Der Präsident schlägt die nationalistische Trommel

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 1994 erstmals zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde, versprach er, die Schuld für die Probleme der Türkei nicht auf "fremde Mächte oder Ausländer" zu schieben. Jahre später hat er dieses Versprechen längst vergessen. Von Tom Stevenson

Von Tom Stevenson

Am 5. Juni, bei einer Wahlkampfveranstaltung in Sakarya östlich von Istanbul, versuchte Erdoğan, den massiven Absturz der türkischen Lira zu erklären. Schuld daran sei ein Angriff auf die türkische Wirtschaft durch "ausländische Kräfte", ein Begriff, den er heute immer wieder verwendet. Seit Anfang des Jahres hat die Lira fast 20 Prozent an Wert verloren und erreicht immer neue Tiefstände. Also versprach der türkische Präsident seinen Unterstützern, nach der Wahl am 24. Juni werde er dies den ungenannten fremden Mächten "heimzahlen".

Im letzten April hatte Erdoğan die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen selbst ausgerufen, aber sein Wahlkampf verlief schwieriger als erwartet. Noch im gleichen Monat schien die türkische Opposition sehr schlecht organisiert zu sein. Seitdem hat sie sich allerdings erstaunlich gut entwickelt. Die Oppositionsparteien haben ein Zweckbündnis gegründet, das bei den Präsidentschaftswahlen auf eine Stichwahl zwischen Recep Tayyip Erdoğan und Herausforderer Muharrem Ince abzielt. Ince, dem Kandidaten der "Republikanischen Volkspartei" (CHP), ist es gelungen, sich im Wahlkampf als dynamischer Volksvertreter zu präsentieren.

Der Wahlkampf der regierenden "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) hingegen wirkte oft ziemlich unentschlossen. So wollte Erdoğan auf die wirtschaftlichen Erfolge seiner Partei seit der Machtergreifung im Jahr 2000 hinweisen. Dazu betonte er in einer Wahlkampfrede, dass heute viel mehr Menschen einen eigenen Kühlschrank besitzen als früher. Viel größere Sorgen macht der türkischen Gesellschaft jedoch die Abwertung der Lira. Die Kritik an dieser Entwicklung bedroht die Wahlchancen der AKP, deren Sieg bis vor Kurzem noch bombensicher erschien. Ein weiteres Thema, das Sorgen bereitet, ist die Inflation, die laut der jüngsten Daten aus dem letzten Jahr einen Wert von 12 Prozent erreicht hat.

Sündenböcke für die wirtschaftliche Entwicklung

Türkische Lira in einem Geldwechselladen in Istanbul; Foto: picture-alliance/AP/P. Giannakouris
Galoppierende Inflation und Abwertung der Lira: Der dramatische Wertverlust in den vergangenen Monaten hat schon jetzt dazu geführt, dass die Wirtschaft für die meisten Wähler das dominierende Thema ist. Lösungen hat Erdoğan kaum zu bieten, sieht man davon ab, dass er die Bevölkerung dazu aufrief, ersparte Devisen in Lira umzutauschen.

Das Thema, das die türkischen Wähler am meisten beschäftigt, ist die Wirtschaft. Der türkische Marktanalyst Oguz Erkol meint, im Zuge des Wahlkampfs könne die nationalistische Rhetorik, mit der versucht wird, den Absturz der Lira zu erklären, noch stärker werden. "Mit seiner Behauptung, für den jüngsten Ausverkauf der türkischen Märkte seien 'böse ausländische Mächte' verantwortlich, will Erdoğan in erster Linie die Wähler beeinflussen", sagt er.

Kürzlich hat der türkische Präsident höchst ungewöhnliche Ansichten über die Beziehung zwischen Zinssätzen und Inflation geäußert, die wohl kaum dazu beitragen werden, das Vertrauen der Kreditgeber in die Türkei zu vergrößern. Hinzu kommt noch, dass Erdoğan seine Bereitschaft erklärt hat, die nominelle Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank außer Kraft zu setzen.

Am 7. Juni hatte die Zentralbank beim Versuch, den Absturz der Lira aufzuhalten, die Zinsen um 125 Basispunkte erhöht. Doch Erdoğans exzentrische Theorien und seine politische Dominanz haben zur Folge, dass die Behörde nur sehr zögerlich handelt – obwohl es klare Anzeichen dafür gibt, dass weitere Zinserhöhungen notwendig sind. "Problematisch sind nicht nur Erdoğans feindliche Äußerungen über obskure Gegner, sondern auch seine bizarren wirtschaftlichen Ansichten", meint Erkol.

Die türkischen Unternehmen sind stark in ausländischen Währungen verschuldet. Da die Vereinigten Staaten und Europa ihre Geldpolitik straffen und die Schwellenländer zunehmend kritisch gesehen werden, erweisen sich diese Schulden zunehmend als wirtschaftliche Belastung. Verstärkt werden die Sorgen über die mangelnde Unabhängigkeit der Zentralbanken noch dadurch, dass die Inflation steigt und die staatlichen Finanzen der Türkei Zeichen von Schwäche zeigen. Das Gerede über "manipulierende Ausländer" zeigt zwar, dass dringend Sündenböcke benötigt werden, trägt aber nicht dazu bei, die dahinter liegenden Probleme zu lösen.

Verteidigung der türkischen Souveränität

Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht appelliert Erdoğan an fremdenfeindliche und nationalistische Gefühle. Er versucht dies auch bei außenpolitischen Themen: Am 4. Juni kündigte die Regierung neue Militäraktionen gegen Stützpunkte der "Kurdischen Arbeiterpartei" (PKK) an, die in den nordirakischen Kandil-Bergen an der Südostgrenze zur Türkei liegen.

Regierungsfreundliche Kommentatoren wie İbrahim Karagül von der streng AKP-treuen Zeitung Yeni Şafak bezeichneten die Eingriffe als Verteidigung der türkischen Souveränität und brachten sie direkt mit den Wahlen in Verbindung. "Wir warten nicht darauf, dass der Terrorismus an unsere Tür klopft. Wir gehen zu den Quellen des Terrorismus, bevor er zu uns kommt", sagte Erdoğan einen Tag nach der Ankündigung der Militäraktion bei einer Wahlkampfveranstaltung in der westtürkischen Stadt Zonguldak.

Muharrem Ince, Erdoğan-Herausforderer und Hoffnungsträger der Opposition; Foto: picture-alliance
Erdoğan-Herausforderer und Hoffnungsträger der Opposition: Muharrem Ince (54) begeistert die Massen, zumindest jene, die nach mehr als 15 Jahren genug von Erdoğan und seiner AKP haben. Sollte Erdoğan bei der Präsidentenwahl am 24. Juni die absolute Mehrheit verfehlen - was Umfragen zufolge möglich ist -, dürfte Ince sein Herausforderer in der Stichwahl werden.

Laut Yusuf Safarti, einem außerordentlichen Professor an der US-Universität von Illinois, nutzen die Regierungspolitiker die Militäraktion in Kandil für ihren Wahlkampf aus. "Wenn die AKP dieses Thema auf der nationalen Agenda hält oder im Nordirak einen Militärschlag gegen die PKK führt und diesen als 'Einmarsch in Kandil' bezeichnet, kann sie bei den Wahlen nur davon profitieren", meint Safarti.

Die türkische Armee kämpft schon seit Jahrzehnten gegen die PKK. Dass sie hierbei plötzlich rasche strategische Fortschritte erzielt, ist unwahrscheinlich. So werden jedoch nationalistische Gefühle angefacht, die im Wahlkampf nützlich sein können, da sie nicht nur bei der Basis der AKP verbreitet sind, sondern auch bei vielen Unterstützern der Oppositionsparteien.

Die Macht militärischer Ablenkungsmanöver

Dass die AKP die Armee mobilisiert, um erfolgreich ihre Unterstützerbasis im Inland zu vergrößern, ist kein neues Phänomen. Bereits nach den Wahlen vom Juni 2015 verschärfte Erdoğan vorsätzlich den Konflikt mit der PKK. So konnte er der AKP bei der Wiederholung der Wahl im November 2015 letztlich mehr Stimmen verschaffen. Die dadurch verursachten Kämpfe kosteten allerdings Tausenden Menschen das Leben.

"Auch der türkische Militäreinsatz in der nordsyrischen Stadt Afrin wurde von der AKP und den regierungstreuen Medien politisch instrumentalisiert", meint Professor Safarti. "Laut Umfragen nahm die Unterstützung für Erdoğan damals erheblich zu. Also kann die AKP durch eine Militäraktion in Kandil vor der Wahl ein Thema in den Mittelpunkt stellen, das die nationale Diskussion von der Wirtschaft ablenkt."

Bereits jetzt ist das Themenspektrum vor der Wahl erheblich enger geworden. Darüber, dass die politische Opposition unterdrückt wird oder dass die Wahl im Ausnahmezustand stattfindet, wird kaum gesprochen. Auch die Vorwürfe gegen die Regierung, sie habe die größte Oppositionspartei CHP abgehört, sind kaum noch ein Thema.

Ob die Strategie der AKP aufgeht, ist noch nicht absehbar. Dazu äußert sich Burak Bilgehan Ozpek, stellvertretender Professor für Internationale Beziehungen an der TOBB-Universität für Wirtschaft und Technologie in Ankara: Das Umfeld, in dem die Wahl stattfindet, und die enge Beziehung zwischen Erdoğans Unterstützern und den türkischen Sicherheitskräften darf seiner Meinung nach nicht unterschätzt werden. "Letztlich wurde der politische Aktivismus der Oppositionsgruppen durch den staatlichen Sicherheitsapparat außer Kraft gesetzt", so Ozpek.

Tom Stevenson

© Qantara.de 2018

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff