Morock'n'Roll für den Frieden

Die Dissidenten pflegen auf "Tanger Sessions", ihrem ersten Studioalbum seit zwölf Jahren, im Hardrock-Sound die deutsch-marokkanische Freundschaft. Stefan Franzen hat sich die neue Platte der Worldbeat-Pioniere angehört.

Die Dissidenten pflegen auf "Tanger Sessions", ihrem ersten Studioalbum seit zwölf Jahren, im Hardrock-Sound die deutsch-marokkanische Freundschaft. Stefan Franzen hat sich die neue Platte der Worldbeat-Pioniere angehört und mit Drummer und Produzent Marlon Klein gesprochen.

Die Dissidenten & Jil Jilala; Foto: &copy www.dissidenten.com
Musikalische "deutsch-marokkanische Freundschaft" - Bandmitglieder der Worldbeat-Pioniere "Dissidenten" und der marokkanischen Gruppe "Jil Jilala"

​​ Etliche Jahre vor dem Start der so genannten "Weltmusik" als Marketingsegment der Plattenindustrie wurde Popmusik bereits durch eine deutsche Band in die 'East meets West'-Philosophie eingebunden. 1981 gründeten sich in Berlin die Dissidenten, hervorgegangen aus dem anarchischen Ethnojazz-Projekt Embryo.

Ihr Debüt "Germanistan" entstand noch in Indien, wo sich die drei deutschen Globetrotter am Hof eines Maharajas einquartiert hatten. 1983 jedoch siedelten Bassist Uve Müllrich, Drummer Marlon Klein und Flötist Friedo Josch nach Tanger über, um dort mit ihrem Album "Sahara Elektrik" den Durchbruch zu schaffen – mit tatkräftiger Unterstützung der marokkanischen Gruppe Lem Chaheb, die damals als Rockrebellen im Maghreb für Furore sorgten.

Die Geschichte der Dissidenten gründet fest auf diesem wegweisenden Werk aus der marokkanischen Mittelmeer-Metropole. Im letzten Vierteljahrhundert haben sie zwar immer wieder sporadisch neue Platten veröffentlicht, darunter die "eurabische" Live-Fortsetzung "Live at the Pyramids", das psychedelische "Jungle Book" (1994) oder das packende "Instinctive Traveler" (1999) mit einem Sound zwischen urbanem Soul und Worldmusic.

Doch die Worldbeat-Pioniere waren immer eher Projekt als festes Bandgefüge: Der Jazzer Charlie Mariano trug sich auf ihre Gästeliste ein, das südindische Karnataka College Of Percussion und jede Menge arabischer Gastsänger von Hamid Baroudi bis El Houssaine Kili.

Rückkehr zur alten Wirkungsstätte Tanger

Die drei Hauptakteure residieren heute an verschiedenen Orten und widmen sich unterschiedlichen Beschäftigungen: Uve Müllrich pendelt als Musiker zwischen München und Tanger, Marlon Klein koordiniert von Bielefeld aus als Produzent seine Aktivitäten, Friedo Josch führt aus dem Fränkischen die Geschicke des Weltmusikverlags Exil.

Ein Vierteljahrhundert nach ihrem bahnbrechenden Album sind sie nun mit dem neuen Album "Tanger Sessions" an ihre alte Wirkungsstätte zurückgekehrt – freilich unter gänzlich anderen Vorzeichen.

"Anfangs wollte ich ein schönes Akustik-Album machen, so wie das heutzutage viele in der Weltmusikszene tun", bezeugt Marlon Klein, der neben seinem Job als Drummer auch die Pultregie führte. "Aber als ich dann anfing, dachte ich, das muss aggressiver werden.

Wenn man momentan die Nachrichten anmacht, dann passt so etwas Liebes und Nettes nicht zum Zeitgeist zwischen arabischer und westlicher Welt." Und so änderte sich das Konzept schrittweise, während in Tanger bei Jam Sessions Stück für Stück gearbeitet wurde.

Jil Jilala: die Beatles Nordafrikas

Von Beginn an stand jedoch fest, dass als arabische Partner diesmal Jil Jilala im Boot sein sollten. Wie Lem Chaheb zählen auch sie seit den 1970ern zu den Rockpionieren Marokkos, beeinflusst von der Nouvelle Vague und Woodstock gleichermaßen wie von der urbanen Poesie Marokkos, dem Malhoun, und der spirituellen Musik der Sufi-Bruderschaft Jilala, von der sie ihren Namen haben. Sie gelten als "Beatles von Nordafrika".

Um den Culture Clash im Sound zu reflektieren, haben die Dissidenten harte ​​ Klangtatsachen geschaffen: Drei E-Gitarren wurden geschichtet, eine davon gehört Henning Rümenapp, ehemals bei den Hannoveraner Rockstars Guano Apes.

Dazu kommen zupackende Drums, die Unisono-Chöre von Jil Jilala und die kreisenden Drehleiern zweier Avantgarde-Folkmusiker, Elke Rogge und Till Uhlmann. Uve Müllrich meint, dass dies der Sound sei, der sich im Kopf eines jungen amerikanischen Rock-Fans zusammenbrauen könnte, der, gerade von der Armee angeworben, als GI ohne jegliche Vorbereitung aus seinem bisherigen Leben herausgerissen wird und sich in einem Panzer im Irak wiederfindet.

"Dass die Gesangsspuren und Stimmen so verzerrt sind, ist auch ein ganz bewusstes Stilmittel", erklärt Marlon Klein. "Sie sollen erinnern an die aufgeregten Kommentare der arabischen Sprecher, die man bei den Kriegsberichterstattungen auf Al Jazeera und CNN hört."

Für das Ende aller Kriege

Doch die "Tanger Sessions" verstecken sich nicht in apokalyptischem Szenario. Der Härte im Klang ist Hoffnung auf Frieden und Versöhnung in den Versen entgegengestellt, die leider nur in knappen Zeilen ins Englische übertragen worden sind.

Die Forderung nach dem Ende aller Kriege wird dort laut, und die Wahrnehmung einer globalen Zusammengehörigkeit statt kleinkariertem Denken in Landesgrenzen. Ein Humanismus, der fundamentalistische Strömungen aus christlichen wie muslimischen Lagern zu übertrumpfen vermag.

Das Cover zeigt, wie deutsche und marokkanische Nationalfarben verschmelzen, mit dem Pentagramm-Siegel des Salomon aus der Flagge Marokkos im Zentrum – und das steht von jeher als Schutz- und Glücksbringer.

Aggressionen im Sound, Friedenswunsch in der Lyrik - der neue "Morock'n'Roll" (Titel der Singleauskopplung) der Dissidenten bildet die aktuelle Verwirrung zwischen Orient und Okzident präzise ab.

Stefan Franzen

© Qantara.de 2008

Qantara.de

Der palästinensische Ud-Virtuose Adel Salameh:
"Arabische Musik kann universell sein"
Sein erstes Konzert gab der palästinensische Ud-Spieler und Komponist Adel Salmeh in Deutschland. Im Interview erzählt er über die Einzigartigkeit der arabischen Laute und über die Möglichkeiten des musikalischen Dialogs. Mit ihm sprach Saleh Diab.

Iranische Rockband "Kiosk"
Musikalisches Nomadentum
Irans Rock- und Pop-Musiker können sich gegen die Zensur ihrer Songs in der Islamischen Republik kaum wehren. Viele Bands kehren daher ihrem Land den Rücken und treten nur noch im Ausland auf – so auch die Rockgruppe "Kiosk". Shanli Anwar stellt die Band vor.

Analyse
Funk aus Kabul, Ska aus Istanbul, Rap aus Dakar
Von Indonesien bis Amerika, von Stockholm bis Kapstadt pochen die meisten muslimischen Musiker auf individuelle, künstlerische Freiheit. Und doch formieren sich vermehrt Szenen, die sich vom Mainstream abgrenzen, um sich an islamischen Werten zu orientieren. Von Thomas Burkhalter

www

Webseite der "Dissidenten"