Jenseits der eigenen Grenzen

In diesen Tagen wird viel über den entschlossenen Kampf der Kurden im nordsyrischen Kobanê gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) berichtet. Dabei wird häufig der Vorwurf der "Untätigkeit" gegenüber der Türkei erhoben. Warum eigentlich? Ein Essay von Cemal Karakas

Von Cemal Karakas

Vor allem in Deutschland wurde in den vergangenen Tagen in diversen Talkshows und Medien von Politikern fast jeglicher Couleur der Vorwurf laut, die Türkei mache sich der "unterlassenen Hilfeleistung" schuldig und ignoriere das humanitäre Leid der Kurden sowie die Einhaltung von Demokratie- und Menschenrechtsstandards.

Zynischerweise kam der Vorwurf auch von solchen Politikern, die beim jüngsten Besuch des chinesischen Premiers in Deutschland den Deckmantel des Schweigens über Demokratie- und Menschenrechtsfragen gehüllt haben, um bloß nicht die deutschen Wirtschaftsinteressen zu gefährden.

Die türkische Seite wiederum erhebt den Vorwurf des "Doppelstandards" – und das zu Recht, denn nicht nur Deutschland hat das Recht, nationale Interessen zu verfolgen, sondern auch die Türkei. Hinzu kommt, dass Deutschland vom Syrienkonflikt nicht unmittelbar betroffen ist und – im Vergleich zur Türkei – viel weniger Flüchtlinge aufgenommen hat. Die Türkei hat bis dato über 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufgenommen, für deren Unterkünfte und medizinische Versorgung sie über 3,5 Milliarden US-Dollar ausgegeben hat.

Eine moralische Pflicht zur Intervention?

Keine Frage: Die Kurden in Kobanê und anderswo in Syrien und im Irak sind in ihrem Kampf gegen den IS vielfach auf sich alleine gestellt, abgesehen von den vereinzelten Luftschlägen der USA und den Waffenlieferungen der internationalen Anti-IS-Allianz. Doch hat deswegen der Westen und speziell die Türkei als direkt betroffener Bündnispartner im westlichen Sicherheitsdispositiv die moralische Pflicht, direkt in den Konflikt einzugreifen, sprich mit Bodentruppen? Ich denke nicht.

Der Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt hatte den klugen Satz geprägt, dass man nur dann von außen intervenierend in einen Konflikt eingreifen sollte, wenn Land A Land B überfällt. Doch wenn der Konflikt einen innerstaatlichen oder innergesellschaftlichen Charakter hat, d.h. innerhalb eines bestimmten Landes stattfindet, dann ist es die Sache dieses Landes und eine Intervention von außen nicht geboten.

Auseinandersetzung zwischen Polizei-Einheiten und kurdischen Demonstranten in Ankara; Foto: Getty Images/AFP/Adem Altan
Ausweitung der Kampfzone: Für Ankara besteht die Gefahr eines Zwei-Fronten-(Bürger-)Krieges sowohl gegen die kurdische PKK als auch den radikal-islamistischen IS, was sich negativ auf den innergesellschaftlichen Frieden und auch auf den Tourismus in der Türkei auswirken könnte. Dies ist der Hauptgrund dafür, warum die Mehrheit der türkischen Bevölkerung gegen einen (Boden-)Krieg bzw. eine Intervention in Syrien oder im Irak eingestellt ist.

In Zeiten asymmetrischer Kriegsführung, in der eine Terrororganisation von Land A aus Land B angreift, ist die Sache etwas komplizierter. Als Al-Qaida im Zuge der Anschläge des 11. September 2001 die USA attackierten, wurden – übrigens mit UN-Mandat – die Taliban und das Terrornetzwerk in Afghanistan angegriffen. Wie verhält es sich nun mit dem IS? Sie ist zwar zu einer ernsten Bedrohung für den Irak und das Assad-Regime geworden, war aber gleichzeitig klug genug, keine (westliche) Großmacht direkt anzugreifen.

Nichtsdestotrotz soll die Türkei nun das Völkerrecht brechen und in einen Konflikt militärisch eingreifen, welcher jenseits ihrer eigenen Grenzen liegt. Ironischerweise drängen Ankara ausgerechnet jene Länder, die in der Vergangenheit türkischen Interventionen in der Nachbarregion zwecks Kampfes gegen die kurdische Untergrundorganisation PKK immer kritisch gegenüber standen, nämlich Deutschland und die USA.

Die Gefahr eines Zwei-Fronten-Krieges

Es ist aber das gute Recht der Türkei, selber darüber zu entscheiden, ob und wann ein direktes Eingreifen in Kobanê sinnvoll ist oder nicht. Denn – anders als für die meisten westlichen Bündnispartner – besteht für Ankara die Gefahr eines Zwei-Fronten-(Bürger-)Krieges sowohl gegen die kurdische PKK als auch den radikal-islamistischen IS, was sich negativ auf den innergesellschaftlichen Frieden und auch auf den Tourismus in der Türkei auswirken könnte – der Tourismus ist bekanntlich eine wichtige Deviseneinnahmequelle. Dies ist der Hauptgrund dafür, warum die Mehrheit der türkischen Bevölkerung gegen einen (Boden-)Krieg bzw. eine Intervention in Syrien oder im Irak eingestellt ist.

Nach der Geiselnahme und Freilassung der türkischen Konsulatsmitarbeiter durch den IS stimmte das türkische Parlament grenzübergreifenden Kampfeinsätzen sowie der Nutzung der türkischen Militärbasen für ihre NATO-Alliierten zu. Ankara hat aus seinem Fehler, dem Fernbleiben bei der US-amerikanischen Intervention zum Sturz des Saddam-Regimes (2003), gelernt. Denn nur wer daran beteiligt ist, kann beim späteren Nation and State Building in den betroffenen Ländern mitentscheiden, und bekanntlich ist die Gründung eines unabhängigen Kurdistans nicht im Interesse der Türkei.

Ankara pocht hingegen zu Recht auf eine Puffer- und Flugverbotszone zum Schutz der Flüchtlinge und der türkischen Grenzen. Paradoxerweise ist das auf Seiten der USA und der anderen Anti-IS-Alliierten jedoch nicht mehrheitsfähig. Die Kurden selber sind übrigens gegen ein militärisches Eingreifen der Türkei – aus Sorge davor, dass Ankara eine mögliche Pufferzone dafür ausnutzen könnte, kurdischen Unabhängigkeits- oder Autonomiebestrebungen in Syrien und im Irak militärisch entgegen zu treten.

Jahrelang Akzeptanz des IS

Freilich ist auch die Türkei nicht ohne Schuld. Ihre jahrelange Duldung des IS, der als wichtiger Akteur zum Sturz des Assad-Regimes angesehen wird und daher weitgehend ungehindert von türkischem Boden aus Waffen, Devisen und Personal einsammeln konnte, hat dem Ansehen der AKP-Regierung Schaden zugefügt.

Dr. Cemal Karakas; Foto: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)
Dr. Cemal Karakas ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Zu seinen Themenfeldern zählen die Türkei, der politische Islam, Fragen der europäischen Integration sowie externe Demokratieförderung in Theorie und Praxis.

In diesem Zusammenhang wirft die Bundesregierung der AKP-Regierung vor, keine ausreichenden Personen- und Grenzkontrollen bei der Ausreise von türkischen Islamisten mit deutschem Pass nach Syrien zu unternehmen. Die türkische Seite wirft Deutschland wiederum vor, unfähig zu sein beim Abdriften von Muslimen in den Extremismus bzw. bei der Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft.Zu einer Belastung im deutsch-türkischen Verhältnis werden auch zunehmend die Pro-Kobanê bzw. Pro-IS-Demonstrationen. Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei kam es schon zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Islamisten.

Bedenklich ist, dass die AKP-Regierung bei ihrem laxen Umgang mit dem IS die Politisierung und Polarisierung der eigenen kurdischen Minderheit in Kauf genommen hat – mit dem Ergebnis, dass bei den jüngsten Demonstrationen in der Türkei 40 Menschen den Tod fanden. Doch auch der AKP-Regierung sollte – spätestens durch die Geiselnahme türkischer Staatsbürger durch den IS – deutlich geworden sein, dass der Feind meines Feindes nicht zwangsläufig mein Freund sein muss.

Wie sollte sich der Umgang mit Kobanê gestalten? Kobanê ist zum einen strategisch wichtig für den IS, da über den Grenzhandel mit der Türkei Waffen, Personal und Gelder akquiriert werden. Zum anderen ist die Stadt symbolisch wichtig, da man mit dem Widerstand bzw. mit der Einnahme Kobanês der Welt zeigen kann, dass man den Luftangriffen der weltgrößten Militärmacht standhalten kann.

Die Türkei sollte nicht pro-aktiv in den Syrien-Konflikt eingreifen. Allerdings sollte sie die Kurden auch nicht schlechter behandeln als den IS, sprich Ankara sollte – etwa im Falle der deutschen Bundeswehr – es alliierten Staaten erlauben, über türkische Landwege Hilfs- und Waffenlieferungen an die kurdischen Kämpfer und Flüchtlinge zu gewähren.

Für eine internationale Militärpräsenz mit UN-Mandat

Eine alleinige Intervention bzw. Entsendung von türkischen Bodentruppen ist nicht zielführend, geeigneter wäre eine internationale Militärpräsenz mit UN-Mandat – wie im Falle des ISAF-Einsatzes in Afghanistan.

Nach den jüngsten Umbrüchen in Syrien und Ägypten hat sich – auch im Westen – so langsam die Erkenntnis manifestiert, dass Diktaturen mit funktionierender Staatlichkeit bessere Garanten für Stabilität und Ordnung (sowie Minderheitenrechte) sind als Transformationsgesellschaften, die über demokratische Wahlen undemokratische Kräfte, wie z.B. (Radikal-)Islamisten, legal an die Macht bringen, die für Instabilität und Chaos (sowie eine Einschränkung der Rechte der Nicht-Muslime) sorgen.

Das bedeutet freilich nicht, dass der Westen und die autoritären UN-Vetomächte Russland und China künftig denselben Wertekanon teilen. Allerdings könnte der Westen dann in Moskau und Peking, die selber mit islamistischem Terrorismus zu kämpfen haben, wichtige Verbündete bei einem UN-mandatierten Kampf gegen den IS gewinnen.

Cemal Karakas

© Qantara.de 2014