Identität als Folklore

Sophie Bessis ist eine der bekanntesten maghrebinisch-französischen Feministinnen. Im Spannungsfeld zwischen Europa und Afrika siedelt sie ihren Kampf um Frauenrechte an, wobei ihr westliche Anmaßung ebenso zuwider ist wie die Identitätspolitik im Orient. Von Kersten Knipp

Sophie Bessis ist eine der bekanntesten maghrebinisch-französischen Feministinnen. Im Spannungsfeld zwischen Europa und Afrika siedelt sie ihren Kampf um Frauenrechte an, wobei ihr westliche Anmaßung ebenso zuwider ist wie die vielfach ausgeprägte Identitätspolitik im Orient. Kersten Knipp hat Sophie Bessis getroffen.

Worauf gründet die Überlegenheit des Westens über so viele andere Regionen dieser Welt - eine Überlegenheit, die erst allmählich ihr Ende findet? - Sophie Bessis gibt hierauf in ihrem Buch Antworten.

​​Da sitzen sie und wollen mit ihr kaum sprechen, schauen sie an mit einem Blick, wie er überheblicher kaum sein könnte: 'Wir sind die wahren Menschen!', erklärt dieser Blick, und: 'Du bist nur ein Anhängsel der Zivilisation, wenn überhaupt! Auf jeden Fall sehen wir keinen Grund, Dich sonderlich ernst zu nehmen. Sei froh, dass Du überhaupt mit uns lernen und zusammen sein darfst!'

Die kleine Szene aus einer französischen Schule im damals noch kolonialen Tunesien steht nicht nur am Anfang von Sophie Bessis' Buch über "Den Westen und die Anderen" ("L'Occident et les autres").

Sie steht auch und vor allem am Anfang eines Forscherlebens, einer langen wissenschaftlichen Biographie, in der Sophie Bessis sich vor allem mit einer Frage auseinander gesetzt hat: Worauf gründet die Überlegenheit des Westens über so viele andere Regionen dieser Welt, eine Überlegenheit, die erst jetzt, ganz allmählich, an ihr Ende kommt?

Antwort auf diese Frage gibt die in den 1940er Jahren in eine jüdische Familie in Tunis geborene, und seit langem in Paris lebende-, Sophie Bessis mit Hilfe jüngerer Dekolonialismus-Theorien, vor allem deren sprachkritischer Varianten.

Die ewigen Schüler

Sophie Bessis; Foto: inmigracionunaoportunidad.blogspot.com
Sophie Bessis wurde in den 1940er Jahren in Tunis geboren. Sie stammt aus einer jüdischen Familie. Heute lebt sie in Paris.

​​Der Westen, kann man bei Bessis lesen, deutet sein Verhältnis mit anderen Weltregionen, vor allem der arabischen Welt, immer unter dem Aspekt des Gegensatzes. Vornehmstes Instrument dazu war lange Zeit das Christentum – das religiöse Argument schlug noch die tiefsten Breschen zwischen Orient und Okzident.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der alle offen rassistischen Theorien endgültig diskreditierte, setzte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und das postulierte Gleichheitsideal das Bedürfnis nach Abgrenzung freilich nicht außer Kraft.

Es zwang fortan dazu, mit Hilfe kultureller Argumente zu operieren. Seitdem konzentriert sich der Diskurs auf die "Rückständigkeit" des Orients, der den Export westlicher Werte, allen voran der Demokratie und der Menschenrechte, umso dringlicher erscheinen lässt.

Im Hinblick auf diese Werte wurde und wird den ehemals kolonisierten Ländern wie selbstverständlich die Rolle des ewigen Schülers zugewiesen: Erst war er nicht reif für die westliche Zivilisation, jetzt soll er sie mit aller Kraft übernehmen. Kein Wunder, meint Bessis, dass die Zöglinge darauf gereizt reagieren.

Regionaler Chauvinismus

Hugo Chavez (links) gemeinsam mit Mahmud Ahmadinedschad; Foto: AP
Funktionswandel der Identitätspolitik: Diente sie früher dazu, Unabhängigkeitsbewegungen ideologisch zu formieren, so dient sie heute meist populistischen Zwecken.

​​Allerdings: Diese Gereiztheit, warnt sie, lasse sich politisch leicht missbrauchen. Der schiitische Nationalismus in Iran dürfte in der muslimischen Welt derzeit das abschreckendste Beispiel einer Politik sein, die sich vor allem negativ, nämlich in Opposition zum Westen, definiert und die Abgrenzung zum vornehmsten Programmpunkt erhebt.

Solche Phänomene finden sich allerdings nicht nur in der muslimischen Welt: In Venezuela und Bolivien zücken Chavez und Morales derzeit die "indigene Karte", in Zimbabwe betreibt Robert Mugabe eine perverse Spielform der "négritude".

Solche Beispiele vor Augen, beobachtet Bessis einen Funktionswandel der Identitätspolitik: Diente sie früher dazu, Unabhängigkeitsbewegungen ideologisch zu formieren, ihren Mitgliedern einen gemeinsamen Bezugspunkt und damit Schlagkraft zu verleihen, so dienen sie jetzt meist populistischen Zwecken – weniger darauf angelegt, dem Wohl ihrer einfachen Mitglieder als vielmehr deren Führern zu dienen.

Kolonisierung ohne Kolonialisten

So zeigen diese Bewegungen ein wesentliches Manko moderner Identitätspolitik auf: Sie verschafft vielleicht Genugtuung, da sie ihren Anhängern das Gefühl gibt, eigenständig zu handeln, Entscheidungen umzusetzen, die sie selbst getroffen haben, eine Identität zu leben, die nur sie haben, die sie von allen anderen Menschen unterscheidet.

Allerdings: Eine wirkliche Alternative zur Dominanz des Westens, beobachtet Bessis, stellt diese Politik nicht dar.

Denn auch sie folgt ja dem Prinzip des Individualismus, wie vor allem das Verhalten ihrer Führer zeigt. Eigennutz, Interessenspolitik, Kalkül:

In ihrer Logik unterscheiden sich diese kulturell, religiös oder ethnisch begründeten Bewegungen in nichts von denjenigen des Kapitalismus westlicher Spielart. Es gibt "kein Außen" mehr, beobachtet Bessis, d.h. keine dieser Bewegungen vermag sich außerhalb der kapitalistischen Logik zu stellen.

Alle stehen sie vor jenem Problem, das man seit einiger Zeit als "Kolonisierung ohne Kolonialisten" bezeichnet: den Umstand also, dass sich die kapitalistischen Spielregeln weltweit durchgesetzt haben und ernstzunehmende Alternativen bislang nicht erkennbar sind.

Der Schleier als Symbol

​​Diese Beobachtung bildet auch die Grundlage ihres jüngsten Buches "Les Arabes, les femmes, la liberté" ("Die Araber, die Frauen, die Freiheit"). Darin argumentiert die entschiedene Feministin gegen die Spielformen der weiblichen Verhüllung.

Die Frauen, schreibt sie, seien das letzte eindeutige Symbol ansonsten bereits grundlegend modernisierter – und das heißt vor allem: erschütterter – Gesellschaften.

Da sich in den meisten Ländern der arabischen Welt eine neue, den Spielregeln des Weltmarkts angepasste Gesellschaft noch nicht etabliert hätte, seien die Menschen auf der Suche nach Richtlinien. Die fänden sie in der Religion, genauer: in deren Symbolen.

Diese Symbolik werden vor allem von den Frauen inszeniert: "Identität = Religion = verschleierte Frau" – auf diese Formel bringt Bessis das Phänomen der neuen Religiosität. Daran mögen viele Frauen (und Männer) etwas auszusetzen haben.

Die Frage aber bleibt: Kann eine kulturelle oder religiöse Symbolik sich auf Dauer gegen die Logik des Weltmarktes durchsetzen? Bessis hat ihre Zweifel.

Gleichzeitig aber kritisiert sie auch die Dominanz der westlichen Kultur. Und setzt sich darum ein für eine Welt, in der kein Schulkind mehr mit Herablassung auf das andere schaut.

Kersten Knipp

&copy Qantara.de 2009

Bessis' Sachbuch "L'Occident et les autres" ist 2001 im Verlag "Édition La Découverte" auf Französisch erschienen.

Qantara.de

Interview mit Amel Grami
Vorwärts zu einem zeitgemäßen Islam?
Tunesien war in punkto Frauenrechten lange eines der fortschrittlichsten Länder der arabischen Welt. Doch auch dort finden neokonservative und islamistische Ideen besonders unter jungen Frauen zunehmend Gehör. Darüber hat sich Beat Stauffer mit der tunesischen Religionswissenschaftlerin Amel Grami unterhalten.

Emel Abidin-Algan
Glauben ohne Kopftuch
Ihr Entschluss schlug hohe Wellen – sowohl in Deutschland als auch in der Türkei. Emel Abidin-Algan, Tochter des Gründers der islamischen Vereinigung Milli Görüs, legte nach über dreißig Jahren ihr Kopftuch ab. Die 45-jährige Mutter von sechs Kindern sprach mit Ariana Mirza über ihre Beweggründe.

Dossier
Feministischer Islam
Sie berufen sich auf die Tradition: Musliminnen, die in ihrem Kampf um gesellschaftliche Emanzipation und ein modernes Rollenverständnis auf den Koran und die Geschichte des Islam zurückgreifen - auch wenn sie damit teilweise überlieferter Koraninterpretation widersprechen.