Realer als das Leben

Von Saudi-Arabien bis Marokko: Jeden Abend bringt die türkische Serie "Noor" Millionen von Menschen vor den Fernsehapparat. Es geht um Liebe, Intimität und Gleichberechtigung; kein gesellschaftliches Tabu wird ausgespart. Alfred Hackensberger mit Einzelheiten

Poster der tuerkischen Soap 'Noor'; Foto: AP
Auch in Palästina ist die Serie Noor ein echter Straßenfeger. In einer Fabrik in Hebron werden Poster mit dem Konterfei des TV-Stars Kivan Tatliu produziert.

​​Kivanc Tatlitug ist groß, blauäugig, blond und verdammt gut aussehend. Seit vier Monaten betört der 24-jährige türkische Schauspieler als Mohannad in der Fernsehsehrie "Noor" Millionen von weiblichen TV-Zuschauern von Saudi-Arabien bis Marokko.

Eine Begeisterung, die angeblich schon einige Ehemänner in den Golfstaaten dazu brachte, die Scheidung einzureichen. Sie fanden Mohannad-Fotos auf dem Handy ihrer Frau. In Saudi-Arabien verkaufte eine Großfarmerin sogar ihre Schafherden, um abends völlig ungestört vor dem Fernseher sitzen zu können.

Dabei geht es allerdings nicht in erster Linie um die Attraktivität des türkischen Ex-Models. Kivanc Tatlitug spielt Mohannad, einen Mann der seine Ehefrau gleichberechtigt behandelt, sie bei ihrem beruflichen Werdegang als Modedesignerin unterstützt, zudem liebe- wie auch verständnisvoll ist. Nach einem Streit bringt er ihr Blumen, überrascht sie mit Geschenken oder einer Reise mit romantischem Ambiente.

Gegen Gott und seine Propheten

Männliches Verhalten, wie man es bisher nur aus westlichen Filmproduktionen kannte und in arabischen TV-Produktionen nicht vorkam. Für viele weibliche Zuschauer ist der sanfte Mohannad ein männliches Wunschbild. "Unsere Gesellschaft", meint die Vizepräsidentin der Bahrainschen Frauenunion Fatima Rabea, "ist nicht an solche Intimität und Liebe gewöhnt." Man sei mit dem täglichen Leben so beschäftigt, dass eine liebevolle Beziehung in den Hintergrund trete. "Die TV-Serie 'Noor' hat nun aufgeweckt."

"Teuflisch und unmoralisch", nannte der Großmufti Saudi-Arabiens die türkische Fernsehserie "Noor" und forderte die TV-Stationen auf, ihren "Angriff auf Gott und seinen Propheten" unverzüglich einzustellen. In der palästinischen Stadt Nablus warnte ein Parlamentarier und Prediger der radikal-islamischen Hamas vor der Serie, die gegen "Religion, Werte und Tradition" verstoße.

Die Kritik der beiden konservativen Würdenträger richtet sich nicht alleine gegen das liberale TV-Rollenbild von Mann und Frau. In der türkischen Seifenoper werden auch noch andere soziale Tabus konservativ-muslimsicher Gesellschaften gebrochen, die den Erfolg der Serie ausmachen.

Vorehelicher Sex und Abtreibung

Zwischen drei und vier Millionen Saudis verfolgen jeden Abend das Leben und die Liebe von Noor und ihrem Ehemann Mohannad. Im palästinischen Gazastreifen und der Westbank sind die Straßen zur Sendezeit wie leer gefegt. Und sollte der Strom wieder einmal ausfallen, stellt man sich den Wecker, um die Wiederholung am frühen Morgen nicht zu verpassen. Aber auch in anderen arabischen Ländern, wie Syrien, Bahrain oder Marokko versammeln sich täglich die Großfamilien vor den Fernsehgeräten, um ihre Helden zu sehen.

Türkische Mädchen spielen in einem Park in Istanbul; Foto: AP
Anders als im türkischen Alltag, spielt Religion in der Serie 'Noor' keine Rolle. Die weiblichen TV-Figuren tragen kein Kopftuch.

​​Die TV-Serie zeigt ein Panorama der Realität arabischer Gesellschaften, die man sonst nicht zu sehen bekommt. Mohannad hatte vor der Heirat mit Noor vorehelichen Sex, aus dem ein Kind stammt; eine Cousine ließ ein Kind abtreiben und zum Abendessen wird auch Alkohol getrunken. "Wir alle machen Dinge in unserem Leben, wie sie in der Serie gezeigt werden", sagte die syrische Schauspielerin Laura Abu Sa’ad, die der weiblichen Hauptfigur "Noor" ihre arabische Stimme gab.

"Viele Mädchen zum Beispiel, werden schwanger und haben Abtreibungen, aber man spricht nicht darüber. Wenn man nun im TV sieht, was sonst unter den Tisch gekehrt wird, bedeutet das ein Aufatmen." Für Laura Abu Sa’ad ist der Erfolg der Serie ein Zeichen dafür, "dass die arabischen Muslime einem moderaten Islam und nicht den Extremisten folgen wollen".

Ideal für den Tourismus

Religion spielt in der Serie eine untergeordnete Rolle. Die Ehe von Noor und Mohannad ist zwar vom Großvater bestimmt und man befolgt das muslimische Fastengebot im Monat Ramadan, aber keine der Hauptfiguren wird beim täglichen Gebet gezeigt. Frauen tragen auch kein religiöses Kopftuch.

"Ich denke diese Serie zeigt ein völlig unrealistisches Bild der Türkei", kritisiert Professor Khalid Amine von der marokkanischen Universität in Tetouan. "Als würde es dort keine islamistische Partei an der Regierung und keine Auseinandersetzung zwischen Religion und Säkularismus geben." Die Produktion liefere eine Idealisierung, die nur gut für den Tourismus sei.

"Meine Familie aus Belgien", so der Uniprofessor weiter, "fährt dieses Jahr in den Sommerferien nicht nach Hause nach Marokko, sondern in die Türkei". Die Kinder wollten die Schauplätze von "Die verlorenen Jahre", einer anderen populären türkischen Serie für Jugendliche sehen, die Eltern das Land von Noor und Mohannad. In Istanbul hat die türkische Produktionsfirma von "Noor" die Villa, das fiktionale Zuhause von Mohannad, in ein Museum für arabische Touristen verwandelt. Alleine aus Saudi-Arabien werden 100.000 Besucher erwartet, 70.000 mehr als im Vorjahr.

Ein Lückenbüßer wird zum Erfolg

Der Kultstatus der Serie kam für den panarabischen Satellitenkanal MBC völlig überraschend. In der Türkei war die Serie "Noor", die 2005 startete, kein kommerzieller Erfolg gewesen. Laut MBC-Präsidenten, Sheik Walid al-Ibrahim, habe man im Ausland nach billigen Produkten gesucht, da arabische TV-Serien unverschämt teuer seien.

Der türkische Lückenbüßer, den man nicht mit klassischem Arabisch, sondern mit dem gesprochenen Dialekt der Region vertonte, wurde zum großen Geschäft des Senders mit Hauptsitz in Dubai. Weitere türkische Serien sollen folgen.

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2008

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