Die Illusion der Revolutionäre

Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin war von Anfang an bei den Protesten gegen das Mubarak-Regime im Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz dabei. Als Chronistin der Revolution berichtete sie damals täglich über den Umbruch am Nil. In ihrem Essay beschreibt sie die Fehler der einstigen Revolutionsbewegung und weshalb Ägypten heute eine autoritäre Restauration erfährt.

Von Mansura Eseddin

Der Freispruch Hosni Mubaraks kam nicht überraschend. Von Anfang an deutete alles darauf hin, dass es dazu kommen würde. Und obwohl es sich also keineswegs um eine Überraschung handelte, war der Freispruch doch eine schallende Ohrfeige für all jene, die sich an der Revolution vom 25. Januar beteiligt hatten.

Denn die Botschaft dahinter ist eindeutig: Die Gerechtigkeit in Ägypten wurde damit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, die Konterrevolution hat sich erfolgreich einnisten können und mit fast allem kurzen Prozess gemacht, was von den Errungenschaften der Revolution noch im kollektiven Gedächtnis verblieben war. Ich schreibe allerdings hier bewusst nur "fast", denn die Politisierung weiter Teile der ägyptischen Bevölkerung, die sich zuvor völlig unpolitisch in ihr Privatleben zurückgezogen hatten, bleibt als womöglich wichtigstes Erbe des Umbruchs bestehen. Darauf wird man also aufbauen können, solange nun kein neuerlicher Rückzug ins Private erfolgt.

Der Körper der Revolution vom 25. Januar mag nahezu leblos in einer großen Blutlache vor sich hinvegetieren – doch die Träume bleiben auch weiterhin in den Köpfen präsent. Dies umso mehr, da auch die Anlässe für den revolutionären Aufbruch weiter fortbestehen, gepaart mit neuerlichen geballten Ungerechtigkeiten, die den Ägyptern in den letzten vier Jahren widerfahren sind.

Aus Fehlern lernen

Die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des am 25. Januar 2011 begonnenen Umbruchs ist jedoch nur dann wirklich begründet, wenn man aus den Fehlern der Revolution lernt und alles daran setzt, diese nicht zu wiederholen. Und es besteht wohl auch nur dann Hoffnung, wenn man sich eingesteht, dass diese Revolution gar nicht so revolutionär gewesen ist – auch wenn bis heute viele hartnäckig daran festhalten, den Umbruch in Ägypten als Revolution zu bezeichnen, nur weil dazu in sozialen Netzwerken aufgerufen wurde.

Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin in der Mohammad-Mahmoud-Straße in Kairo; Foto: Arian Fariborz
Mansoura Essedin, 1976 im Nildelta in Ägypten geboren, studierte Journalismus an der Universität Kairo und arbeitete bis August 2011 bei "Akhbar al-Adab", einer der wichtigsten Literaturzeitschriften Ägyptens. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2010 wurde sie als eine der besten arabischsprachigen Autoren unter 40 ausgewählt. Im gleichen Jahr war sie als einzige Frau für den International Prize for Arabic Fiction nominiert.

Auch wenn im Verlauf dieser Revolution der Bruch mit dem Mubarak-Regime lauthals verkündet wurde, glitt sie doch letztlich auf einen viel reformorientierteren Kurs ab. Dass der Oberste Militärrat die Federführung in der ersten Übergangsphase übernehmen konnte, wurde stillschweigend akzeptiert. Gleichzeitig hielten sich viele der führenden Köpfe der Revolution bewusst aus der Führung der Staatsgeschäfte heraus und wandten sich stattdessen an die Justiz, damit diese den Bruch mit ihren Gegnern vollzieht. Damit begnügten sie sich letztlich und begaben sich hierbei sowohl auf konstitutionelle als auch rechtliche Irrwege.

Und obwohl augenscheinlich das Hauptziel der Revolution vom 25. Januar darin bestand, sich des allmächtigen Übervaters und der älteren, verknöcherten Politikerkaste zu entledigen, ging diese Forderung doch offensichtlich nicht weit genug bzw. musste angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse eine Illusion bleiben.

Die jüngere Generation im politischen Abseits

Besonders deutlich wurde dies daran, dass die politischen Parteien, die nach der Revolution entstanden, sich wieder durch ihre im ägyptischen Parteienspektrum üblichen Hierarchien auszeichneten: Für die Besetzung von Führungspositionen in politischen Parteien – gleich welcher ideologischer Ausrichtung – war vor allem das Alter ausschlaggebend. Die jüngere Generation mit ihren alternativen politischen Visionen hatte das Nachsehen und musste sich erneut ihrer Rolle als bloße Standartenträgerin fügen.

Nach dem Rücktritt Mubaraks wurde die Forderung nach Vergeltung für das vergossene Blut der vielen Revolutionsopfer zur drängendsten überhaupt, vor allen anderen wichtigen Forderungen, die zurückgestellt werden mussten. Dabei sollte doch klar sein, dass eine Forderung allein, so wichtig sie auch sein mag, keineswegs ein solch hoher Stellenwert beigemessen werden kann, so dass gleich alle anderen verdrängt werden.

Einerseits gibt es in Ägypten solche Verfechter, die die Revolution vom 25. Januar quasi als heiligen Gral hochstilisieren, den man weder antasten noch kritisieren darf – und sei es auch, um ihn zu retten oder wieder auf den "richtigen Weg" zu bringen. Mit dem "richtigen Weg" meine ich nicht unbedingt die Anknüpfung an große Manifestationen oder Demonstrationen, sondern jeden erdenklichen Weg, der die Verwirklichung der Ziele des 25. Januar garantiert, nämlich den Aufbau eines zivilen und demokratischen Staatswesens auf der Grundlage des Prinzips der verfassungsmäßigen Rechte sowie der Menschenrechte.

Andererseits existieren die Verfechter des "starken Staates", die alles dafür opfern würden, um diesen vor dem Zusammenbruch zu bewahren, ohne dabei zu bemerken, dass die massive Gewaltanwendung durch den Staat, die Anhäufung von Unrecht und Korruption zur Zerstörung desselben führen muss.

Die Revolution war kein Selbstzweck

Zwischen diesen beiden Lagern bewegen sich jene Kräfte, die die Erinnerung wachhalten wollen, dass die Revolution lediglich ein Mittel zur Ablehnung von Despotismus und Unrecht gewesen sei, um ein menschenwürdigeres Leben zu ermöglichen, keinesfalls aber zum reinen Selbstzweck verkommen dürfe.

Jubelnde Ägypterinnen nach dem Sturz Mubaraks auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: Pedro Ugarte/AFP/Getty Images
Von revolutionärer Euphorie und Ernüchterung im autoritären Sisi-Staat: "Die Gerechtigkeit wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, die Konterrevolution hat sich erfolgreich einnisten können und mit fast allem kurzen Prozess gemacht, was von den Errungenschaften der Revolution noch übrig war", schreibt Eseddin.

Die Islamisten ihrerseits versinken in Fantastereien von der reinen islamischen Identität, die sie wie eine heilige Kuh verehren, in völliger Missachtung der in der ägyptischen Gesellschaft vorherrschenden religiösen und kulturellen Vielfalt. Für ihr Ideal sind sie bereit, alle Ziele der Januarrevolution zu opfern. Die Tatsache, dass Teile der islamistischen Bewegung inzwischen Terror und Waffengewalt einsetzen, lässt ihre ursprünglichen Vorsätze "im Dienste der Revolution" nunmehr als Farce erscheinen. Die Versuche der Muslimbrüder, sich an jeder Protestaktion gegen das Sisi-Regime zu beteiligen, um diese letztlich wieder für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, entzieht ihnen von vornherein jegliche Sympathie des Volkes.

Jahrzehntelang hatte eine Gruppe ägyptischer Oppositioneller das unausweichliche Ende der Diktatur und den nahenden revolutionären Umbruch prophezeit. Sie hielten an dieser Überzeugung selbst dann noch fest, als niemand mehr so recht daran glaubte. Doch als der Umbruch dann tatsächlich kam, war niemand darauf vorbereitet – oder besser gesagt: niemand konnte die Folgen dieser Revolution einschätzen.

Das Scheitern der Muslimbrüder

Obwohl die Muslimbrüder als erste politische Kraft die "Januar-Revolution" für sich zu nutzen verstanden, waren sie überhaupt nicht darauf eingestellt, an die Macht zu kommen - hatten sie sich doch bereits seit ihrer Gründung daran gewöhnt, als ewige Untergrundorganisation oder bestenfalls als Opposition zu agieren. Und so herrschten sie denn auch im Stile einer Untergrundorganisation nachdem Mohammed Mursi Präsident wurde.

Die dem liberalen und linken Lager angehörenden Parteien ihrerseits entpuppten sich als vollkommen zerstritten und einflusslos, womit sie zum Spielball in den Händen der beiden stärksten Parteien wurden – der Militärs und der Muslimbrüder.

Es gelang jenen säkularen Kräften auch nicht, das Zünglein an der Waage zwischen Militärs und Muslimbrüder zu spielen. In jedem Bündnis mit dem einen oder anderen Lager ergaben sie sich vollkommen deren Bedingungen. Oder aber sie stellten Forderungen, über welche dann sang- und klanglos hinweggegangen wurde. Hauptgrund dafür war, dass keiner der Politiker, die sich zu den Wortführern der nicht-islamistischen Revolutionskräfte aufschwangen, Einfluss auf den Lauf der Dinge in ihrem Land nehmen konnte.

Der ehemalige ägyptische Präsident Mursi (r.)  im Gespräch mit damaligen Verteidigungsminister Al-Sisi (m.) im Dezember 2012; Foto: dpa
Die Revolutionsbewegung zerrieben zwischen dem Lager der Militärs und der Muslmbrüder: "Es gelang den säkularen Kräften nicht, das Zünglein an der Waage zwischen Militärs und Muslimbrüder zu spielen. In jedem Bündnis mit dem einen oder anderen Lager ergaben sie sich vollkommen deren Bedingungen. Oder aber sie stellten Forderungen, über die dann schlicht sang- und klanglos hinweggegangen wurde."

Anstatt nach den Ursachen für das Scheitern zu suchen und diese Fehler künftig zu vermeiden, ergingen sich jene Kräfte in Selbstmitleid und zogen sich als "moralisch Überlegene" aus der Öffentlichkeit zurück. Moralisch verurteilt wurden fortan vor allem diejenigen, die vermeintlich oder wirklich die Revolution betrogen oder sich ihr in den Weg gestellt hatten. Dabei sah man beflissentlich von jeglicher Selbstkritik ab, was jedoch notwendig gewesen wäre, um die eigenen Fehler zu korrigieren und wieder in der Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit und Rückhalt zu gewinnen.

In der Opferrolle

Stattdessen gefiel man sich in der Rolle des Opfers. Die Revolution sei verraten, die "wahren Revolutionäre" von allen im Stich gelassen worden. Trotzdem trage man weiter selbstlos die "heilige Flamme der Revolution" weiter, so der Mythos. Gleichzeitig geißelten sie den "Verrat an der Revolution" derart, als gehe es dabei um einen Kampf zwischen den Mächten des Himmels und der Hölle.

Und die Muslimbrüder taten es ihnen nach dem Sturz Mursis und dem nachfolgenden Massaker auf dem Rabia-Platz in Kairo gleich. Doch der Rückfall in die Opferrolle ist in beiden Fällen wenig dienlich, um die eigenen Fehler zu beheben oder Forderungen umzusetzen, um aus dem Teufelskreis des ewigen Selbstmitleids herauszukommen und sich konstruktiv am Aufbau der Gesellschaft zu beteiligen.

Anhänger der Muslimbruderschaft in Kairo demonstrieren gegen die Entmachtung Mohammed Mursis und das Massaker auf dem Rabia-Platz; Foto: dpa
Der starre Blick in die Vergangenheit: "Der Rückfall in die Opferrolle ist in beiden Fällen wenig dienlich, um die eigenen Fehler zu beheben oder Forderungen umzusetzen, um aus dem Teufelskreis des ewigen Selbstmitleids herauszukommen und sich konstruktiv am Aufbau der Gesellschaft zu beteiligen", schreibt Mansura Eseddin.

Doch wenn schon die relativ kurze Regierungszeit der Muslimbrüder eine Form der Konterrevolution darstellte, dann tut dies die Herrschaft der gegenwärtigen Machthaber umso mehr – und zwar in viel gefährlicherer Form. Diejenigen, die weiter die Vorstellung von einem zivilen, demokratischen Staat auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Achtung der Menschrechte und den Werten der Bürgergesellschaft aufrechterhalten wollen, können nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich von den Islamisten absetzen.

Die gilt umso mehr vor dem Hintergrund des Erstarkens bewaffneter dschihadistischer Gruppierungen – und auch des Erstarkens derjenigen, die die repressive Vorgehensweise der derzeitigen Machthaber verteidigen. Die Verteidiger eines demokratischen Staates müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und sich zuallererst selbst neu formieren, mögliche Schwachstellen beheben und weiter an ihrer Partei- und Organisationsstruktur arbeiten, selbst wenn das derzeitige Regime mit allen Mitteln versucht, den öffentlichen Raum völlig unter seine Kontrolle zu bekommen und alle anderen Formen politischer Arbeit vereitelt.

Wenn sich eine Lektion von den Muslimbrüdern lernen lässt, dann ist es die, dass es sich lohnt auszuharren, kontinuierlich weiterzumachen und jeden noch so kleinen Spielraum zu nutzen, um über acht Jahrzehnte hinweg – trotz aller Verbots- und Einschränkungsversuche – politisch zu überleben.

Ich will damit keineswegs verschweigen, wie kompliziert die Lage in Ägypten heute ist oder wie gefährlich die Herausforderungen sind, die das derzeitige Regime mit seinen Versuchen der absoluten Unterdrückung jeglicher Opposition schafft. Ich rate lediglich zu mehr Selbstkritik und Engagement, um in der Öffentlichkeit präsent zu bleiben und am Traum von "Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit" festzuhalten.

Mansura Eseddin

© Qantara.de 2014

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas