Liebe mit Verfallsdatum

Dorit Rabinyan schildert in ihrem Bestseller "Wir sehen uns am Meer" eine traurig-schöne Liebesgeschichte zwischen einer israelischen Übersetzerin und einem palästinensischen Maler in New York, die letztlich am scheinbar unlösbaren Nahostkonflikt scheitert. Von Volker Kaminski

Von Volker Kaminski

Näher als Liat und Chilmi können sich zwei liebende Menschen schwerlich kommen. Die junge Übersetzerin aus Tel Aviv, die für ein Stipendium in die USA gereist ist, und der ehrgeizige junge Maler aus Ramallah, der gerade an einer neuen Bilderserie arbeitet, erleben in New York eine geradezu perfekte 'Lovestory'. Nachdem sie sich zufällig kennengelernt haben, scheinen sie wie geschaffen füreinander, sie empfinden von Anfang an eine unwiderstehliche Anziehung. Und auch nachdem der erste erotische Rausch verflogen ist, bleiben sie unzertrennlich.

Gleich bei ihrem ersten Spaziergang durch Manhattan werden so viele symbolische Hinweise gegeben, dass wir Leser keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer kommenden Beziehung haben. Der Palästinenser Chilmi äußert die optimistische Hoffnung, dass Araber und Juden in absehbarer Zukunft das Meer und den Strand miteinander teilen könnten, und das Wort "gemeinsam" wird in ihrer Plauderei zu einer wiederkehrenden Chiffre.

Auch dass er just an diesem Nachmittag seinen Wohnungsschlüssel verloren hat, macht auf einer metaphorischen Ebene das über ihnen schwebende politische Unheil deutlich. Liat, robuster und realistischer als der verträumte Chilmi, rät ihm klugerweise den Schlüsseldienst zu rufen, und so gelangen sie umso schneller in sein Apartment, wo ihre leidenschaftliche Liebesgeschichte ungehindert ihren Lauf nimmt.

Glücklicherweise sieht die Autorin im weiteren Romanverlauf von allzu deutlicher Symbolik ab. Die kalte Rahmung, die das Liebespaar einschnürt, der ungelöste Konflikt zweier verfeindeter Völker, der in ihren Hinterköpfen nie ganz verschwindet, verleiht dem Text eine grundsätzliche Erdschwere, auch wenn sich das Liebespaar den heraufziehenden Zukunftssorgen immer wieder erfolgreich entzieht.

Das nahende Ende

Dorit Rabinyans Roman "Wir sehen uns am Meer" im Verlag Kiepenheuer & Witsch
Romeo-und-Julia-Story der Gegenwart: Dorit Rabinyans Roman „Wir sehen uns am Meer“ wurde ein weltweiter Bestseller und hat bei den israelischen Behörden Anstoß erregt.

Liat wünscht sich, die sie heimlich quälende Angst einfach löschen zu können wie die gespeicherten Anrufe auf ihrem Handy. Doch sie blickt realistischer in die Zukunft als ihr sorgloser Freund. Sie weiß von Anfang an, dass sie sich niemals gegen ihre israelische Familie in Tel Aviv stellen und sie durch eine Beziehung mit einem Palästinenser verprellen könnte.

Anders als Chilmi, der sich nicht zufällig an einer Bilderserie mit dem Titel "Traumkind" abarbeitet, ist ihr klar, dass ihr gemeinsames Glück ein unverrückbares, nahes "Verfallsdatum" besitzt: das Ende ihres New York-Aufenthalts nach sechs Monaten und ihre Rückkehr nach Israel.

Wie um das zu Grunde liegende Romeo-und-Julia-Motiv noch zu unterstreichen, verlegt die Autorin ihre Geschichte in die Zeit zwischen 9/11 und den Beginn des Kriegs gegen Saddam Hussein 2003.

Es ist die Zeit, als in New York unerwartet FBI-Agenten an der Wohnungstür klingeln, um diffusen Verdachtsmomenten nachzugehen, in denen auch entfernt arabisch aussehenden Menschen minutiöse Fragen nach Arbeit, Beruf und Aufenthalt in den Vereinigten Staaten gestellt werden. Genauso ergeht es Liat zu Beginn des Romans, als zwei unfreundliche Polizeibeamte sie mit einer häuslichen Befragung erschrecken.

Zwar werden die konkreten politischen Verhältnisse nach 9/11 im israelisch-palästinensischen Konflikt nicht direkt sichtbar und die Zweite Intifada sowie der Bau der israelischen Grenzzäune im Westjordanland werden nur am Rande gestreift, doch der harte Schnitt aus den weichen Bildern eines Liebesromans ins hochgesicherte Grenzgebiet mit den langwierigen Kontrollen und Straßensperren verleiht dem Roman eine scharfe Wendung und reißt den Leser abrupt aus der Liebesgeschichte.

Ungewöhnliche Liebesgeschichte im politischen Großkonflikt

Rückblickend aus ihrer Heimat betrachtet erscheint Liat ihre Zeit mit Chilmi in New York wie ein unwirklicher Traum. Selbst ihre vielen Streitgespräche und Krisen, die sie mit ihm durchleidet, ihre Angst, dass ihr Verhältnis mit dem palästinensischen Künstler auffliegen könnte, erscheinen unbedeutend - gemessen an der brutalen Wirklichkeit des politischen Status Quo.

Ein Video, aufgenommen auf dem Balkon eines Freundes in Ramallah, das einen weiten Schwenk über das „Wadi“ hinein in die Landschaft macht, erschüttert Liat, als sie es bei Chilmi sieht. Am Horizont jenseits des Westjordanlandes sieht sie die kalt wirkenden Hochhäuser und Betonklötze Tel Avivs aufragen, die ihr in diesem Moment fast bedrohlich erscheinen. Dass die israelischen Behörden den Roman für Schulzwecke als ungeeignet eingestuft haben, hat sicher mit diesen israelkritischen Passagen zu tun, die jedoch für nicht betroffene Leser wenig anstößig oder gar politisch unkorrekt wirken.

Dass ausgerechnet die Indizierung des Romans in Israel der Verbreitung des Werks genützt hat (er wurde in über 18 Sprachen weltweit übersetzt) ist Rabinyan zu gönnen, der es meisterlich gelingt, ihre ungewöhnliche Liebesgeschichte in einen politischen Großkonflikt zu verorten und dabei sowohl der emotionalen Ebene wie der rauen Realität gerecht zu werden. Ein Lesegenuss, bei dem das "Brandmal der Liebe" noch lange nachwirkt.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2017

Dorit Rabinyan: "Wir sehen uns am Meer", Roman aus dem Hebräischen von Helene Seidler, Verlag Kiepenheuer & Witsch 2016, 384 Seiten, ISBN: 978-3-462-04861-2