Vier Missverständnisse nach dem Fall Aleppos

"Wir kommen zurück, Aleppo!" - verkünden die Parolen an den Wänden der zerstörten Stadt. Sie trotzen der Behauptung Assads, sein militärischer Sieg sei endgültig, schreibt der syrische Dissident Akram al-Bunni.

Von Akram al-Bunni

Nach dem militärischen Sieg des syrischen Regimes und seiner Verbündeten in Aleppo sorgen vier Missverständnisse für Verwirrung unter der syrischen Zivilbevölkerung und der Opposition.

Das erste Missverständnis: Viele meinen, die militärische Niederlage der Rebellen würde die Niederlage der politischen Revolution bedeuten. Ein Fehler. Wer glaubt, dass die Eroberung von Aleppo das syrische Regime stabilisiert, der tappt in eine gedankliche Falle. Denn Assad wird es mit Gewalt nicht schaffen, eine Zukunftsperspektive für Syrien zu entwickeln.

Einen Grund für diese Schwäche stellen nicht nur die begangenen Grausamkeiten dar. Man kann ihn auch nicht im instinktiven Glauben suchen, dass der Gang der Geschichte vorbestimmt sei, oder dass Recht und Gerechtigkeit früher oder später zwangsläufig gegen Unrecht und Gewalt siegen müssten. Tatsächlich dauert der Krieg an, und weite Gebiete Syriens entziehen sich noch immer der Kontrolle des Regimes. Assad wurde durch anhaltende, blutige Kämpfe und Interventionen von außen stark geschwächt. Als er schließlich Aleppo eroberte, waren es vor allem islamistische Gruppierungen, die besiegt wurden. Und deren Ziele hatten mit der syrischen Revolution und ihrem Streben nach Demokratie nichts zu tun.

Das wichtigste aber: Die ursprünglichen Gründe für die Revolution – die Unterdrückung und Verwesung des politischen Systems – bestehen ungemindert fort. In den Jahren des Krieges und angesichts der anhaltenden Gewalt des Regimes ist die Notwendigkeit politischer Transformation sogar noch deutlicher sichtbar geworden.

Denn: Wie könnte eine Gesellschaft, die unterdrückt, zerrissen und vertrieben wurde, ihre Kräfte und ihren Zusammenhalt ohne eine grundlegende politische Veränderungen zurückerlangen? Nur ein tiefgreifender Wandel könnte den Weg für ein gerechtes politische System ebnen: Ein System, das den Menschen dient, statt sich selbst durch Gewalt und Terrorakte durchzusetzen. Nur so können die zukünftigen Herrscher in Damaskus das Vertrauen der Weltgemeinschaft gewinnen. Ohne ihre Unterstützung wird es schwierig sein, die Folgen des Konflikts zu verarbeiten und die humanitären Fragen zu lösen.

Assad surrounded by supporters in the Syrian parliament, summer 2016
Ein Hoch auf den Despoten: "Die ursprünglichen Gründe für die Revolution – die Unterdrückung und Verwesung des Assad-Systems – bestehen ungemindert fort. In den Jahren des Krieges und angesichts der anhaltenden Gewalt des Regimes ist die Notwendigkeit politischer Transformation sogar noch deutlicher sichtbar geworden", schreibt Akram al-Bunni.

Das zweite Missverständnis lässt sich mit dem bekannten Spruch zusammenfassen: Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg ist immer ein Waisenkind. So distanzieren sich wichtige Oppositionsfiguren von der Niederlage der Rebellen in Aleppo und schreiben die Schuld Anderen zu.

Es ist nur verständlich und gerechtfertigt, sich mit einer Niederlage kritisch auseinanderzusetzen, um aus den begangenen Fehlern zu lernen. Doch das darf nicht dazu führen, die Schuld an der aktuellen Situation in Syrien ausschließlich bei der Opposition zu suchen, trotz der fatalen Uneinigkeit in ihren Reihen. Das wäre so, als würde man nicht dem Verbrecher, sondern dem Opfer nachjagen.

Wer sich ausschließlich auf die Opposition beschränkt, blendet die Verantwortung des Regimes und seiner Verbündeten aus. Denn ausgerechnet das Regime bestand darauf, eine militärische Lösung durch übermäßige Gewaltanwendung zu suchen. Und ganz offensichtlich war die Weltgemeinschaft nicht fähig, die Zivilbevölkerung zu schützen und einen politischen Ausweg zu erzwingen.

Trotzdem ist es wichtig, nicht nur die Umstände zu Beginn der syrischen Revolution unter die Lupe zu nehmen, sondern auch die Rolle der Opposition im Verlauf des Konflikts näher zu untersuchen. In den Vordergrund treten hier die ständige innere Zersplitterung sowie ideologische Konflikte. Die Autoritätsverlust der Opposition setzte ausgerechnet zu einer Zeit ein, als sie die Volksbewegung hätte leiten und dem Erstarken fundamentalistischer Strömungen hätte Einhalt gebieten sollen.

Außerdem hat die Opposition die friedliche Seite der Revolution nicht genügend gestärkt und die Volksbewegungen nur unzureichend unterstützt. Zu stark hat sie auf Unterstützung von außen gehofft und auf Befehle ausländischer Akteure gehört.

Rebellen in Ost-Aleppo; Foto: picture-alliance/dpa
Rebellen in der Defensive: Usama Abu Seid, Berater der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA), erklärte jüngst, der Vormarsch des Regimes gegen die Rebellen sei das Ergebnis von "massivem militärischem Druck" gegen Gruppen, die nur leichte Waffen besäßen. Abu Seid warf dem Westen vor, die belagerten Rebellen in Aleppo zu lange im Stich gelassen zu haben. Stattdessen unterstützten Deutschland und andere Länder die Kurdenmiliz YPG und damit auch das Regime, da beide in Aleppo gemeinsame Sache gemacht hätten.

Auch in Hinblick auf die Außendarstellung war die Opposition nicht aktiv genug. Sie hätte das Leiden der Syrer deutlicher aufzeigen müssen, um die Weltgemeinschaft zum Handeln zu zwingen und eine Lösung des Konflikts voranzutreiben. Ihr größtes Versagen besteht allerdings wohl darin, dass sie es nicht geschafft hat, sich als verlässliche Alternative zum Status quo zu präsentieren – als eine politische Kraft, die Pluralität respektiert und die demokratische Kultur garantiert.

Zum dritten Missverständnis kommt es, wenn man nicht zwischen der aktiven syrischen Zivilgesellschaft und den dschihadistischen Gruppierungen zu unterscheiden vermag. Die letzteren haben der Revolution großen Schaden zugefügt, indem sie den Volksaufstand zu ihren eigenen Zwecken missbraucht haben. Sie gründeten ihre eigenen Emirate und zwangen die vom Krieg erschöpften Menschen unter Androhung grausamster Strafen dazu, sich ihrem fundamentalistischen Weltbild zu unterwerfen.

"Syrien bleibt frei und Nusra muss raus!" – riefen die Demonstranten in Aleppo, Idlib, Hama und anderen Städten als Antwort auf den Versuch der "Dschabhat Fatah al-Sham" (ehemals "Al-Nusra-Front"), ihre Transparente zu beschlagnahmen, Aktivisten festzunehmen oder gar zu ermorden. Das ist ein klares Zeichen, dass das syrische Volk sich mit den dschihadistischen Gruppen und ihrer Rolle nicht abfindet. Hier muss man vorsichtig bleiben: Sollten die Fundamentalisten außer Kontrolle geraten, könnte das weitere Gewaltausbrüche und konfessionelle Konflikte auslösen.

Und es ist klar, dass viele der Dschihadisten nur die Interessen ihrer Geldgeber auf dem Schlachtfeld vertreten, oder aus rein egoistischen Motiven handeln. Denn sobald eine Niederlage nahte, konnten sie sich stets selbst durch Verhandlungen retten. Die Zivilisten überließen sie dabei jedoch meist ihrem eigenen Schicksal.

Das alles wirft die Frage auf, inwieweit sich das Horrorszenario von Aleppo wiederholen könnte? Wie wird die Verteidigung der Regionen Syriens organisiert, die weiterhin außerhalb der Kontrolle des Regimes stehen? Wird das Beharren auf militärischen Lösungen und die Duldung radikaler Gruppen den weiteren Verlauf der Revolution eher stärken oder noch weiter schwächen? Gibt es noch durchsetzungsfähige politische und kulturelle Eliten, die es schaffen können, wieder einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt über ideologische Grenzen hinweg zu stiften? Und werden sie in der Lage sein, die Geschicke des Landes künftig in friedliche Bahnen zu lenken?

Viertens muss man zwischen der Revolution an sich und ihren bisherigen Ergebnissen unterscheiden. Denn die Revolution war ja zunächst einmal eine Antwort auf die objektiven Missstände, ein landesweiter Protest gegen Despotie, Vetternwirtschaft und Korruption. Das syrische Volk forderte seine legitimen Rechte ein. Doch die Antwort darauf war bekanntlich Folter, willkürliche Festnahmen und Mord. Auf dem Nährboden dieser Unterdrückung erwuchsen neue Konflikte, die das Land in Richtung Islamismus abdriften ließen. Dieser hat mit dem Bestreben nach Freiheit und mit der Achtung der Menschenwürde nicht viel zu tun. Es wäre also übereilig, der Revolution als historischem Ereignis ihre Legitimität abzusprechen, weil sie nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht hat. Damit würde man das Regime mit seinen Gewaltakten für unschuldig erklären und zugleich die Rolle der regionalen und globalen Akteure vernachlässigen, die die Revolution ebenso bekämpft und deformiert haben.

"Wir kommen zurück, Aleppo!" - verkünden die Parolen an den Wänden der zerstörten Metropole. Sie trotzen der Behauptung Assads, sein militärischer Sieg sei endgültig. Dieser Satz spricht aus den Tiefen der Veränderungen der Revolutionsjahre. Denn die Hoffnung, die in den Seelen der Menschen gesät wurde, könnte den revolutionären Willen abermals zu neuem Leben erwecken und die Kräfte des Wandels zu wappnen. So wird sich die Opposition den neuen Herausforderungen in Syrien ungeachtet der Schwierigkeiten stellen können.

Akram al-Bunni

© Qantara.de 2017

Aus dem Arabischen von Filip Kazmierczak

Der syrische Dissident Akram al-Bunni ist prominenter Schriftsteller und Publizist. Als politischer Gefangener unter Assad verbrachte er eine 16-jährige Haftstrafe im Hochsicherheitsgefängnis Tadmur. Sein Bruder ist der renommierte Menschenrechtswanwalt Anwar al-Bunni.