Das Schicksal des Hirtenjungen Mabrouk Soltani

"Es ist das erste Mal in der Geschichte Tunesiens, dass der Kopf einer Leiche die Nacht in einem Kühlschrank verbringt und ihr Rest in den Bergen." Das sind die wenigen Worte, die Mohammad Soltani vor der Kamera findet, um über das tragische Schicksal seines Bruders Mabrouk Soltani zu berichten. Von Iman Hajjih

Von Iman Hajjih

Mabrouk Soltani ist jener Hirtenjunge, der am 13. November 2015, wenige Stunden vor den Pariser Attentaten, durch die Hand islamistischer Terroristen auf grausamste Art und Weise den Tod gefunden hat. Mabrouk war 16 Jahre alt und lebte gemeinsam mit seiner Mutter Zaara in dem kleinen tunesischen Dorf Slatniya in der Region Jelma (Sidi Bouzid) im westlichen Landeszentrum.

Naturverliebt verbrachte er seine Tage mit seinen Schafen und Schäferhunden in dem Gebirge Mghila und kam erst mit der Abenddämmerung wieder nach Hause. An jenem 13. November wird Mabrouk von seinem Vetter Chokri Soltani begleitet, als die beiden Jugendlichen von Mitgliedern der Terrororganisation "Jund al-Khalifah" (Soldaten des Kalifats), einer Abspaltung von "Al-Qaida im Maghreb" (AQMI), die dem IS Treue schwört, überfallen und gefesselt werden und das Grauen seinen Lauf nimmt.

Der Hirtenjunge wird von den Terroristen geköpft. Der 15-jährige Chokri wird nicht nur Augenzeuge der Hinrichtung, er wird außerdem dazu aufgefordert, der Familie Mabrouks seinen Kopf zu überbringen.

In den Rängen der "Tyrannen Tunesiens"

Doch dies ist nur der Anfang einer entsetzlich makabren Ereigniskette. Der Kopf Mabrouks verbringt die Nacht im Kühlschrank, nach dem Rest seiner Leiche kann im Dunkeln nicht gesucht werden. Von staatlicher Seite begibt sich am Abend niemand nach Slatniya. Die Presse, die am nächsten Tag anwesend ist, lichtet den Kopf Mabrouks ab.

Ermordeter Hirtenjunge Mabrouk Soltani; Foto: privat
Bestialisch hingerichtet: Der 16 Jahre alt Hirtenjunge Mabrouk Soltani wurde am 13. November von Extremisten der Terrororganisation "Jund al-Khalifah" vor den Augen seines Vetters geköpft.

Das Foto macht nicht nur in den sozialen Netzwerken die Runde, auch im Nachrichtenjournal des tunesischen Staatsfernsehens wird das Foto gezeigt, woraufhin der Direktor umgehend entlassen wird. Der Rest von Mabrouks Leiche wird 24 Stunden später ausfindig gemacht, umringt von seinen Schäferhunden.

In einem Bekennervideo, das kurze Zeit später veröffentlicht wird, wird in einer Botschaft erklärt "Dies ist die Wahrheit des abtrünnigen Schäfers Mabrouk". Mabrouk hätte die tunesische Armee über die Präsenz der "Soldaten des Kalifats" informiert. Das Schicksal Mabrouks sei das Schicksal all derjenigen, die sich in den Rängen der "Tyrannen Tunesiens" gegen die "Soldaten des Kalifats" befänden.

Das Video endet mit den Bildern der Hinrichtung Mabrouks. Er ist der zweite Hirte, der innerhalb eines Monats zum Terroropfer wird, nachdem am 23. Oktober ein Hirte in dem Gebirge Kasserines im Nord-Westen des Landes hingerichtet wurde. Die Organisation "Okbaa Ibn Nafaa", ein Ableger Al-Qaidas, hatte sich zu der Tat bekannt.

Im Visier der Dschihadisten

Tunesien wurde in jüngster Vergangenheit vermehrt zur Zielscheibe terroristischer Anschläge. Nach dem Anschlag auf das Bardo-Museum im vergangenen März, bei dem 22 Menschen getötet wurden, und dem Anschlag in einem Hotel in Sousse im Juni 2015, bei dem 38 Menschen getötet wurden, starben am 24. November zwölf Menschen bei einem Selbstmordanschlag auf einen Bus der Präsidentengarde in der Nähe der Avenue Mohamed V., einer der belebtesten Straßen von Tunis.

Tunesien gilt als Vorbild für eine gelungene Demokratisierung in der arabischen Welt. Während die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens nach dem Arabischen Frühling in Chaos und in Diktaturen zurückfielen, bildet Tunesien eine Ausnahme. Der erfolgsversprechende Demokratiekurs im Geburtsland der Arabellion ist extremistischen Kräften ein besonderer Dorn im Auge. Durch die Anschläge soll die junge Demokratie destabilisiert werden.

Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi bei einer Kabinettssitzung; Foto: Getty Images/AFP/F. Belaid
Dramatischer Ansehensverlust: Die gegenwärtige Regierung unter der Führung Béji Caïd Essebsis scheint der neuen terroristischen Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Maßnahmen gegen die Bedrohung werden nur äußerst zurückhaltend ergriffen, was dazu führt, dass die Zivilbevölkerung ihr Vertrauen in die Regierung verliert.

Die tunesische Regierung scheint dem Terrorismus nicht viel entgegensetzen zu können. Die islamistische "Ennahdha"-Regierung stritt die Präsenz terroristischer Kräfte in den Grenzregionen zu Algerien und Libyen kategorisch ab. So erklärte Khaled Tarrouch, ehemaliger Sprecher des Innenministeriums, es handelte sich um Sportler, die in den Bergen trainierten und nicht um Terroristen.

Die gegenwärtige Regierung unter der Führung Béji Caïd Essebsis ihrerseits scheint der neuen terroristischen Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Maßnahmen gegen die Bedrohung werden nur äußerst zurückhaltend ergriffen, was dazu führt, dass die Zivilbevölkerung ihr Vertrauen in die Regierung verliert. Das Ansehen Essebsis war noch nie so schlecht wie heute.

In einer bewegenden Zeugenaussage erklärt Mabrouks Vetter Nassim Soltani, dass Mabrouk bereits im vergangenen Sommer von Terroristen aufgehalten wurde. Ihm wurde gedroht, dass seine gesamte Familie hingerichtet werden würde, wenn er Informationen über ihre Anwesenheit im Gebirge weitergeben würde.

Zur Selbstjustiz bereit

Dass die tunesische Regierung schon lange über die Existenz und die Aktivitäten der Terroristen in den Gebirgsregionen informiert ist, müsste auch ihnen bekannt gewesen sein. Seit jener Begegnung im Sommer lebt die Familie Mabrouks in ständiger Angst.

Transparent bei Solidaritätsdemonstration vor dem Bardo-Museum nach dem Anschlag im März 2015 in Tunis; Foto: Sarah Mersch
Vereint gegen den Terror: Im vergangenen März hatte der IS das Bardo-Museum in Tunis attackiert, im Juni einen Strand und ein Hotel in Sousse. Insgesamt wurden 60 Menschen getötet. Damals sollten der Demokratieprozess und der Tourismus getroffen werden.

Scharfsinnig erklärt Nassim: "Mein Vater hat mir gesagt, wir sollten wegziehen, aber wenn wir wegziehen und den Terroristen das Dorf überlassen, dann werden sie sich über das Land ausweiten. Wenn das nächste Dorf dann wegzieht, weil der Terror ihnen näher kommt, dann weiten sie sich noch mehr aus und irgendwann übernehmen sie das gesamte Land."

Nassim weist auf die bedrückende Armut und die extrem schwierigen Verhältnisse hin, in denen seine Familie und die übrigen Dorfbewohner leben. Diese Armut könne dazu führen, dass perspektivlose Jugendliche sich vom Terror "kaufen lassen" und sich den Terroristen anschließen.

"Wir sind mittlerweile zur Selbstjustiz bereit", erklärt er weiter. "Und wir sind dazu bereit, in die Berge zu ziehen und für die Sicherheit des Landes zu sterben." Er würde sowieso entweder verdursten, weil er durch die Präsenz der Terroristen sein Trinkwasser nicht mehr aus den Bergen beziehen kann, verhungern, weil er kein Brennholz mehr in den Bergen sammeln kann, oder ein gezieltes Opfer des Terrors werden.

Die tunesische Regierung hat mit dem Bau von begeh- und befahrbaren Straßen begonnen, womit die Gegend zugänglich gemacht und es den Bewohnern ermöglicht werden soll, sich zum Verdienen ihres Lebensunterhaltes problemlos fortzubewegen, was bisher nicht der Fall gewesen ist. Unterstützung erfährt die Familie Mabrouks außerdem von der tunesischen Zivilbevölkerung und der Vereinigung "Association Grands Cœurs", die durch Geld- und Sachspenden sowie durch konkrete Projekte den Menschen der Region helfen möchten.

Für Mabrouk kommt diese Hilfe zu spät. Er war von den Bergen abhängig, um zu überleben. Überleben durfte er jedoch nicht.

Iman Hajjih

© Qantara.de 2015