Prinzessin Melancholie

Die tunesische Sängerin und Songschreiberin Emel Mathlouthi wurde mit ihrem Song "Kelmti Horra" auf einen Schlag berühmt. Sie war die Stimme des Arabischen Frühlings und verlieh ihm seine inoffizielle Hymne. Mit "Ensen" hat sie jetzt das perfekte Album für unsere Zeit aufgenommen. Richard Marcus hat es sich angehört.

Von Richard Marcus

"Ensen" – das bei Partisan Records erschienene neue Album der tunesischen Sängerin und Songschreiberin Emel Mathlouthi – könnte einige Leute überraschen. Wer die orchestrierten Fassungen ihres berühmten Titels "Kelmti Horra" (meine Worte sind frei) oder ihre akustischen Beiträge zum Film "No Land's Song" kennt, könnte angesichts des aktuellen Werks verblüfft sein. Gleich zu Anfang wird klar, dass dies nicht die Art von Musik ist, die man von dieser Künstlerin gewohnt ist. Und doch erkennt man ihre Leidenschaft, Intensität und Integrität sogleich wieder.

Aus ihrer Musik und ihren Texten spricht weiterhin ihre unmittelbare Erfahrung. Aber sie hat ihr Blickfeld erweitert und verleiht Gefühlen eine Stimme, die universell und überall gelten. Zu diesem Zweck nahm sie ihr Album in sieben Ländern auf drei Kontinenten auf. Mathlouthi und ihr Produktionsteam schufen wunderbar strukturierte und vielschichtige Klangbilder, in die Emel ihre herausragende Stimme einbringt.

Von elektronischen Loops und Effekten bis hin zu Handtrommeln, Orgeln, Akustikgitarren und Klavier entwickelt und steigert sich die Musik in Harmonie mit der Emphase ihrer Stimme. Diese Kombination erschließt sich nicht immer auf Anhieb – doch nur, weil Mathlouthi uns emotionale Wahrheiten über die Welt vermittelt, die ihrerseits nicht einfach sind. Der fünfte Titel "Lost" hebt sich aus allen heraus. In dem zunächst fast monotonen Auftakt der Musik erklingt Emels Stimme "I'm lost" wie in Trance. Im weiteren Verlauf gewinnt ihre Stimme an Intensität und entwickelt eine Spannung, die uns fesselt und uns wie im Sog mitnimmt in ein verstörendes Gefühl aus Sorge und Ratlosigkeit.

Coverfoto des Albums "Ensen" von Emel Mathlouthi ( produziert von Partisan Records)
Die erste Single aus dem neuen Album, "Ensen Dhaif" ( Mensch, hilfloser Mensch) wurde am 16. Februar 2017 vom Musik-Magazin "Pitchfork" als "bester neuer Song" aufgeführt. In diesem Lied singt Mathlouthi über die gravierenden Folgen von Repressionen auf das menschliche Handeln.

Die dunkle musikalische Atmosphäre und das Klagelied "I'm lost" lassen in uns eine Hoffnungslosigkeit anklingen, der sich niemand beim Anblick der aktuellen Welt verschließen kann.

Reiner Gesang

Mit dem siebten Titel "Princess Melancholy" hören wir ein wunderbares Beispiel dafür, wie elektronische Effekte und eine Stimme von faszinierender Kraft und Klarheit miteinander harmonieren. Nicht selten erheben sich die Stimmen entweder zu sehr über die Instrumente und wirken deplatziert oder sie gehen im Klangteppich völlig unter. Mathlouthis Stimme aber schwingt mit wie ein weiteres Instrument. Wir hören sie im rhythmischen Zusammenspiel mit der Klangwelle ihrer Musiker.

Was an der gesamten Produktion des Albums heraussticht und gefällt, ist die Art und Weise, wie Mathlouthis Stimme für sich wirken kann. Es wurden kaum oder gar keine Versuche unternommen, die von ihr geschaffenen Töne übermäßig zu inszenieren oder zu manipulieren. Im Unterschied zu vielen anderen Aufnahmen dieser Art bildet die Musik vorwiegend den Rahmen für ihre Stimme. Sie verstärkt die Botschaft, anstatt sich zur Botschaft zu erheben.

Der zweite Titel "Ensen Dhaif" steht exemplarisch für diese Form der Produktion. Mit vorwiegend traditionellen Instrumenten – die dreisaitige tunesische Laute Gimbri, die vorwiegend in der Gnawa-Musik benutzt wird, die tunesische Sackpfeife Zukra, die nordafrikanische Rahmentrommel Bendir und eine schwere Basstrommel als Erdung – entstand eine Klangkulisse, die ebenso pulsierend wie verlockend ist.

So leitet uns die Musik an, die Stimme der tunesischen Sängerin aufmerksam zu verfolgen. Das ist besonders wichtig, da die arabischen Liedtexte die Menschen auffordern, sich gegen die abgrundtiefe Ungerechtigkeit zu erheben. Auch im Titel "Laymen", der unmittelbar auf "Ensen Dhaif" folgt, ist dies das bestimmende Thema. Auch hier steht die Perkussion im Instrumentenmix im Vordergrund, während der Gesang von Mathlouthi zu Loops ihrer eigenen Stimme an- und abschwillt.

Abstrakte Prosa als Ausdruck innerer Anarchie

Mathlouthi geht über den Wortsinn hinaus und beschäftigt sich mit abstrakten, fast existenziellen Fragen des Selbst und der Identität in einer zunehmend verstörenden Welt. Sie beschreibt den siebten Titel "Thamlaton" (Suff) als zeitgenössische abstrakte Prosa und als Ausdruck der inneren Anarchie, die uns erfasst, wenn wir uns diesen Fragen stellen. Die Liedtexte nicht verstehen zu können, hindert uns nicht daran, diesen Song wertzuschätzen, da er als eine Art klangliches Gedicht funktioniert, das in seinem Zusammenspiel genau diese Gefühle vermittelt.

Als ich "Ensen" erstmals hörte, fühlte ich mich an das Werk der modernen kanadischen First-Nations-Musiker "A Tribe Called Red" und der kanadischen Sängerin Tanya Tagak erinnert. Beide verbinden traditionelle Musik ihrer Kulturen mit Electronic und schaffen somit eine Musik, die sowohl gesellschaftlich als auch politisch starke Botschaften vermittelt.

Eben diese starke Mischung aus Raffinesse und Folklore kennzeichnet auch Emels Musik. In Verbindung mit ihrer erstaunlichen Stimme und ihrer Fähigkeit, ein breites Band an Emotionen auszudrücken, entstand ein Album, das den Hörer atemlos und staunend zurücklässt. Es mag nicht immer einfach sein, aber es ist das perfekte Album für unsere Zeit.

Richard Marcus

© Qantara.de 2017

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers