"Maghrebiner sind immer im Exil"

Seit fast zwanzig Jahren publiziert Donata Kinzelbach Literatur maghrebinischer Autorinnen und Autoren. Ester Kraus führte für die Zeitschrift 'Zeichen & Wunder' ein Interview mit der Herausgeberin.

Einleitend möchte ich Ihnen zwei Fragen stellen, die eigentlich zusammengehören. Zum einen natürlich, wieso Sie gerade Literatur aus dem Maghreb verlegen, zum anderen, worin Sie die spezifischen Eigenschaften dieser Literatur, auch im Vergleich zur europäischen bzw. zur deutschen Literatur sehen?

Donata Kinzelbach, Foto privat
Donata Kinzelbach

​​Donata Kinzelbach: Die Literatur des Maghreb ist, ganz allgemein, reichhaltig und äußerst facettenreich; die Autoren sind Wanderer zwischen unterschiedlichen Kulturen und Welten, was sich auf spannende Art und Weise in den Texten ausdrückt. Immer wiederkehrende Themen, neben quasi allgemeinmenschlichen Belangen wie z.B. der Liebe, sind die eigene Identität, sowohl die individuelle als auch die übergreifend kulturelle; das eigene Sein und die Sinnsuche; und daneben natürlich die Problematik des Exils sowie die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit.

Die Idee, maghrebinische Literatur in deutschen Übersetzungen zu verlegen, bekam ich weder über die arabische Sprache noch über Reisen in den Maghreb – es war eine rein literarische Faszination, ein Interesse an Texten wie Aïcha Lemsins Roman Die Entpuppung, ein Kultbuch der Frauenemanzipation, Abdelhak Serhanes Messaouda und insbesondere den in französischer Sprache erhältlichen Werken Rachid Boudjedras. Daneben las ich die in den 60er Jahren erschienenen deutschen Übersetzungen algerischer Autoren wie Tahar Djaout, Boudjedra und Mohammed Dib des Verlags „Volk und Welt“.

Die besondere Faszination, die für mich von der maghrebinischen Literatur ausgeht, besteht in ihrer Andersartigkeit zur deutschen Gegenwartsliteratur, die sich zu oft in abstrakt formalistischen Spielereien verliert. Die Autoren des Maghreb haben etwas Bleibendes und Substantielles mitzuteilen, etwas, was den Leser im tiefsten berührt, dabei oft aufwühlt und sogar schockiert. Diese Literatur präsentiert sich gerade für den westlichen Leser als eine alles andere als eingängige, glatte Lektüre. Vielleicht ist dies auch eine rein subjektive, persönliche Vorliebe, aber in der Literatur des Maghreb werden noch Geschichten erzählt – Geschichten, die, wie gesagt, oft düster und anstrengend sind und eine Herausforderung an den Leser darstellen. Diese Literatur bringt in mir eine Saite zum Schwingen, weshalb ich mich dazu entschloß, Autoren des Maghreb zu veröffentlichen – heute leite ich den im deutschsprachigen Raum einzigen auf maghrebinische Literatur spezialisierten Verlag.

Ich möchte gern einen Aspekt, den Sie eben kurz angesprochen haben, noch etwas vertiefen, nämlich die Frage, worin die thematischen Besonderheiten dieser Literatur bestehen. Was zeichnet diese Literatur aus?

Kinzelbach: Immer wiederkehrende, ja sogar dominante Themen in den Werken der meisten Autoren sind die Kolonialisierung und, daraus resultierend, die Probleme des Exils und der Sprache. Aus der Zeit der französischen Besatzung resultiert das Gefühl, als Angehöriger einer minderwertigen Kultur permanent unterdrückt und ausgebeutet zu werden. Insofern kann man ohne Übertreibung die maghrebinische Literatur als eine therapeutische Kunst bezeichnen, in der die Verarbeitung sozialer, politischer sowie individueller Traumata erfolgt. In Driss Chraibis Roman Les Boucs z.B. werden die in Frankreich lebenden maghrebinischen Emigranten als Außenseiter und, wie ja der Titel suggeriert, Sündenböcke des gesellschaftlichen Establishments dargestellt. Daß sich an den unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Emigranten im Lauf der Zeit kaum etwas zum besseren geändert hat, zeigt drastisch die Aussage Chraibis zehn Jahre nach Erscheinen des Romans, daß er ihn heute noch zorniger schreiben würde. Der Roman Ich, Mireille von Fadéla Sebti Verlag Donata Kinzelbach
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wiederum zeigt in den Monologen der französischen Ich-Erzählerin die in der ehemaligen Kolonialmacht verbreiteten Vorurteile gegenüber der arabischen Gesellschaft – eine Art der Verachtung und Arroganz, die von den Betroffenen häufig so erfahren wird, daß sie sich nicht als Individuen fühlen, sondern vielmehr als austauschbar und wertlos. Insbesondere in Algerien läßt sich eine gewissermaßen schizoide Haltung diagnostizieren. Trotz der staatlich verordneten und z.T. rigoros durchgeführten Arabisierung gilt auch heute noch die französische Sprache und Kultur als das Höherwertige – mit einem französischen Diplom läßt sich leichter Arbeit finden als mit dem arabischen Pendant. Jedoch wird Frankreich auf gewisse Weise auch benutzt: so wird die Möglichkeit, als Gastarbeiter genug Geld zu verdienen, um sich dann in der Heimat eine unabhängige Existenz aufzubauen, durchaus geschätzt. Immer wieder tauchen auch Protagonisten auf, die durch die Heirat mit einer „roumi“ Heldenstatus erlangen, da sie dem Kolonialherren quasi die Frau ausspannen. Ein Problem sozusagen interkultureller Übersetzung besteht in der spezifischen Beurteilung der Metropole Paris in den Werken maghrebinischer Autoren; als Beispiel will ich nur Boudjedras Roman Topographie von 1972 nennen, in dem Paris als moralisch verworfener, dekadenter, zynischer Moloch erfahren wird.

Lassen sich neben diesen thematischen Besonderheiten denn auch spezifische Formen und Stile erkennen? Eine Möglichkeit wäre ja z.B., daß traditionelle Formen der europäischen Literatur aufgegriffen und zitiert, damit aber auch ironisiert und sogar subvertiert werden.

Kinzelbach: Der Roman ist als Erzählform trotz der epischen Traditionen des Arabischen eine spezifisch europäische literarische Form, die mit den eigenen kulturellen Traditionen kontaminiert und zu einem hybriden, für westliche Leser ungewohnten Gebilde zusammengefügt wird. Dabei spielen orale Erzähltraditionen eine wichtige Rolle – tatsächlich muß man sich den Text oft so vorstellen, als ob er von einem Geschichtenerzähler auf einem Marktplatz vorgetragen würde. Mit dieser Oralität fließen nicht selten lyrische Elemente in die Texte ein, die den narrativen, auf ein logisches Ziel gerichteten Textfluß unterbrechen, den „roten Faden“, wie wir ihn aus unserer Literatur gewohnt sind, quasi durchschneiden. Hier lassen sich z.B. Mohammed Magani, als Vertreter der zeitgenössischen Literatur, und besonders Kateb Yacine nennen; in Yacines Sternenvieleck vermischen sich die unterschiedlichsten Stile und Gattungen zu einem gewissermaßen formlosen Gebilde, dem erst der Leser während der Lektüre Form verleiht. Daher verlangt der maghrebinische Roman einen aktiven, partizipierenden Leser. Die Sprache, im Gegensatz zur verwirrenden Komplexität der Form, ist meist sehr schlicht und einfach; oft fließen umgangssprachliche Wendungen in die Texte ein. Ich denke, daß ein Vergleich mit dem Stil von Märchen legitim ist; es geht darum, ohne Satzakrobatik und im Gegensatz zur postmodernen Designprosa einen substantiellen Inhalt zu vermitteln.

Gibt es bestimmte Schwerpunkte in der Rezeption europäischer Literatur, Autoren, die besonders wichtig sind im Maghreb?

Kinzelbach: Der französischen Literatur wird aus naheliegenden Gründen besondere Beachtung geschenkt. Wichtige Autoren sind Foucault und Barthes, Proust, Claude Simon und Jean Sénac. Daneben lassen sich James Joyce und Faulkner nennen. Eine gewisse Nähe und Verbundenheit, die aus den gleichartigen Erfahrungen von Kolonialismus bzw. Postkolonialismus resultiert, besteht z.B. zu Garcia Marquez, dessen Hundert Jahre Einsamkeit schon im Titel von Boudjedras Kolonialismussatire Die 1001 Jahre der Sehnsucht anklingt. Des weiteren spielen traditionelle arabische Schriften eine große Rolle, unter anderem die Reisebeschreibungen Ibn Battoutas und Ibn Khalduns – insgesamt also ein recht heterogenes Korpus an Texten.

Bisher haben wir ausschließlich von „maghrebinischer Literatur“ gesprochen. Gibt es Differenzen zwischen der Literatur Algeriens, Marokkos und Tunesiens?

Kinzelbach: Ja, die universalisierende Bezeichnung „Maghreb“ ist ebenso problematisch und vereinfachend wie der Begriff „Europa“; es lassen sich durchaus Unterschiede konstatieren. Allgemein sind die algerischen Schriftsteller am produktivsten und auch qualitativ am hochwertigsten. Ihre Texte sind im besten Sinne innovativ, modern, stets offen für neue Themen und unerwartete Arten der Aufbereitung. Zudem sind sie weniger am Publikumsgeschmack orientiert als die Autoren der anderen Länder. Tunesien, auch geographisch ein kleineres Land, ist deutlich weniger literarisch produktiv. Zur Situation in Marokko muß man wissen, daß es sich als erstes von der französischen Herrschaft befreien konnte und daher eine relativ früh einsetzende Orientierung an der arabischen Sprache und Kultur aufweisen kann – wesentlich mehr Literatur wird auf arabisch produziert, die nicht bis zu uns durchdringt. Auch gegenwärtig existiert eine sehr große Zahl an jungen, auf den Markt drängenden Schriftstellern, die sich stark am Publikumsgeschmack orientieren. Einer der bedeutendsten und in Europa bekanntesten Vertreter der marokkanischen Literatur, Tahar Ben Jelloun, ist ein äußerst europäisierter Autor, dessen Herkunft in der westlichen Öffentlichkeit kaum thematisiert wird.

Und nun doch wieder eine generalisierende Frage: Wie ist, grob gesagt, der Stellenwert der Literatur im gesellschaftlichen Leben und welche Funktion kommt ihr zu?

Kinzelbach: Interessanterweise kommt der Literatur ein sehr hoher Stellenwert zu, sie spielt im Leben der zumeist eher ungebildeten und armen Bevölkerung eine wirklich wichtige Rolle. Als nur ein Indiz hierfür kann man die Auflagenzahlen von Lyrikbänden, bei uns in Deutschland bekannterweise verschwindend gering, anführen; eine Auflagenzahl von 50 000 ist durchaus normal. Da im arabischsprachigen Raum Lyrik generell als sehr wertvoll geschätzt wird, verkauft sie sich, salopp gesagt, wie warme Semmeln. Auch das Schaffen sehr vieler Autoren ist bezeichnend – so fangen eigentlich alle Maghrebiner mit Lyrik an, um dann einen wunderbaren, sehr oft autobiographisch gefärbten Roman zu veröffentlichen und anschließend zu verstummen. Beispiele für eine solche Karriere sind Hédi Bouraoui, Bel Amri und Bourboune. Romane sind so oft autobiographisch, ja therapeutisch, weil viele Autoren davon ausgehen, daß man nur ein Leben hat, das erzählt werden kann; insofern überrascht auch das rasche Verstummen nicht.

Algier zeichnet sich durch ein sehr vielfältiges und lebendiges kulturelles Leben aus; es gibt sehr viele Volkstheater und eine sehr bewegte literarische Szene – und das, obwohl seit dem Wahlsieg der Fundamentalisten 1992 und dem seit der Annullierung der Parlamentswahlen andauernden Terror eine inoffizielle Zensur herrscht. In früheren Jahren bis in die 80er waren vor allem Politik und Sexualität thematische Dauerbrenner der Literatur, wobei aufgrund der Zensur nur das passierte, was nicht verstanden wurde. Beispielhaft für diese Art der Zensurunterwanderung ist Boudjedras Beamtenpersiflage Die Hartnäckige Schnecke; derselbe Autor legte mit Sonnenstich einen progressiven Roman über Sexualität vor, für den er 1983 zum Tode verurteilt wurde. Seit den 80er Jahren wird auch und besonders in der Literatur verstärkt der aufkommende Fundamentalismus thematisiert. Daher kann man sagen, daß die maghrebinische Literatur extrem nah am aktuellen politischen Geschehen steht und sogar an Prozessen politischer und sozialer Wandlungen direkt teilnimmt.

Was würden Sie sagen ist das Besondere an Ihren Autoren, wieso haben Sie sich gerade für sie entschieden?

Kinzelbach: Jeder meiner Autoren hat einen besonderen Hintergrund, der jeweils in seine Werke einfließt. Dies kann z.B. die Art des Brotberufes sein, der sich unterschiedlich in den Themen aber auch der Erzählweise widerspiegelt. So ist Albert Memmi ein herausragender, international anerkannter Soziologe, der in Von Süchten und Sehnsüchten sehr subtile und unterhaltsame Analysen zum Thema Abhängigkeit und Dominanz durchführt. Fadéla Sebti, eine marokkanische Anwältin, ist in Ich, Mireille um Ausgleich und Objektitvität bemüht und läßt das Scheitern einer Ehe zwischen einer Französin und einem Marokkaner aus der Perspektive beider Protagonisten berichten. Rachid Boudjedra, Mathematiker und Philosoph, verfährt in seinen Romanen genau, akribisch werden kleinste Details der Wahrnehmung aufgezeichnet; sein Blick ist von fast naturwissenschaftlicher Klarheit. Abdelhak Serhane, der in seiner marokkanischen Heimat als Psychiater arbeitet, liefert in Die Sonne der Finsternis ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die immer noch verbreitete Kinderehe. Eigentlich alle Autoren sind stark politisch engagiert; Mißstände in der eigenen Regierung werden angeprangert, Gesellschaftskritik wird auf oft witzige und unterhaltsame Weise geübt. Von offizieller Seite kontert man mit Zensur, nicht nur in Algerien; in diesem Staat allerdings ist die Lage für engagierte Autoren durch den Fundamentalismus ungleich bedrohlicher. Viele der Autoren leben im Exil, so Boudjedra, Mohamed Magani und Hamid Skif; Rachid Mimouni, der in Deutschland kein Asyl erhielt, trank sich aus Panik und Verzweiflung zu Tode, und Tahar Djaout wurde 1993 von Fundamentalisten ermordet. Die Rede vom engagierten Schriftsteller erhält somit eine wirklich substantielle Bedeutung; Mohammed Dib sagte einmal, daß ein Satz wie eine Kugel sei, die man auf sich selbst abfeuere. Djaout, der als Herausgeber der Zeitschrift „Rupture“ massive Kritik an den Fundamentalisten und deren „Politik“ gegenüber den Intellektuellen übte, äußerte sich zur Situation eines Schriftstellers in Algerien folgendermaßen: „Wenn du schweigst, wirst du umgebracht, wenn du den Mund aufmachst, wirst du umgebracht – also, warum schweigen?“ Daß Schreiben eine Waffe gegen den politischen Feind sein kann, sieht man auch im Fall Malek Haddads, der mit der politischen Unabhängigkeit in den 60er Jahren aufhörte zu schreiben, weil er „seine Mission als erfüllt“ sah.

Mehrmals haben Sie bereits auf die koloniale Vergangenheit und deren Rolle für die Literatur verwiesen. In der Interkulturalitäts- und Postkolonialismusforschung gibt es den Begriff der Hybridität als Beschreibung der Situation von Menschen, die sich gezwungenermaßen zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachräumen bewegen. Inwiefern läßt sich dieser Begriff auf maghrebinische Autoren anwenden? Und wie muß man die Bedeutung der Sprache für die Literatur begreifen, da in diesen Ländern Zwei- bzw. Dreisprachigkeit der Normalfall ist?

Kinzelbach: Das Wandern zwischen den Kulturen und Sprachen wird als zutiefst ambivalentes Phänomen erfahren. Zum einen stellt es eine Bereicherung dar, zum anderen macht sich mit den vielen Heimaten das Gefühl einer eigentlichen Heimatlosigkeit, wenn man will des Exils sogar im Geburtsland manifest. Einerseits ist man offener für Neues, da man um die Relativität des eigenen kulturellen Horizontes weiß, andererseits fehlt eine bodenständige Verwurzelung. Das Getriebensein drückt sich in großer Unrast aus, in vielen Reisen, die das Gefühl der Nichtzugehörigkeit nicht mildern. Hinzu treten kulturelle Unterschiede, die die zwischen Frankreich und dem maghrebinischen Heimatland pendelnden Menschen letztlich zerfasern, sich in Rollenspielen aufreiben lassen; die eigene Identität als Subjekt wird insofern problematisch, als sie in ein Amalgam von verschiedenen Rollen, die zu verschiedenen Plätzen und Lebensorten passen, mündet. Eine ähnliche Zerfaserung und Aufsplitterung läßt sich auch beim Umgang mit der Sprache beobachten: Die jeweils benutzte Sprache entscheidet sowohl über Inhalt als auch Form des sprachlich Ausgedrückten; sie gibt eine Hülle vor, die bestimmte Dinge vorschreibt und der man sich einpaßt. So übersetzt Boudjedra seine frühen auf französisch geschriebenen Bücher selbst ins Arabische und ändert dabei nicht selten den Wortlaut, weil er im Arabischen einen Gedanken anders verfolgt als im Französischen.

In Marokko und in Tunesien finden sich sowohl Verleger als auch Leser, die überwiegend an der arabischen Sprache orientiert sind, wohingegen es in Algerien so gut wie keine arabischen Verlage gibt. Daher sind die Autoren immer noch gezwungen, auf französisch zu schreiben – die Entscheidung für eine Sprache resultiert also aus dem Zwang des Marktes und den kultur-imperialistischen Interessen der Verleger. In Frankreich mit seiner sehr lebendigen Migrantenkultur existiert die sog. Beurs-Literatur, die Literatur der zweiten Einwanderergeneration. Einerseits drückt sich eine immer noch verbreitete rassistische Grundeinstellung gegenüber den Migranten in ihrer Einschätzung als billige Arbeitskräfte aus, denen man mit der Kolonisierung sogar etwas Gutes getan habe; andererseits besteht eben aufgrund der Tatsache, daß der Maghreb ehemalige französische Kolonie ist, ein stärkeres Interesse an dieser Literatur. Ein dominierendes Thema der Beurs-Literatur ist die interkulturelle Problematik aus der Perspektive von Mischehen.

Doch nicht nur Frankreich, auch der Maghreb selbst produziert seine eigenen Außenseiter und Ghettos. So stellen die Berber in Algerien eine „Minderheit“ von 35% dar; ihre Sprache und Kultur werden nach Jahren einer aggressiven Arabisierungspolitik von offizieller Seite immer noch nicht anerkannt – obwohl das Berberische seit 1995 als Schulsprache zugelassen ist, gibt es keine Schulbücher in dieser Sprache...

Inwiefern werden Kultur und Tradition, also auch bestimmte religiöse Bräuche, in der Literatur thematisiert? Wird über das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen reflektiert?

Kinzelbach: Da unterscheidet sich der Großteil der Literatur kaum von unserer: bestimmte Sitten, Bräuche und Traditionen der islamischen Kultur werden thematisiert, aber eher im Hintergrund – als Bestandteile des alltäglichen Lebens finden sie zwar Eingang in die Literatur, aber auf eine beiläufige Weise. Persifliert werden dagegen oft Kultur und religiöse Ansichten des Kolonialherren, wie z.B. in Chraibis Sündenböcken. In autobiographischen Erzählungen Albert Memmis, Angehöriger der jüdischen Minderheit Tunesiens, wird das Judentum des Protagonisten besonders akzentuiert. Die Salzsäule behandelt explizit die Ghettoisierung der jüdischen Minderheit und den tunesischen Antisemitismus; insofern werden die kulturellen Unterschiede zwischen Judentum und Islam betont, als Juden in der tunesischen Gesellschaft eben das Fremde, bewußt ausgegrenzte Andere sind.

Der islamische Fundamentalismus ist ja spätestens mit dem Fall Salman Rushdie auch ein Thema in den westlichen Medien geworden. Wie stellt sich das Problem in bezug auf Ihre Autoren, die ja ebenfalls vom Tod bedroht sind oder, wie Tahar Djaout, Attentaten zum Opfer gefallen sind?

Kinzelbach: Ob dies auf letztlich rassistische Motive zurückzuführen ist oder nicht, es scheint auf jeden Fall, als ob Maghrebiner in der westlichen Welt und speziell in Deutschland keine Lobby besitzen. Rushdie als Engländer indischer Abstammung ist seit seiner Verurteilung zum Tod permanent in den Medien präsent, wohingegen z.B. Rachid Boudjedra, den dasselbe Schicksal vor mittlerweile beinah zwanzig Jahren ereilte und der seitdem an wechselnden Wohnorten auf der Flucht lebt, so gut wie keine Beachtung im Bewußtsein der Öffentlichkeit findet. Deshalb habe ich 1998 den Tatort: Algerien herausgegeben als Zeichen der Solidarität mit den mutigen Schriftstellern und allen Demokraten Algeriens.

Gibt es einen interkulturellen Austausch zwischen europäischen und maghrebinischen Autoren und wenn ja, in welcher Form findet dieser statt? Wie ist z.B. die Situation für Übersetzungen aus den jeweilig anderen Literaturen?

Kinzelbach: Auf maghrebinischer Seite sind eigentlich alle bedeutenden deutschen und französischen Autoren in Übersetzungen vorhanden, das Erscheinen von Gegenwartsliteratur erfolgt meist mit einer gewissen Verzögerung. Es gibt durchaus Kontakte zwischen Autoren aus unterschiedlichen Herkunftsländern, sei es über den PEN-Club oder über internationale Kongresse wie die „Frauenfelder Lyriktage“, bei denen alle bedeutenden Lyriker der Gegenwart vertreten waren. Nicht zu unterschätzen ist auch die Arbeit der Literaturhäuser. Allerdings kann man sich fragen, wieweit diese interkulturelle Arbeit zu tatsächlichem gegenseitigen Verständnis und Annäherung beiträgt. Von deutscher Seite aus erfolgt eine bestenfalls zögernde Annäherung an den Maghreb, was sich vielleicht dadurch erklären läßt, daß er exotistische Vorstellungen, Klischeebilder vom „Orient“ zu wenig bedient, zu wenig fremd ist, um Interessantes bieten zu können. Doch auch auf maghrebinischer Seite resultiert eine konfliktbeladene Haltung gegenüber dem Westen aus dem eigenen übersteigerten Wunschdenken und einer zu großen Erwartungshaltung.

Sie haben eben davon gesprochen, daß für die deutschen Leser der Maghreb zu wenig fremd sei. Wie ist denn die Rezeptionssituation in Deutschland, verglichen mit anderen europäischen Ländern und insbesondere natürlich Frankreich?

Kinzelbach: Verglichen mit dem europäischen Ausland ist die deutsche Rezeptionssituation für maghrebinische Literatur in der Tat schlecht. In Frankreich wird erwartungsgemäß besonders die frankophone maghrebinische Literatur zur Kenntnis genommen; die Rezeption arabophoner Texte erfolgt ungleich schlechter. Ein deutliches Beispiel für einen mit der und über die Sprache transportierten Kulturimperialismus bietet das Kindler Literatur Lexikon, das Boudjedras Die 1001 Jahre der Sehnsucht unter seinem französischen Titel (Les Mille et Une Années de la Nostalgie) aufführt, obwohl es zuerst auf arabisch erschien. Vorrangig werden frankophone Texte übersetzt, die Vermittlung arabophoner Werke ist ungleich schwieriger, was allerdings auch in den völlig unterschiedlichen Sprachstrukturen begründet ist: es ist sehr schwierig, bestimmte Sprachspiele zu übersetzen, ebenso wie die eher interkulturell zu nennende Übersetzung von symbolträchtigen Orten wie z.B. Mekka und den damit verbundenen religiösen Konnotationen oder dem letzten Tag des Ramadan, dessen Dimensionen als bedeutendes Volksfest hier kaum bekannt sind.

Interview Ester Kraus

Das Interview wurde leicht gekürtzt. Die vollständige Fassung können Sie nachlesen in: Zeichen & Wunder, Zeitschrift für Kulturaustausch Nr. 42, Oktober 2002.

Donata Kinzelbach studierte Komparatistik, Philosophie, Anglistik und Amerikanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1986 gründete sie ihren „Verlag Donata Kinzelbach“, den einzigen auf maghrebinische Literatur spezialisierten Verlag Deutschlands. Außerdem arbeitet sie als freie Journalistin über den Maghreb und engagiert sich vielfältig für die Literatur und Kultur dieses Gebiets.