Stellungnahme von Muslimen Großbritanniens unerlässlich

Der Publizist Khaled Hroub fordert nach den Anschlägen in London von der muslimischen Gemeinde in Großbritannien eine deutliche Stellungnahme, damit die Sicherheit und Stabilität im Zusammenleben mit der nicht-muslimischen Mehrheit gewährleistet ist.

Der Publizist Khaled Hroub fordert nach den Anschlägen in London von der muslimischen Gemeinde in Großbritannien eine deutliche und wegweisende Stellungnahme, damit die Sicherheit und Stabilität im Zusammenleben mit der nicht-muslimischen Mehrheit gewährleistet ist.

Opfer des Terroranschlags in Lodon; Foto: AP
Noch immer ist die Anzahl der Opfer der Londoner Terroranschläge nicht bekannt

​​Meine Frau Khulud ist - Gott sei dank - gestern nicht zur Arbeit gefahren. Sie wäre sonst, aus Cambridge kommend, gegen viertel vor neun Uhr an der Tube-Station "Kings Cross" im Herzen Londons angekommen. Zu diesem Zeitpunkt ließ Al-Qaida dort eine Bombe hochgehen, wie auch an fünf weiteren U-Bahn-Stationen Londons und in einem Doppeldeckerbus, der vollständig zerstört wurde.

Meine Frau kam zwar mit dem Leben davon, aber viele andere, Frauen und Kinder verschiedenster Nationalitäten, kamen zu Tode oder wurden verletzt. Jeder weiß, besonders diejenigen, die London kennen oder in London leben, dass ein solches Verbrechen in einer belebten Stadt wie dieser eine große Zahl willkürlicher Opfer nach sich ziehen muss. Während ich diese Zeilen schreibe, ist die ständig steigende Anzahl der Toten und Verletzten nicht absehbar, und von offizieller Seite gibt es noch keine endgültige Bestätigung.

Der Wahnsinnige, der sich diese Taten ausgedacht hat - feige, unmoralisch, ohne Ehrgefühl und weit entfernt von jeglichen Traditionen oder Prinzipien des Islam -, hat es erneut geschafft, gegen die Araber, Muslime und den Islam Feindseligkeit zu schüren.

Vom schwarzen 11.September über Bali, Casablanca, Riad und Madrid reißt die Serie des Blutvergießens nicht ab. Der Hass von Al-Qaida verstärkt unsere Niederlage – im Glauben, Siege zu erzielen! So gleicht der Terror von Al-Qaida einem, der sich selbst ohrfeigt und sich dabei einbildet, Rache für jemand anderen zu nehmen.

Die Rechtfertigungen und Begründungen, auf die sich die Anhänger von Al-Qaida stützen, kreisen um die Notwendigkeit, "sie so leiden zu lassen, wie wir leiden" und "sie so den Tod spüren zu lassen, wie wir den Tod spüren". Die schiefe Logik weiter führend, argumentieren sie folgendermaßen: Sind die Ermordeten in Palästina, Afghanistan und im Irak nicht ebenfalls unschuldig? Warum töten sie unsere Unschuldigen, und wir töten ihre Unschuldigen nicht? Diese grausame Logik muss unbedingt ausgehebelt werden, da sie viele Anhänger hat - sowohl im Verborgenen wie auch in der Öffentlichkeit.

Diese Logik hat zwei furchtbare Fehler: Zum einen das Prinzip der Rache für das, was "unsere Unschuldigen" durch ihre "schuldigen Regierungen" zu erleiden haben, zum anderen die Rache an "ihren Unschuldigen, die ebenso wie unsere Unschuldigen leiden sollen", die uns aber gegenüber ihren Machthabern und Regierungen beistehen.

So sind die wahnsinnigen Terrorakte, auch wenn wir sie nicht vom Aspekt der Moral aus betrachten, politisch gesehen eine Dummheit, da sie sich nicht gegen Gegner, sondern gegen Wohlmeinende richtet. Schließlich ist bekannt, dass die Frage der Gerechtigkeit gegenüber Arabern und Muslimen weltweit eine große Zahl von Unterstützern und Förderern hat, die weder Araber noch Muslime sind.

Nur wenige negieren die Gerechtigkeit in der Palästina-Frage und die vorenthaltenen Rechte der Palästinenser. Nur wenige haben den Krieg gegen den Irak unterstützt, auch wenn viele erleichtert waren, als die Diktatur gestürzt und der Irak von seiner Tyrannei befreit wurde.

Es waren die wenigsten, die die amerikanischen Rechtfertigungen für die abstoßende Barbarei in den Gefängnissen von Abu Ghraib oder Guantanamo oder für die täglichen Maßlosigkeiten der Israelis gegenüber den Palästinensern unterstützt oder auch nur akzeptiert haben. Millionen haben auf den Straßen Londons, Paris', Madrids und anderer Hauptstädte des Westens demonstriert, um die Bevölkerung des Nahen Ostens in ihrer Forderung nach Gerechtigkeit zu unterstützen.

Die Unschuldigen, die nach dem Willen der grausamen Al-Qaida-Terroristen sterben sollen, repräsentieren die öffentliche Meinung im Westen und in Europa, die Palästina und den Irak unterstützen und dem gegenwärtigen, überheblichen Imperialismus der USA uneingeschränkt entgegenstehen, wie es Meinungsumfragen belegt haben.

Der Wahnsinnige, der diese grausamen Terroranschläge in den Zügen und Bussen Londons geplant hat, ist feige und ohne jede Moral. Ist es etwa mutig oder heldenhaft, einen Bus mitsamt seinen Fahrgästen in die Luft zu jagen, die Hälfte von ihnen Studenten? Gehören etwa Mut und Heldenhaftigkeit dazu, U-Bahnzüge hochgehen zu lassen, in denen sich Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule befinden?

Dem Wahnsinnigen, der dieses Verbrechen geplant hat, ist es auch nicht in den Sinn gekommen, dass der Zeitpunkt denkbar ungünstig gewählt war, da die Menschen das grausame Verbrechen mit dem G8-Gipfeltreffen in Schottland in Verbindung bringen würden.

Auf diesem Gipfeltreffen wurden unter dem Druck der Nichtregierungsorganisationen die üblichen Prioritäten auf der Tagesordnung ersetzt und stattdessen das Problem der Armut und die Frage nach Hilfeleistungen für die ärmsten Länder an oberster Stelle erörtert, nachdem "der Kampf gegen den Terrorismus" die Agenda der letzten Jahre beherrscht hatte. (…)

Der "Angriff auf London", wie ihn die Wahnsinnigen nennen werden, wird in einigen Nischen der britischen Gesellschaft ein Feuer des latent vorhandenen Rassismus entfachen. Die britischen Rechten und Rassisten, die unablässig die Schließung der Grenzen für Einwanderer fordern, werden die Terrorakte als den Tag der großen Wende ansehen und die Araber und Muslime einen hohen Preis dafür zahlen lassen. (…)

Die einfältigen Anhänger der Al-Qaeda wissen nichts von der Auseinandersetzung um das Prinzip der Multikulturalität, das London vertritt, wogegen Paris Integration erzwingen möchte.
Die Freiheit und Toleranz, die London den verschiedenen Ethnien, Nationalitäten und Religionsgemeinschaften gewährte, war immer schon ein Vorbild für die Muslime, die den übrigen Hauptstädten Europas deutlich machen konnten, dass das friedliche Zusammenleben auf der Basis des gegenseitigen Respekts beruhen muss.

Respekt bedeutet, dass man seine Identität, Religion oder Tradition nicht aufgeben muss und eine vollständige Eingliederung nicht zwingend ist. Da London nun einen hohen Tribut infolge des Al-Qaida-Terrors zahlen muss, erleidet das Londoner Prinzip des Kosmopolitismus einen empfindlichen Rückschlag. (…)

Die engstirnigen Bin-Laden-Anhänger haben ihre ganz eigene Theorie, die sie hinter vorgehaltener Hand oder auch ganz offen äußern. Ihrer Meinung nach ist der Terror aufgrund der Haltung Tony Blairs und der Beteiligung seiner Regierung am Irakkrieg nach London gekommen. So würde die öffentliche Meinung in Großbritannien dazu gedrängt, Blairs Regierung abzuwählen, da sie durch ihre misslungene Politik den Terror nach Großbritannien brachte.

Diese abwegige Theorie ist ein Freibrief für all jene, die den Terror um jeden Preis rechtfertigen wollen, obwohl dieser nicht zu rechtfertigen ist. Diese Theorie lässt nämlich folgenden Schluss zu: Da jede Regierung im Westen gegen die Interessen der arabischen und islamischen Staaten handelt, ist es verständlich und gerecht, dass Al-Qaida ihre Eiferer gegen die Bürger dieser Staaten aufhetzt, die dort auf den Straßen ein Blutbad mit einer möglichst hohen Opferzahl anrichten. Das Ziel ist es, die Bürger dieser Staaten dazu zu bringen, ihre Regierungen zu stürzen, die eine Politik gegen die Araber und Muslime betreiben.

Für die Araber und Muslime in Großbritannien stellt sich nun aber die Frage, was zu tun ist. Eines ist sicher: in der nächsten Zeit werden Rassismus und Feindseligkeit zunehmen. Daher ist es unbedingt erforderlich, dass die Muslime in Großbritannien deutlich Stellung beziehen, damit ein Zusammenleben in Großbritannien in Sicherheit und Stabilität weiterhin möglich ist. Denkbar wäre folgendes:

1. Eine entschiedene und klare Stellungnahme ohne Wenn und Aber, die das Verbrechen beim Namen nennt und deutlich macht, dass es in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Um noch deutlicher zu werden: Es darf keinesfalls zum Ausdruck gebracht werden, dass wir dieses Verbrechen zwar verurteilen, die Motive, die ihm zugrunde liegen, aber verstehen könnten.

Andernfalls würde dies als Rechtfertigung für die Ereignisse verstanden werden. Allerdings: Untaten rechtfertigen andere Untaten nicht. Die Opfer verlieren ihre Legitimation, wenn sie die Mittel der Täter ihrerseits verwenden, das ist das Schlimmste, was einer gerechten Sache widerfahren kann. Dadurch gerät die Moral, die der gerechten Sache zugrunde liegt, unweigerlich ins Wanken.

2. Eine solche Stellungnahme muss so klar und deutlich wie möglich an die öffentliche Meinung in Großbritannien herangetragen werden. In Form flächendeckender Demonstrationen im Zentrum von London und anderen großen Städten sollte dieses Verbrechen von Muslimen verurteilt werden, indem sie sich von diesen Anschlägen und denjenigen distanzieren, die dahinter stehen. Ebenso muss Solidarität mit den Opfern und ihren Familien bekundet und zum Ausdruck gebracht werden, dass London die Stadt ist, in der sie aufgrund des toleranten und respektvollen Umgangs miteinander leben können.

3. Die Bildung von Delegationen der muslimischen Gemeinden, die die Angehörigen der Opfer zu Hause oder in den Krankenhäusern besuchen, ihnen Trost spenden und ihnen erklären, dass dieses Verbrechen nichts mit dem Islam und den Muslimen zu tun hat.

4. Man sollte zwei Sprecher beauftragen, die im Namen der Gemeinde in den britischen Medien, z.B. in Diskussionsrunden, präsent sind, um die einheitliche Position zu bekräftigen, die die Muslime von jenen abgrenzt, die das Verbrechen verübt haben.

5. Bestimmte muslimische Organisationen immer wieder zu ermutigen, mit den britischen Sicherheitsbehörden zu kooperieren, um deren Bemühungen, Personen mit Verbindungen zu Al-Qaida zu finden, zu unterstützen.

6. Gleichzeitig sollte von der britischen Regierung gefordert werden, die muslimische Gemeinde in Großbritannien vor rassistisch motivierten Übergriffen zu schützen und das Recht der Gemeinde zu sichern, ihre Meinung kundzutun und die Freiheit zu haben, Verantwortung in den Angelegenheiten zu übernehmen, die sie unmittelbar betreffen.

Das kürzlich verübte Verbrechen geht auf das Konto von Menschen, die dem Islam angehören. Daraus resultiert die große Gefahr, dass der Wunsch nach Vergeltung verallgemeinert und jeder Muslim als potentieller Terrorist gesehen wird. Die gemeinsame Verantwortung der Regierung und der muslimischen Gemeinde muss daher sein, nach wirksameren Methoden zu suchen, um die öffentliche Meinung in Großbritannien über den Islam, die Muslime und die Tradition der Toleranz und des Zusammenlebens aufzuklären und damit zu zeigen, dass sie durch den Islam eines Bin Laden nicht repräsentiert werden.

Khaled Hroub

Aus dem Arabischen von Helene Adjouri

Der ungekürzte Artikel erschien in der Tageszeitung Al-Hayat.

Khaled Hroub ist palästinensisch-jordanischer Autor und Nahost-Experte.

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