Integration bedeutet Suche nach Gemeinsamkeiten

Vor Krieg und Tod in meiner syrischen Heimat rettete ich mich nach Deutschland, ich wurde von der Schriftstellerin zum Flüchtling. Nun beginne ich mein Leben neu und finde meinen Weg in die Gesellschaft dieses wunderschönen Landes. Ein Essay von Widad Nabi

Essay von Widad Nabi

Wir haben jetzt einen neuen Titel, der uns bis zu unserem letzten Atemzug begleiten wird: Flüchtlinge. Das realisierte ich an meinem ersten Tag in Deutschland, als ich in einer schier endlos wirkenden Schlange vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) wartete. Es war der 12. August 2015 und ich ließ mich registrieren. Fortan war ich ganz offiziell Widad Nabi, Flüchtling.

Zuvor hatte ich auf der Flucht vor dem Tod sieben Länder durchquert. Auf der Flucht vor jenem Tod, der noch immer die Menschen in meiner Heimat holt, Tag für Tag, Stunde um Stunde.

Flüchtlinge warten am 8. Dezember 2015 vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo); Foto: picture-alliance
Langes und ermüdendes Warten vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo): "Als demütigend und grausam empfand ich es, in dieser Schlange vorm LaGeSo stehen zu müssen, weil ich der Gewalt des Krieges entflohen war. Wie anders wäre das Gefühl gewesen, wenn ich mein Land verlassen hätte, um nach Träumen wie Arbeit oder Bildung zu streben", so Widad Nabi.

Ich habe Schutz gesucht in einem Land, von dem ich so gut wie nichts kannte - außer den Gedichten von Rilke, den Schriften von Goethe, Hölderlin, Heine, Grass und Herta Müller. Vielleicht waren es vor allem die Gedichte Rilkes, die mich in dieses Land zogen. Ein Land, das sein Herz für so viele Syrer wie mich geöffnet hat.

Fühlen die Deutschen mit uns?

An jenem Tag, dem 12. August, sah ich aber auch andere, unbekannte Gesichter Deutschlands. Ich traf einerseits auf das unpoetische, abgestumpfte Gesicht der Bürokratie und andererseits auf die stille Zuneigung, die uns die Einheimischen schüchtern entgegenbrachten. Weil wir gezwungen waren, vor einem Krieg zu fliehen, den scheinbar niemand beenden wollte.

Ich fragte mich damals: Warum helfen uns die Deutschen? Weil sie sich noch ihre eigene Geschichte in Erinnerung rufen, mit den Kriegen und Verwüstungen, die sie über ihre eigenen Städte gebracht haben? Liegt es daran, dass sie mit uns fühlen, dass sie unsere Wunden spüren?

Dann bemerkte ich: Solche Emotionen ändern nichts daran, dass dieses Land der Bürokratie frönt. So musste ich von Berlin in ein Flüchtlingslager nach Eisenhüttenstadt umziehen. Es glich einem Haftlager: Mit dem Zaun, der es umfasste; mit den säuerlichen Gesichtern der Sicherheitsleute in ihren blauen Uniformen; mit der Warterei darauf, dass simpelste Bedürfnisse erfüllt wurden.

Ich begann in Hoffnungslosigkeit zu versinken und musste mit den gleichen Qualen umgehen wie alle anderen auch: Mit der Mühsal der Eingewöhnung, der Menge an Papierkram, der Geringschätzung durch die Beamten in den Behörden.

Syrische Flüchtlinge nach ihrer Ankunft auf der griechischen Insel Lesbos; Foto: picture-alliance
Flucht vor Tod und Zerstörung: Innerhalb und außerhalb Syriens sind mehr als elf Millionen Menschen auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg, der 2011 mit Protesten gegen den Diktator Baschar al-Assad begann. Weltweit gibt es derzeit 65 Millionen Flüchtlinge.

Deren Mienenspiel sagte alles: Dass ich von Widad, der jungen Dichterin, zu einer Akte mit Dokumenten geworden war. Diese Akte wurde bedeutsamer als meine ganze Existenz. All diese Dokumente waren so wichtig, um meinen Status als rechtmäßiger Flüchtling beweisen zu können.

Sprache als größte Barriere

Zum Glück dauerte es nicht lange, bis ich wieder nach Berlin umsiedeln konnte. Dort musste ich noch einmal ganz von vorne anfangen, mein Leben neu beginnen.

Die Stadt empfing mich mit offenen Armen und ließ mich eintauchen in ihre Mysterien. Ich ging auf in ihren Bibliotheken, Cafés, in den historischen Stadtvierteln. Ich traf auf die vielen Gesichter und die Rätsel der Stadt und habe meine Gedichte an einigen der angesagtesten Orte gelesen.

Dort konnte ich Deutsche treffen und kennenlernen. Sie waren sehr freundlich und die meisten von ihnen fühlten mit mir, wenn wir über die traumatischen Dinge sprachen, die in meiner Heimat geschehen.

Als junge Frau, als begierige Leserin und als Schriftstellerin wurde ich mehr und mehr zu einer Einheimischen in Berlin - einer Stadt, die Fremde umarmt und Dichter willkommen heißt. Genauso wie Exzentriker, Kapitalisten, Bettler, Verrückte und Fortschrittliche.

Besonders einladend waren von Beginn an die Bibliotheken mit ihren üppig bestückten Regalen, mit Büchern in einer Sprache, die noch immer fremd wirkt für meine Ohren. Die Bibliotheken waren mein Generalschlüssel für den Eintritt in die Berliner Gesellschaft.

Der Hype der Deutschen um die Integrationskurse hat mich übrigens nicht überzeugt. Deshalb nahm ich den Weg ins Herz der Stadt, indem ich den Spuren der Schriftsteller und Dichter folgte. So lernte ich Berlin kennen, so wurde ich zur Einwohnerin.

Flüchtlinge lernen in einer Schule in Bonn die deutsche Sprache; Foto: DW
Spracherwerb als Schlüssel zur Integration: "Die deutsche Sprache ist schwierig. Sie bleibt die größte Barriere auf meinem Weg. Ohne sie gut zu beherrschen, lässt sich das Gefühl des Fremdseins nicht überwinden", so Widad Nabi.

Sprache bleibt allerdings die größte Barriere auf meinem Weg. Die deutsche Sprache ist schwierig. Ohne sie gut zu beherrschen, lässt sich das Gefühl des Fremdseins nicht überwinden. Ich denke jetzt an meine Mutter und andere Verwandte, die in ihren Fünfzigern sind, und die noch nicht einmal die Chance hatten, Bildung in ihrer eigenen Muttersprache zu erhalten. Würde es für sie möglich sein, sich einer neuen, unbekannten Umgebung anzupassen?

Sprachkurse sind dafür unzulänglich. Die Leute brauchen die Unterstützung der Gesellschaft in Deutschland, sie brauchen mehr soziale Veranstaltungen, wo sie deutsche Mitbürger kennenlernen können.

Zuflucht in Dichtung und Literatur

Mir ist schon klar, dass solche Integrationsgeschichten mit Schwierigkeiten beginnen. Aber letztlich werden die Menschen einen Weg finden, sich anfangs vielleicht auch nur mit Körpersprache und Gesten zu verständigen.

Integration ist kein Kleidungsstück, das wir einfach überziehen und - voilà - auf einmal sind wir Deutsche. Integration bedeutet stattdessen vor allem, kulturelle Unterschiede zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen.

Ich habe meine Zuflucht in Dichtung und Literatur gefunden, sie sind mein Tor zur Integration in die deutsche Gesellschaft. Und ich bin sicher, jeder findet seinen eigenen Schlüssel.

Ich habe weiterhin die Hoffnung, dass der Krieg in Syrien bald zu Ende geht und dass viele Syrer in ihre Heimat zurückkehren können. Dann könnten sie später einmal als Besucher nach Deutschland zurückkehren. In ein Land, das ihnen Schutz geboten hat, als sie am verletzlichsten waren; als die meisten Länder der Welt die Zerstörung Syriens und die Vertreibung von Millionen Menschen nicht sehen wollten.

Wenn der Krieg irgendwann endet, dann kehre ich vielleicht zurück oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Wo ich meine eigene Geschichte finde, das hängt von diesem wunderschönen, freien Deutschland ab.

Widad Nabi

© Qantara.de 2017

Widad Nabi wurde 1985 im syrischen Kobani geboren. Heute lebt sie in Berlin. Die kurdisch-syrische Lyrikerin und Autorin hat einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften der Universität Aleppo. Sie hat für zahlreiche arabischsprachige Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Einige ihrer Texte erschienen auch in englischer und französischer Übersetzung. 2013 erschien in Aleppo Widad Nabis Buch "Zeit für Liebe, Zeit für Krieg". Ihr Buch "Syrien und die Sinnlosigkeit des Todes" erschien 2016 in Beirut. Ebenfalls im vergangenen Jahr veröffentlichte Widad Nabi Gedichte auf Deutsch in der Anthologie "Weg sein - hier sein" im Secession Verlag.