Raus aus dem Kellergewölbe

Seit den 1990er Jahren erlebt die kurdische Theaterszene in der Türkei einen Aufschwung. Eine Gruppe, die sich für die Pflege der kurdischen Sprache und Kunst einsetzt, ist die Theaterkompanie "Teatra Si" aus Istanbul. Ceyda Nurtsch hat sie zum Auftakt ihrer Tournee im Berliner Theater Tiyatrom getroffen.

Von Ceyda Nurtsch

Die Scheinwerfer gehen an und es erscheint ein minimalistisches Bühnenbild: Auf einem verwinkelten großen Regal aus Holz in der Mitte der Bühne sind Bücher in verschiedenen Größen und Farben aufgereiht. Darum soll es an diesem Abend gehen: Literatur – um echte und solche, die es gerne sein möchte. Denn Papier ist bekanntlich geduldig.

Am Rand der Bühne steht ein kleiner Schreibtisch, an der Wand hängen zwei Porträtbilder: Ehmedê Xanî, kurdischer Schriftsteller und Gelehrter aus dem 17. Jahrhundert, und Celadet Alî Bedirxan, ebenfalls Schriftsteller und Politiker aus dem 20. Jahrhundert. Sie gelten als Begründer und Verfechter der kurdischen nationalen Bewegung.

Der Inhalt ist Nebensache

Unter den Blicken der beiden kurdischen Volkshelden betreten zwei Männer die Bühne: der seit 16 Jahren in Schweden lebende Darîn und sein Bruder Sadûn, der zu Besuch gekommen ist. Schnell offenbart sich die Absicht seiner Visite: Sadûn soll seinen in der Fremde lebenden Bruder dazu überreden, Schriftsteller zu werden. Bücher zu schreiben, so hat man in der Heimat gehört, sei lukrativ und – besonders darauf kommt es an – prestigeträchtig. Der Ruhm des Schriftstellers färbe auf seine Sippe ab. Was geschrieben wird, ist eher Nebensache.

Darîn ist von dieser Idee wenig begeistert. Nach einem Zwischenstück, in dem Literaturkritiker karikiert werden, reist der Bruder resigniert ab. Aus dem Off meldet sich der Verfasser des Stücks selbst zu Wort und gelobt, die Tragik der Geschichte zu Papier zu bringen. Darîn besteht darauf, dass sie nur auf seiner Muttersprache Kurdisch verfasst und nicht übersetzt werden soll.

Aufführung von "Die Schmerzen der Sprache" in Berlin; Foto: Ömer Uçun
Kritische Reflexion der kurdischen Literatur: "Die Schmerzen der Sprache" (Ȇşa Zimanekȋ), das die Istanbuler Gruppe "Teatra Si" aufführt, ist eine Kurzgeschichte des kurdischen Schriftstellers Hesenȇ Metȇ.

Ȇşa Zimanekȋ, Die Schmerzen der Sprache, das die Istanbuler Gruppe "Teatra Si" (zu Deutsch: Schattentheater) an diesem Abend im türkischen Berliner Theater Tiyatrom aufführt, ist eigentlich eine Kurzgeschichte und stammt von dem bekannten, in der Schweiz lebenden kurdischen Schriftsteller Hesenȇ Metȇ. Baran Demir, Regisseur und selbst Schauspieler, hat sie zu einem Zwei-Mann-Stück umgeschrieben.

"Das Stück hinterfragt kritisch, was kurdische Literatur überhaupt ist", erklärt Demir. Diese Frage sei nicht neu, sagt er und verweist auf die von Bedirxan im Damaskus der 1930er Jahre gegründete Zeitschrift "Hawar" (zu Deutsch: Hilfe) für kurdische Literatur, in der kurdische Nationalisten und Literaten in ihren Artikeln eben diese Frage diskutierten.

Inflationäre Literatur

"Vor allem nach den 1990er Jahren begannen viele Kurden, die auf der politischen Ebene keine Erfolge erzielen konnten, zu schreiben. So entstanden hunderte von Büchern ohne jeglichen literarischen Wert. Es ging einfach nur darum, etwas zu publizieren", erklärt der zurückhaltende Schauspieler mit dichtem Schnäuzer. Die selbstkritische Botschaft der leichtfüßigen Komödie: solche Bücher schaden der kurdischen Literatur mehr, als dass sie ihr nutzen. Und: die kurdische Kultur muss gepflegt werden.

"Dass ein kurdisches Theater hier in Berlin auf einer türkischen Bühne ein Stück aufführt, ist schon eine kleine Sensation", findet die Organisatorin Jillian Hoppe, die auch die weiteren Auftritte der Kompanie im Juli und September in deutschen und anderen europäischen Städten plant.

Traditionelles kurdisches Schauspiel, das sich Kosageli nennt; Foto: Erhan Yıldırım
Zwischen Folklore und "Agit-Prop": traditionelles kurdisches Schauspiel, das sich Kosageli nennt

An die Zeit, in der noch heimlich in Kellergewölben gespielt wurde, erinnert sich auch Erhan Yıldırım, der die Gruppe begleitet. In den 1990er Jahren war er von Malatya nach Istanbul gezogen, um dort die kurdische Theaterszene mit aufzubauen. Zu dieser Zeit stand das Sprechen von Kurdisch in der Öffentlichkeit unter Strafe. "Die Gewölbe, in denen wir heimlich spielten, waren so niedrig, dass wir unsere Köpfe stießen, wenn wir uns hinstellten", erinnert sich Yıldırım. "Wir hatten nur sehr wenige Zuschauer. Eigentlich spielten wir für uns." Eines Abends, erzählt er, stürmten Polizisten in Zivil die Vorstellung. Sie kontrollierten die Personalausweise der Zuschauer und warfen die Schauspieler zum Verhör über Nacht ins Gefängnis. In ihren Kostümen. "Sie wollten uns demütigen", sagt Yıldırım.

Positiver Wandel des kulturellen Klimas

Seit der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan 1999 und der sogenannten "kurdischen Entfaltungspolitik" unter der AKP-Regierung – die unter anderen beinhaltet, dass kurdische Namen verwendet und die Sprache gesprochen, gelehrt und gelernt werden darf – hat sich die türkische Kurdenpolitik und damit auch die Situation für die Theater etwas entspannt.

Die Gruppe "Teatra Si" ist heute eine von vier kurdischen Theatergruppen in Istanbul, und auch in ostanatolischen Städten wie Diyarbakır formieren sich immer mehr Theaterkompanien. Hier wurde kürzlich in der historischen Kulisse des Palasts von Cemil Paşa das Stück Mem û Zȋn aufgeführt, ein Nationalepos, das Ähnlichkeiten mit Shakespears Romeo und Julia aufweist.

Doch das kurdische Theater ist noch längst nicht etabliert und auch die Zuschauer bleiben bislang zumeist aus. Unabhängige kleine Theatergruppen, die keine staatliche Unterstützung bekommen oder anderweitig finanziert werden, haben es in der Türkei ohnehin schwer.

Doch für kurdische Theatergruppen, sagt Demir, ist es noch einmal härter. Sie werden erst gar nicht ernst genommen. "Wenn Türken nicht zu unseren Stücken kommen, liegt das nicht daran, dass sie die Sprache nicht verstehen", erklärt Demir, der der Idee von Obertiteln kritisch gegenübersteht. "Obertitel fördern nur die Assimilation und sorgen dafür, dass unsere Jugendlichen kein Kurdisch mehr lernen müssen", sagt er.

Theaterstücke, so seine Überzeugung, transportieren in erster Linie Gefühle – dafür braucht man nicht unbedingt jedes Wort zu verstehen. Dass bei kurdischen Stücken das Publikum ausbleibt, ist für ihn vor allem ein gesellschaftliches Problem. "Kurdisch und Kurden sind in den Augen vieler Türken ohnehin minderwertig. Wie kann da schon die Qualität ihres Theaters sein, denken sie."

Mehr als "Agit-Prop"

Außerdem herrsche noch immer das Vorurteil, das kurdische Theater verbreite ausschließlich Propaganda. Tatsächlich, so erzählt Demir, wurden in den 1990er Jahren hauptsächlich "Agit-Prop"-Stücke aufgeführt. Mit seiner Kompanie möchte er zeigen, dass die kurdische Kultur doch sehr viel mehr zu bieten hat.

Dass die Bandbreite der kurdischen Theaterstücke viel größer ist, weiß auch Erhan Yıldırım. "Mündlich tradierte Rollenspiele sind in unserer Gesellschaft seit langer Zeit etabliert und gelten als Freizeitvergnügen", erklärt er. Seitdem der kurdische Schriftsteller, Journalist und Gründer des "Mesopotamischen Kulturzentrums" in Istanbul, Musa Anter, in den 1990er Jahren das erste Stück in kurdischer Sprache in der Türkei schriftlich verfasst hat, entwickelt sich die Theaterszene in einem fort. Kurdische Epen werden aufgeführt, Stücke von Anton Tschechow neu ins Kurdische übersetzt und Dramaturgen wie Baran Demir adaptieren kurdische Kurzgeschichten für die Bühne.

Trotz dieser Entwicklungen steht Erhan Yıldırım den vermeintlichen Erfolgen der Kurdenpolitik der letzten Jahre sehr kritisch gegenüber. "Dass man jetzt an Privatschulen Kurdisch lernen kann, wird als Erfolg gefeiert. Doch viele Menschen sind gestorben oder wurden vertrieben. Dörfer wurden angezündet. Dass ich als Steuerzahler Geld aus meiner eigenen Tasche bezahlen muss, um meine Muttersprache zu lernen, ist nichts anderes als eine Beleidigung", empört er sich. Doch dass sich die kurdische Kunstszene, wenn auch noch schleppend, stetig fortentwickelt, ist ein guter Anfang, findet auch er.

Ceyda Nurtsch

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de