Die islamischen Rechtsgelehrten in der Kritik

Welche Rolle spielen die islamischen Rechtsgelehrten angesichts des Terrorismus, bei dem im Namen des Islam Anschläge gegen Unschuldige verübt werden? Darüber diskutierten Doktor Taha Abu Krisha, Prorektor der Azhar-Universität in Kairo, Doktor Muhammad Shahrour, islamischer Denker aus Damaskus, und Doktor al-Hadi al-Sabah, Imam der Moschee in Passau. Die Diskussion leitete Ahmad Hissou.

Welche Rolle spielen die islamischen Rechtsgelehrten angesichts des Terrorismus, bei dem im Namen des Islam Anschläge gegen Unschuldige verübt werden? Haben sie sich eindeutig dagegen geäußert oder kann man ihnen Nachlässigkeit vorwerfen? Hängt der Terrorismus im Namen des Islam mit der Glaubenslehre des Islam zusammen oder muss der Islam reformiert werden? Darüber diskutierten Doktor Taha Abu Krisha, Prorektor der Azhar-Universität in Kairo, Doktor Muhammad Shahrour, islamischer Denker aus Damaskus, und Doktor al-Hadi al-Sabah, Imam der Moschee in Passau. Die Diskussion leitete Ahmad Hissou.

Doktor Abu Krisha, haben Sie sich als Rechtsgelehrte darauf beschränkt, die Terroranschläge zu verurteilen?

Taha Abu Krisha: Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen. Wir möchten darauf hinweisen, dass die Rolle der Rechtsgelehrten der der Propheten gleichkommt. Der Prophet sagte: "Die Rechtsgelehrten sind die Erben der Propheten." Die Propheten haben keinen Dinar und keinen Dirham vererbt, sondern das Wissen. Die Rechtsgelehrten haben also die dauerhafte Aufgabe, immer und überall den Islam zu verbreiten, und der islamische Aufruf beruht auf der Warnung und Missionierung. Diese aufklärerische, erzieherische und richtungweisende Aufgabe ist die eigentliche Aufgabe der Rechtsgelehrten.

Wenn Ihre Frage bedeutet, haben sich die Rechtsgelehrten darauf beschränkt, die Anschläge zu verurteilen, dann frage ich, was haben die Rechtsgelehrten denn außerdem in der Hand? Haben sie Waffen? Können sie denjenigen, die sich außerhalb des Islam stellen, mit Waffen drohen und ihnen damit Einhalt gebieten und ihnen eine angemessene Strafe aufbürden? Wir dürfen den Rechtsgelehrten nicht mehr Verantwortung auferlegen, als von ihnen gefordert ist.

Wenn die Rechtsgelehrten den Standpunkt des Islam zum Terror und zu den Taten der Terroristen darlegen und sagen, dass das nicht islamisch ist, dass es Sache der Verantwortlichen ist, etwas zu tun und Gottes Wort umzusetzen, das besagt: "Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und im Land eifrig auf Unheil bedacht sind, soll darin bestehen, dass sie umgebracht oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen wechselweise Hand und Fuß abgehauen wird, oder dass sie des Landes verwiesen werden. Das kommt ihnen als Schande im Diesseits zu. Und im Jenseits haben sie eine gewaltige Strafe zu erwarten." (A.d.Ü.: Koran 5,33; Übersetzung nach Paret)..., wenn die Rechtsgelehrten überall diesen Urteilsspruch aufgrund der Scharia darlegen, so ist das in erster Linie ihre Pflicht und das, was ihnen möglich ist. Etwas anderes können sie nicht tun (...).

Doktor Shahrur, wie bewerten Sie die Rolle der islamischen Rechtsgelehrten bezüglich des Phänomens des Terrorismus?

Muhammad Shahrour: Ich glaube, dass sie immer noch eine negative Rolle spielen, denn bis jetzt sehe ich keinen der gemäßigten muslimischen Rechtsgelehrten, der mit einem der Anhänger Usama Bin Ladens im Fernsehen diskutiert hätte und ihm Beweise aus der Scharia vorgelegt hätte. Ich habe das bis jetzt nicht gesehen, obwohl das doch ein Leichtes wäre. Diskustieren Sie doch mit ihnen.

Es gibt derzeit ein Problem in der islamischen Welt, nämlich das Problem von "Wala' und Bara'". (A.d.Ü.: wala' ist die Pflicht jedes Muslims, die Muslime zu unterstützen und bara' ist die Pflicht jedes Muslims, keinen Kontakt zu Nichtmuslimen zu pflegen, besonders im Kriegsfall.) Dieses müssen die islamischen Rechtsgelehrten neu überdenken. Diejenigen, die die Anschläge in England verübten, waren Engländer, die in England geboren worden waren. Das bedeutet aber, dass ihre Loyalität nicht Großbritannien galt. Und unter denjenigen, die die Anschläge von Scharm al-Scheich verübten, waren auch Ägypter, aber ihre Loyalität galt nicht Ägypten.

Al-Qaida benutzt das Konzept von "Wala' und Bara'", um neue Reihen zu formieren. Und ich glaube, dass sie immer mehr junge Leute mit diesem Konzept mobilisieren. Es gibt eine Schizophrenie der Loyalität. Das müssen die Rechtsgelehrten klären. Es gibt nämlich zwei Loyalitäten, entweder gegenüber Großbritannien oder gegenüber der Religion, entweder gegenüber Großbritannien oder gegenüber Mekka, entweder gegenüber Großbritannien oder gegenüber Bin Laden. Man ist Engländer und gleichzeitig Muslim. Das Problem betrifft die islamische Gemeinden in Europa und in Amerika, aber auch die Muslime überall.

Was sollten die Rechtsgelehrten Ihrer Meinung nach tun?

Shahrour: Es gibt eine Schizophrenie, die die Rechtsgelehrten auflösen und auf die sie öffentlich hinweisen müssen. Diejenigen, die die Anschläge in England verübten, leiden unter einer Schizophrenie ihrer Loyalität, sie sind Engländer, und sie töteten Engländer.

Doktor Abu Krisha sagt, dass die Rechtsgelehrten nur das Wort als Waffe haben, und diese Waffe hätten sie benutzt.

Shahrour: Ich kann bis jetzt kein neues Konzept zum Problem "Wala' und Bara'" erkennen, das von al-Qaida und den Terroristen benutzt wird. Dieses Konzept gehört zu den Konzepten der islamischen Jurisprudenz, die vor Jahrhunderten niedergeschrieben wurden, als die islamische Gesetzeswissenschaft entstand und so berühmte Vorstellungen wie "Haus des Denkens und Haus des Islam", "Haus des Islam und Haus des Krieges" (…) und auch "Wala' und Bara'" entwickelt wurden. Diese Begriffe kommen aus einer Zeit, als es eine absolute Harmonie gab zwischen der Loyalität gegenüber der Religion und der Loyalität gegenüber dem Staat. Heute gibt es diese Harmonie nicht mehr, und genau das nutzt al-Qaida aus.

Doktor al-Sabah, der Terrorismus ist erneut nach Europa gekommen, und das Rohmaterial für diesen Terrorismus sind die Muslime, die in Europa leben, bzw. europäische Bürger. Es gibt Kritik, dass Sie als Rechtsgelehrte und Imame besonders in Deutschland, England und Frankreich, diese jungen Menschen aufwiegeln würden, terroristische Akte zu begehen, in Europa und im Irak. Was sagen Sie als Imam und Rechtsgelehrter dazu?

Al-Hadi al-Sabah: Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen. Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass das Phänomen des Terrorismus ein krankes und höchst komplexes Phänomen ist. Einerseits sehen wir, dass viele, die im Namen des Islam sprechen und als islamische Rechtsgelehrte bezeichnet werden, meiner Meinung nach ein eingehendes Studium des Islam nötig haben. Denn eine Analyse eines solchen sehr komplizierten und gefährlichen Phänomens benötigt viele verschiedene Experten unter den Rechtsgelehrten, sei es im Bereich Jurisprudenz oder in den Bereichen Soziologie, Politologie oder Psychologie. Wer sich irgendwo auf der Welt selbst in die Luft sprengt und Unschuldige tötet, ist krank und braucht deshalb eine psychologische Behandlung, damit er sich darüber bewusst wird, dass dieses Verhalten abweichend ist und in keiner Religion eine Grundlage hat.

Aber ich möchte auch darauf hinweisen, dass man das Problem nicht zu leicht nehmen soll. Wenn Doktor Abu Krisha zum Beispiel sagt, dass die Rechtsgelehrten sich ausreichend geäußert hätten, dann sage ich: Nein, die Rechtsgelehrten haben sich nicht genügend geäußert, von ihnen wird erwartet, dass sie zu bestimmten Dingen etwas sagen.

Wenn wir zum Beispiel sehen, dass das Phänomen des Terrorismus an verschiedenen Orten auftaucht und Unschuldige getötet werden, seien es Muslime oder Christen - und es ist natürlich nicht erlaubt, sie zu töten - dann hören wir von verschiedenen Seiten Kritik oder Belehrungen, aber sie kommen zu spät.

Das Volk muss aufgeklärt werden, ja, ganze Generationen und Gesellschaften müssen aufgeklärt werden, damit so etwas nicht passiert. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Aufklärung und die Rolle der Rechtsgelehrten sich nicht auf das Wort beschränken, auch wenn es eine Pflicht ist, das Wort zu erheben.

Was haben sie außer dem Wort?

Al-Sabah: Es reicht nicht, dass wir einen Rechtsgelehrten aus Kairo, Damaskus, Rabat bringen, um den Leuten zu sagen, dass das Töten von Unschuldigen verboten ist. Das wissen alle Menschen von Natur aus. Was sie brauchen, ist eine Anleitung, eine Aufklärung und Erklärung für all die tatsächlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, damit sie in der Lage sind, den rechten Weg zu gehen.

Doktor Abu Krisha, was sagen Sie zu dem, was die beiden Kollegen erwähnt haben?

Taha Abu Krisha: Ich möchte betonen, dass, als das Phänomen des Terrorismus Ende letzten Jahrhunderts bei uns in Ägypten auftauche, die Rechtsgelehrten ihre Aufgabe erfüllt und sich dem Terrorismus entgegen gestellt haben. Sie haben in einer Erklärung Urteile aus der Scharia dargelegt bezüglich aller Auffassungen derjenigen, die behaupten, den Islam zu verteidigen.

Die ehrwürdige Azhar veröffentlichte zwei große Bände mit dem Titel "Dies ist eine Erklärung für die Menschen", in denen all die zur Diskussion stehenden Dinge und die Meinungen der Azhar aufgeführt sind, seien es Dinge der Glaubenslehre oder der Politik oder Probleme der Regierung. Unsere Brüder in den islamischen Zentren auf der ganzen Welt können diese beiden Bände von der Azhar anfordern.

Wenn es so ist, wie Sie sagen, warum gibt es dann so viel Kritik, dass die Rechtsgelehrten sich nur unzureichend den Extremisten entgegen gestellt hätten. Alle sagen dies, und nun hören wir von unseren beiden Gästen diese Anschuldigung ebenfalls.

Abu Krisha: Das ist eine Verallgemeinerung, die die Realität und die Publikationen und Konferenzen nicht berücksichtigt. Vor zwei Jahren und nach dem 11. September veranstaltete die 'Gesellschaft der islamischen Forschung' der Azhar eine weltweite islamische Konferenz unter dem Titel "Das ist der Islam", auf der viel gesprochen wurde über den Unterschied zwischen dem Dschihad, dem Terrorismus und dem Schutz, den der Islam Unschuldigen zuteil werden lässt.

Außerdem hatten wir eine Konferenz, die jedes Jahr vom Hohen Rat für die islamischen Angelegenheiten in der Azhar einberufen wird, auf der man sich auch gegen dieses Phänomen ausgesprochen hat. Wer also über die Nachlässigkeit der Rechtsgelehrten spricht, ist nicht darüber informiert, was sie getan haben. Die Rechtsgelehrten haben mehr gesagt, als sie mussten. (...)

Doktor Shahrour, Sie haben gehört, was Doktor Krisha gesagt hat. Was wird Ihrer Meinung nach von der Azhar noch mehr verlangt?

Muhammad Shahrour: Ich zweifle nicht daran, dass das, was der Prorektor der Azhar-Universität gesagt hat, wirklich stattgefunden hat. Aber ich sage, das ist nicht genug. Denn die Bürger leiden derzeit unter dem Problem der doppelten Loyalität. Die Azhar muss eine Lösung finden für dieses Problem, besonders in Europa. Die herrschende volksislamische Kultur, und ich sage nicht, die islamische Religion, ist eine negative Kultur.

Ein Zehnjähriger zum Beispiel, der in die Moschee geht, hört folgenden Vers: "Die dem Zorn verfallen sind und irregehen". "Die dem Zorn verfallen sind", das sind die Juden, und "die irregehen", das sind die Christen. Dieser Zehnjährige hört das immer wieder. Die Muslime sind nur die Anhänger Muhammads, und das sind zwanzig Prozent der Weltbevölkerung. Die anderen liebt Gott nicht. Religion bedeutet also nur Islam. Diese Kultur stellt den Rohstoff dar für die Organisation von al-Qaida, in Ägypten, in Saudi-Arabien, in Syrien.

Es gibt etwas, das man negativen Diskurs nennt. Es gibt keine Moschee, die Sie zum Beispiel in Damaskus betreten, wo Sie nicht in der Predigt hören: "Mein Gott, mach ihre Kinder zu Waisen und ihre Frauen zu Witwen, mein Gott, nimm sie (von dieser Welt), mein Gott, vergälle ihnen das Leben". Und dies wird in jeder Mosche gesagt, wenn es um die Situation in Afghanistan geht oder in Tschetschenien. Und die Kinder hören diese Worte, immer wieder. Und dann beginnen sie den Anderen abzulehnen. Ich glaube, dass viele Muslime in Europa innerlich den Anderen, den Europäer, ablehnen.

Doktor al-Sabah, Sie leben in Deutschland und wissen, dass die deutschen Medien die Imame hart kritisieren. Vor kurzem wurde einer der Imame nach Ägypten ausgewiesen, weil er zum Dschihad gegen die Ungläubigen aufgerufen und Hass und Feindschaft in der Gesellschaft gesät habe. Was sagen Sie dazu?

Al-Hadi al-Sabah: Das ist alles Realität, aber es trifft natürlich nicht auf alle Imame in Europa zu. Sicher, viele derjenigen, die Imam einer Moschee in einem europäischen Land sind, sind nicht kompetent. Das ist ein großes Problem. Viele kamen aus ihren Ländern, sei es aus Nordafrika oder aus einem anderen arabischen Land, ohne eine richtige islamische Ausbildung genossen zu haben. Das ist ein Problem, dass ich bestätigen kann, weil ich es selbst erlebt habe, sowohl in Frankreich wie in Deutschland.

Wer hat diesen Leuten erlaubt, als Imam zu fungieren? Wir haben diese Erfahrung mit der saudi-arabischen Fahd-Akademie in Bonn gemacht. Es gab den Vorwurf, dass dort die Schüler zu Extremismus aufgewiegelt wurden.

Al-Sabah: Ich lebe seit dreizehn Jahren in Deutschland, und als ich im ersten Jahr meines Aufenthalts zum Freitagsgebet in eine Moschee zum Beispiel in Regensburg ging, kamen Prediger, die noch nicht einmal Abitur hatten, dass heißt, sie hatten noch nicht einmal die Sekundarstufe abgeschlossen und also keine Berechtigung, eine Universität zu besuchen.

Diese stehen dann vor einer Menge von Leuten, um zu predigen und ihnen die Hadithe zu erklären. Und das Problem ist, dass ihre Erklärungen falsch sind, weil sie nicht die wissenschaftlichen Grundlagen kennen. Dieses Problem muss gelöst werden. Ich unterstütze jeden, der sagt, dass derjenige, der auf der Kanzel steht, um die Freitagspredigt zu halten, kompetent sein muss und Qualifikationen von anerkannten arabischen oder europäischen Universitäten vorweisen muss. Er kann nicht einfach daherkommen und über die Religion und den Koran, die Wissenschaften, die Hadithe und ihre Interpretationen reden.

Es gibt noch einen anderen Punkt, auf den Herr Doktor Shahrour in Damaskus hingewiesen hat: unser Verständnis vom Islam. Ich, als jemand, der Islamisches Recht in Casablanca studiert hat, behaupte, dass wir auf akademischer Ebene viele Probleme und Lücken und ein falsches Verständnis über den Islam haben. Wie Sie gerade gehört haben, dass in Damaskus die Kinder nur Gebete gegen die Christen zu hören bekommen. Das hat aber nichts mit dem Geist und der Toleranz des Islam zu tun. Das ist eher eine Konsequenz der Jahrhunderte des Niedergangs, den die Muslime nach dem 14. und 15. Jahrhundert erlebt haben. Insbesondere im syrischen Raum blieben die Einflüsse der Kreuzzüge spürbar (...) Aber jemand, der studiert hat und neutral ist und sich mit dem Islam beschäftigt hat, stellt fest, dass der Islam zu Barmherzigkeit für alle aufruft. (...)

Doktor al-Sabah, die Hamburger Zelle hat ihre Aktivitäten aber in Deutschland begonnen. Sie haben meine Frage nicht beantwortet.

Al-Sabah: Deshalb habe ich zu Beginn gesagt, dass das Phänomen des Terrorismus ein negatives und komplexes Phänomen ist. Die Rechtsgelehrten allein können dieses Problem nicht lösen. Es ist ein politisches und kein religiöses Problem.

Doktor Abu Krisha, die beiden Gäste sagten, dass die Rechtsgelehrten nicht genug getan hätten, weil das Problem in den Schulen, in den Moscheen und ganz allgemein mit dem religiösen Diskurs beginnt.

Taha Abu Krisha: Wer sich um die Stabilität einer Gesellschaft sorgt und sie vor anormalen Dingen schützen will, muss die religiöse Unterweisung zu einer festen Grundlage machen, von der ersten Klasse bis zur Universität. Die meisten unserer jungen Leute haben keine solche religiöse Unterweisung genossen.

Man sagt aber, dass das Problem gerade in der religiösen Unterweisung liegt!

Abu Krisha: Das ist eine falsche Anschuldigung derjenigen, die die Religion vollkommen aus der Ausbildung heraushalten wollen. Jene, das sind die Säkularisten, die der Religion keinen Platz einräumen wollen, wenn sie so ein Urteil fällen. Gibt es im Religionsunterricht etwa nichts anderes, als die Menschen zu Feindschaft gegenüber anderen zu erziehen? Das ist eine Verfälschung, die wir von den Leuten vernehmen, die mit Religion absolut nichts zu tun haben. Vielleicht ist es auch mit ein Grund für den Extremismus, das heißt, dass die Terroranschläge als Reaktion auf solche Aussagen verübt wurden.

Doktor Shahrour, Sie sprechen immer über die Reform des religiösen Diskurses und des gemeinsamen Erbes der Jurisprudenz, die in den Schariafakultäten gelehrt werden und aus denen die extremistischen Gruppierungen schöpfen. Aber das ist ein langer Prozess. Wie kann man nun schnelle Lösungen finden?

Muhammad Shahrour: Ich rufe nicht auf zur Reformierung der Curricula, ich rufe auf zur Erneuerung des religiösen Diskurses. Wenn wir das getan haben, werden sich die Curricula von selbst ändern. Aber eine planlose Änderung der Curricula wird nichts bringen.

Aber die Reformierung des religiösen Diskurses dauert Jahrzehnte!

Shahrour: Es gibt Ägypter, die Ägypter töten, und Engländer, die Engländer töten. Und wir wissen, und der Doktor aus Kairo weiß es, dass jeder normale Muslim weiß, dass die Selbsttötung verboten ist. Aber es gibt eine legitime Rechtfertigung für das Töten, und diese Rechtfertigung ist in unserem Erbe vorhanden. Wenn Sie also zum Beispiel den politischen Islam nehmen, finden Sie Morde und Bürgerkriege und Vergiftungen und Gefängnisse und Intrigen. Aber die Glaubensgrundsätz des Islam sind sehr gut und absolut menschlich. Aber wir vermischen Politik und Religion. (...)

Doktor Abu Krisha, Doktor Shahrour fordert eine radikale Reform des islamischen Rechtswesens.

Taha Abu Krisha: Der Islam kennt diese modernen Begriffe nicht wie politischer Islam etc.

Aber es gibt ihn!

Abu Krisha: Das ist vollkommen falsch. Das lässt die Leute glauben, dass die Religion getrennt ist vom Staat, wie es diese Säkularisten wollen. Es gibt keine Religion in der Politik und keine Politik in der Religion. Das Konzept der Religion ist vollkommen und umfasst die Regierung, die religiösen Pflichten, den Umgang miteinander und die Moralvorstellungen. Der Islam ist eine Einheit, die nicht dividiert werden kann.

Doktor, woher haben die Extremisten dann diese Gedanken?

Abu Krisha: Die haben sie aus den Normabweichungen innerhalb der islamischen Gesellschaften.

Doktor al-Sabah, es gab Grund zur Hoffnung, dass die islamischen Gemeinden in Europa den Weg eines gemäßigten Islam einschlagen würden. Nun aber gibt es eine Radikalisierung der muslimischen Jugendlichen in Europa. Was denken Sie als Imam darüber?

Al-Hadi al-Sabah: Es gibt bis jetzt keine genaue wissenschaftliche Statistik – soweit ich weiß -, die bestätigt, dass die Mehrheit der Jugendlichen in Europa radikal ist. Das Gegenteil ist der Fall, wie man feststellen kann, wenn man mit den Menschen zu tun hat. Ich bin seit etwa sechs Monaten Imam der Moschee von Passau und kann niemanden von den Radikalen hier sehen. Die Menschen, die zum Freitagsgebet kommen, sind Gemäßigte aus allen möglichen islamischen Ländern und aus Nordafrika.

Woher kamen dann jene, die in Madrid und in London Anschläge auf die Züge verübt haben, und die Hamburger Zelle, die wir vorher erwähnten?

Al-Sabah: Das müssen die Fachleute untersuchen und die wirklichen Gründe dafür herausfinden, warum diese Menschen diese Verbrechen begangen haben. Aber wir können das Phänomen nicht verallgemeinern auf alle Muslime in Europa, denn die Wirklichkeit sieht anders aus.

Als die Muslime die Nachricht hörten, waren sie noch geschockter als die Christen selbst, weil sie wissen, dass diese Taten im Namen des Islam verübt werden. Der Islam aber hat nichts damit zu tun. Ich möchte keine Rechtfertigungen dafür finden, weil ich nicht weiß, wer das getan hat. Wir müssen die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Die islamischen Rechtsgelehrten und die Leute, die sich damit beschäftigen und die Regierungen in allen islamischen Ländern müssen zusammen für eine Reformierung ihrer Gesellschaften eintreten.

Diskussionsleitung: Ahmad Hissou

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

Übersetzung aus dem Arabischen von Larissa Bender

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