusammenhang aufgrund seiner Herkunft und politischen Involvierung ein besonders interessantes Beispiel. Seine Wirkung in der arabischen Welt begrenzt sich zunächst auf eine Gruppe meist in Europa oder in den USA ausgebildeter Literaturwissenschaftler. Erst mit Orientalism erreicht Said ein größeres Publikum. Der 1981 von Kamal Abu-Dib ins Arabische übertragene Schlüsseltext der kolonialen Diskursanalyse wird von den Intellektuellen im Nahen Osten aber nicht nur positiv aufgenommen. Die Studie, mit der Said versucht, sein politisches Leben in die akademische Praxis zu integrieren, indem er die Themen des Eurozentrismus, Kolonialismus und Rassismus in die westliche Literaturtheorie einführt, ist von Anfang an selektiven Kanonisierungs- und Instrumentalisierungsversuchen ausgesetzt. Orientalism wird genauso zur strategischen Maximierung kultureller Differenz wie zu deren kategorischen Verneinung in Dienst genommen. Das Buch und sein Autor werden bis heute als Folie zur Projektion islamomanischer und islamophober Positionen genutzt. Vor allem marxistische und liberale arabische Intellektuelle erleben die Abkehr lokaler Bildungseliten vom westlichen Modernitätsmodell als Sackgasse und machen Said für diesen Trend mit verantwortlich.

Said wurde als Repräsentant des westlich-amerikanischen Kulturbetriebs kritisiert

Viele beklagen die Abwesenheit dependenztheoretischer Überlegungen sowie Klassenfragen und verdächtigen Said des umgekehrten Orientalismus. Aber auch religiöse Gelehrte tun sich schwer, die von Said analysierten Machtrelationen auf ihre Erkenntnisprozeduren zu beziehen. Dass Saids Dezentrierung der europäischen Avantgardetheorie mit dem Kolonialismus und Rassismus nicht nur ein konstitutives Korrelat westlicher Wahrheitsdiskurse offen legt, sondern die Formation eines (selbst-)kritischen arabischen Diskurses verlangt, wird von vielen übersehen. Bis weit in die 1990er Jahre hinein gilt er der Mehrheit seiner arabischen Kritiker als Repräsentant des westlich-amerikanischen Kulturbetriebs.

Als Quelle zur Provinzialisierung westlicher Vergangenheits-, Identitäts- und Politikmuster oder als Instrument zur Dekonstruktion eigener Selbsterzählungen wird Orientalism zunächst kaum genutzt. Stattdessen wird Said vorgeworfen, dass in seiner Analyse arabische Standpunkte und Perspektiven unberücksichtigt bleiben. Das 1993 in Culture and Imperialism ausformulierte kontrapunktische Verfahren kann diesem Vorwurf nur bedingt begegnen. Der wesentliche Referenzrahmen wird weiterhin aus den Klassikern der europäischen Kulturgeschichte gebildet. Saids Kritik behandelt die westliche Metropole als privilegierten Ort kritischer Dekolonisation. Viele lokale arabische Kritiker erleben diese postkoloniale Diskurspraxis als Instrument des Ausschlusses.

Der palästinensische Aktivist und Gesellschaftskritiker

Erst Saids unmittelbare Präsenz in den lokalen Debatten der 1990er Jahre führt zu einem wachsenden Interesse arabischer Leser an seinem Gesamtwerk. Engagiert er sich bereits seit Ende der 1960er Jahre für die Sache der Palästinenser und hat er in den 1980er Jahren Anteil an dem Strategiewechsel der PLO vom bewaffneten Kampf zur Strategie des gewaltlosen Widerstands und der diplomatischen Konfliktlösung, bezieht er nun eine beinahe antinationale Position. ​​ Obwohl er keine kohärente postnationalistische Befreiungstheorie formuliert, zählen seine primär für arabische Leser verfassten politischen Schriften der 1990er Jahre zu jenen Werkfragmenten, in denen die Spannung zwischen nationaler Solidarität und kritischer Insistenz offen hervortritt.

Während er in der westlichen Öffentlichkeit weiterhin die kollektiven Ansprüche der Palästinenser repräsentiert, richtet sich seine innerarabische Kritik gegen interne Repressionen. Hatte er noch Ende der 1980er Jahre die Intifada und die Idee der Zwei-Staaten-Lösung unterstützt, kritisiert er nun das Oslo-Interimsabkommen als Verrat an dem zivilen Widerstand, an den Forderungen der Flüchtlinge sowie an der Diaspora. Als palästinensischer Dissident wird Said zum Ziel von Diffamierungen und Zensurmaßnahmen. Als sich Mitte der 1990er Jahre eine Arafat-kritische Opposition gegen die Modalitäten des so genannten Friedensprozesses formiert, erhält er die Rolle des Sprechers der von der repressiven Implementierung des Oslo-Abkommens desillusionierten säkularen Palästinenser. Als Mitglied der Al-Mubadara al-Wataniya al-Filastiniya (Palestinian National Initiative), einer zivilgesellschaftlichen Sammlungsbewegung, engagiert er sich gegen die Besatzung sowie gegen die Unterdrückung demokratischer Grundrechte durch das kleptokratische Regime. Zeitgleich avanciert er zum publizistischen Akteur der expandierenden arabischen Bürger- und Menschenrechtsdebatte und gewinnt Einfluss auf zivilgesellschaftliche Demokratiebewegungen in anderen arabischen Staaten.

Konzept des Wahl-Arabertums

Said avanciert so im Verlauf der 1990er Jahre im Nahen Osten zu einem öffentlichen Intellektuellen. Diese neue Rolle verbessert die Aufnahmebedingungen für seine theoretischen Schriften, die nun ins Arabische übertragen werden. Derweil bleibt die Frage nach seiner Identität bis zum Schluss umstritten. Die Reaktionen auf seine 2000 auf Arabisch erschienenen Memoiren Out of Place (kharig al-makan) veranschaulichen dies eindrucksvoll. Sie sind zu einem guten Teil Re-Rezeption des Versuches westlicher Kritiker, die Geltungsansprüche der persönlichen Erzählung in Abrede zu stellen.

Bild Markus Schmitz; Foto: privat
Indem Edward Said die Grenzen seiner akademischen und nationalen Herkunft überschritten hat, erzielte seine Kritik Wirkung von fächerübergreifendem wie globalem Ausmaß, so Markus Schmitz.

​​ Weil sich Said darin aber als ehemals kolonialisiertes Subjekt in die arabische Geschichte platziert, wird die persönliche Geschichtsschreibung nicht nur als nationales palästinensisches Statement, sondern auch als Beleg für Saids arabische Identität gedeutet. Andere erkennen in Edward Saids Autobiografie ihr Gefühl der Entfremdung und des Ausgeschlossenseins von dem arabischen Dominanzdiskurs. Auf Widerstände stößt hingegen das Konzept des Wahl-Arabertums.

Während Said die Geschichte seiner Selbstwerdung und seiner Solidarität mit den Palästinensern als bewusste Entscheidung anstatt als Rückkehr zu einem authentischen Ursprung erklärt, erscheint arabischen Intellektuellen dieses Modell mit Blick auf die repressiven Bedingungen ihrer täglichen Arbeit kaum übertragbar. Saids Versuch, mit den diskriminierenden Fixierungen kolonialrassistischer Identifikationen gleichsam die Fesseln nationalistischer Kohäsionsprinzipien zu lösen, trifft im Nahen Osten auf erhebliche Widerstände. In diesen Situationen riskiert Saids Kritik, den Kontakt zu jenen anderen Äußerungsformen zu verlieren, die in der arabischen Peripherie der globalen Kulturindustrie gemacht werden.

Markus Schmitz

© Qantara.de 2008

Markus Schmitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für English, Postcolonial & Media Studies der Universität Münster. 2008 ist von ihm bei transcript "Kulturkritik ohne Zentrum: Edward W. Said die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation" erschienen. Sein aktuelles Projekt behandelt ausgewählte literarische, audiovisuelle und theoretische Positionen arabisch-amerikanischer Transmigranten.