Feiern im Schatten der Krise

Die Hoffnung auf eine stabilere Zukunft Libyens ist auch drei Jahre nach dem Sturz Gaddafis getrübt, da die Bevölkerung weitgehend das Vertrauen in die gespaltene Übergangsregierung verloren hat. Unter öffentlichem Druck hat das Parlament nun vorzeitige Neuwahlen angekündigt. Von Valerie Stocker aus Tripolis

Von Valerie Stocker

Viele Libyer sagten, sie würden den Revolutionsfeiern eher fernbleiben, da es keinen Grund zur Freude in ihrem Land gebe. Vor drei Jahren hatte der Aufstand in dem nordafrikanischen Land begonnen, der den früheren Machthaber Gaddafi schließlich stürzte und den Beginn einer demokratischen Transition einläutete.

Doch anfängliche Euphorie ist längst verflogen. Milizen genießen nach wie vor Straflosigkeit und der 2011 entworfene politische Fahrplan hängt in der Schwebe. Seit Wochen fordern Demonstranten die Auflösung des Parlaments, dessen Abgeordneten sie Unfähigkeit und Machtmissbrauch vorwerfen.

Zur Feier am 17. Februar 2014 schmückten dennoch unzählige Staatsflaggen die Straßen von Tripolis. Stundenlang tobte die Menge auf dem Märtyrerplatz und ein sinnesbetäubendes Feuerwerk erhellte den Himmel über der Stadt. "In ein paar Stunden ist der Spaß vorbei, dann kehren auch die Sorgen wieder zurück", gab ein Zuschauer des Spektakels resigniert zu verstehen.

Staatsstreiche gegen die "betrunkene Demokratie"

"Libyen könnte man wohl als 'betrunkene Demokratie' beschreiben. Die halbe Zeit wissen wir nicht was los ist und ansonsten haben wir Kopfschmerzen", tweetet Nada Elfeituri aus Benghazi. Ein Vorfall kurz vor der Revolutionsfeier untermalt wie verwirrend und unvorhersehbar die libysche Innenpolitik ist. Chalifa Haftar, Militärkommandeur im Ruhestand, erklärte in einer Fernsehansprache, Parlament und Regierung hätten jegliche Legitimität verloren und müssten vorübergehend durch einen Präsidentialrat ersetzt werden um den "Pfad der Revolution zu korrigieren".

"Nein zur Verlängerung": Demonstranten in Tripolis fordern Auflösung des Parlaments; Foto: Valerie Stocker
"Nein zur Verlängerung": In Libyen protestierten am 14. Februar tausende Menschen gegen eine Mandatsverlängerung des Übergangsparlaments. Zahlreiche Demonstranten forderten anstelle einer Ausdehnung der Amtsperiode eine Neuwahl des Parlaments.

"Er hat es vielleicht nicht ausdrücklich gesagt, aber aufgefasst wurde sein 'Vorschlag' ganz klar als Staatstreich", meinte Oberst Ali Sheikhi, Sprecher der libyschen Armee. Letztere stecke jedoch nicht dahinter. Haftar spricht im Namen der "Libyschen Nationalen Armee", eine Gruppe abtrünniger Offiziere, die er selbst 1987 im Tschad gegründet hat, mit dem Ziel, den früheren Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi zu stürzen. Seine Gruppe spielt jedoch schon längst keine Rolle mehr und in der ohnehin schwachen regulären Armee hat er keinen breiten Rückhalt. In Libyen witzelt man über den "Staatsstreich ohne Militär und ohne Staat".

Dennoch ist die Lage ernst, denn die politische Krise hat ihren bislang tiefsten Punkt erreicht. Im 2012 gewählten Parlament – dem Nationalkongress – stehen sich zwei parteienübergreifende Lager gegenüber: auf der einen Seite die Islamisten und Revolutionäre, die mehr Raum für Religion und Einfluss für ehemalige Rebellen fordern; auf der anderen Seite die Liberalen und Nationalisten, die den Status Quo beibehalten und den Einfluss der Muslimbruderschaft begrenzen wollen.

Die Spaltung begann mit dem sogenannten Isolationsgesetz zum Ausschluss früherer Regimemitglieder aus der Politik, welches revolutionäre Milizen Anfang 2013 mit der Belagerung des Kongressgebäudes durchsetzten. Derzeit dreht sich der Streit um die amtierende Regierung, die der "Islamistische Block" seit Wochen abzusetzen versucht, sowie um die Amtsperiode des Nationalkongresses, deren Verlängerung die Mehrheit der Abgeordneten kurz vor Ablauf ihres ursprünglichen Mandats am 7. Februar beschlossen hat.

Abdelmajid Meligta, Parteiführer der liberalen "Allianz Nationaler Kräfte" erklärte den Entschluss jedoch für ungültig und warf der Gegenseite Erpressung vor. Offenbar erhoffte sich die Parteiführung einen Kompromiss, im Rahmen dessen sie dem Regierungswechsel im Austausch gegen eine Abschwächung des Isolationsgesetzes zugestimmt hätten. Somit hätte Parteigründer Mahmud Jibril – einer der wenigen Politiker mit Rückhalt in der Bevölkerung, der jedoch aufgrund seines früheren Regimepostens ausgeschlossen ist – gute Chancen bei einer künftigen Präsidentenwahl.  

Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Die Spaltung gefährdet nicht nur die politische Stabilität des Landes, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hauptgrund ist die Verstrickung der Politik in militärische Gewalt, denn beide Lager bedienen sich bislang ihrer Milizen-Allianzen, um auf der staatlichen Ebene Druck auszuüben.

Kaum waren am 18. Februar die Reste der Revolutionsfeier aufgeräumt, lieferten die Brigaden "Qaqaa" (zu Deutsch: Säbelrasseln) und "Sawaiq" (zu Deutsch: Blitze) hierfür das jüngste Beispiel: So forderte "Qaqaa"-Kommandeur Othman Meligta: "Der Nationalkongress ist seit dem 7. Februar illegitim und muss die Macht an den Obersten Gerichtshof übertragen. Abgeordnete die nicht innerhalb von fünf Stunden zurücktreten werden verhaftet!"Wie der Kommandeur stammen viele Mitglieder dieser beiden Brigaden aus der kleinen aber einflussreichen Ortschaft Zintan, die der liberalen Partei militärischen Rückhalt bietet. Unweigerlich wurde die Drohung somit als Schachzug der Liberalen aufgefasst, in Fortsetzung des vier Tage zuvor von Chalifa Haftar erklärten "Staatsstreiches".

Beteuerungen der Liberalen, sie hätten mit der Drohung nichts zu tun, überzeugten nicht, zumal Abdelmajid und Othman Meligta Brüder sind. Die Verlängerung des fünfstündigen Ultimatums verstärkte den Eindruck, dass es sich nicht um einen Ausrutscher abtrünniger Milizen handelte, sondern vielmehr um politisches Machtkalkül.

Asma Al-Usta, Kandidatin für den Wahlbezirk 10 in Tripolis; Foto: Valerie Stocker
Frustration und politische Desillusion statt Optimismus: "Ich glaube nicht, dass ich genug Stimmen bekomme", meint Asma Al-Usta, Kandidatin für den Wahlbezirk 10 in Tripolis. "Ohne staatliche Unterstützung konnte ich keine angemessene Wahlkampagne führen. Die meisten Wähler wissen nicht, wem sie ihre Stimme geben sollen"

Aus der Sicht der Liberalen wäre ein Krisenkabinett unter Aufsicht des Gerichtshofes wünschenswert, da es die Opposition vorübergehend ausschalten würde. Kräfte aus der Hafenstadt Misrata, die vor allem das islamistische Lager unterstützen, kündigten prompt an, sie würden – falls nötig – "Parlament und Demokratie mit Waffen verteidigen".

Politische Beobachter des Landes warnen denn auch: "Kommt es zu keiner Einigung, entbrennt ein Kampf der Milizen um Tripolis." Noch haben die Liberalen eine weiteren Trumpf in der Hand: der Oberste Gerichtshof berät derzeit eine mögliche Aufhebung des Isolationsgesetzes.

Die Verfassung im Kreuzfeuer der Politik

Inmitten der Tumulte haben Libyer am vergangenen Donnerstag (20.02.2014) eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt. Das sogenannte "Komitee der 60" soll binnen vier Monaten eine Verfassung ausarbeiten und somit unter anderem Libyens endgültige Staatsform bestimmen.

Da dies angesichts der vielen widersprüchlichen Forderungen im Land nahezu unmöglich ist, hat die derzeitige Staatsführung bereits einen Plan B entworfen nach dem – abgekoppelt von der Verfassungsschreibung – diesen Sommer neue Übergangsbehörden gewählt werden sollen.

Um dem anhaltenden Druck der Öffentlichkeit zu begegnen verlieh Kongresspräsident Nuri Busahmain seiner Kompromissbereitschaft Nachdruck und versprach in seiner Rede zum Revolutionstag, Neuwahlen würden "sobald wie möglich stattfinden".

Kritiker halten dies jedoch für nicht konkret genug; sie befürchten eine Fortsetzung der Krise und eine Einmischung in die Verfassungsschreibung durch politische Kräfte zur Verankerung ihrer jeweiligen Interessen. Liberalenführer Meligta behauptet, die Islamisten hätten bereits einen fertigen Verfassungstext in der Schublade, den sie der Versammlung aufzwingen wollten.

Die geringe Wahlbeteiligung – 12 Prozent der Wahlberechtigten verglichen mit über 50 Prozent bei der Parlamentswahl 2012 – spiegelt die Frustration und die trotz der langen Wartezeit unzureichende Vorbereitung der Wähler wider. "Ich glaube nicht, dass ich genug Stimmen bekomme", meint etwa Asma Al-Usta, Kandidatin für den Wahlbezirk 10 in Tripolis. "Ohne staatliche Unterstützung konnte ich keine angemessene Wahlkampagne führen. Die meisten Wähler wissen nicht, wem sie ihre Stimme geben sollen."

Valerie Stocker

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de