Weder Freund noch Feind

Um die nordsyrische Stadt Kobanê aus den Fängen des IS zu befreien, haben sich inzwischen Tausende Kurden aus Syrien, der Türkei und dem Irak den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) angeschlossen. Doch auch wenn die Kurden den gleichen Feind bekämpfen, so gelten sie untereinander als zerstritten. Aus Erbil berichtet Kiran Nazish.

Von Kiran Nazish

Mitte Oktober fand in Erbil, der Hauptstadt der Autonomieregion Kurdistan, ein ungewöhnliches Treffen statt. Flaggen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und Banner mit dem Konterfei ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalans wehten inmitten der riesigen Menschenansammlung irakischer, türkischer und syrischer Kurden, die sich getroffen hatten, um ihre Unterstützung für die vom IS bedrohte Stadt Kobanê zu zeigen.

Einige waren auch gekommen, um den Leichen der toten irakischen Kämpfer, die aus Kobanê hergebracht worden waren, ihren Respekt zu zollen. Trotz der Tatsache, dass es sich bei den Gefallenen um Kurden aus Erbil handelte, hatte die kurdische Regierung verboten, die Leichen ins Stadtzentrum zu bringen. "Sie fürchten, dass der Anblick dieser Helden andere dazu inspirieren könnte, sich der PKK anzuschließen", sagt Wasiq Ali, ein irakischer Kurde, der sich gemeinsam mit seinen beiden Brüdern der PKK angeschlossen hat, nachdem er von der Partei auch militärisch ausgebildet worden war.

Hunderte Iraker wurden bereits in den Bergen von der PKK ausgebildet. Diese Kämpfer wollten sich ursprünglich den Peschmerga anschließen, den kurdischen Verbänden im Norden des Irak. Doch dann entschieden sie sich dazu, dass die Befreiung Kobanês Vorrang haben müsste. Dies ist gewiss beachtlich, denn noch vor einigen Wochen schienen die irakischen Kurden nicht ernsthaft an Kobanê interessiert zu sein. Doch nun wollen die Peschmerga doch direkt in die Kämpfe eingreifen.

Die umstrittene Rolle der PKK

Grab eines in Kobane getöteten YPG-Kämpfers in Suruc in der türkischen Provinz Sanliurfa; Foto: Reuters/Kai Pfaffenbach
Spur des Todes: Insgesamt sind nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte im Kampf um Kobanê allein im Monat September mehr als 600 Menschen ums Leben gekommen. Auf Seiten der kurdischen YPG seien 258 Kämpfer und in den Reihen des IS 374 Dschihadisten getötet worden.

Unterdessen sind viele irakische Kurden, die angekündigt hatten, sich ohne Zustimmung ihrer Heimatorganisationen den Kämpfern in Kobanê anzuschließen, unter enormen Druck geraten. "Man wirft uns vor, Barzani verraten zu haben", sagt Wasiq Ali und meint damit den Präsidenten der autonomen Kurdenregion Iraks, Masud Barzani. "Jede Unterstützung für die PKK ist im kurdischen Teil Iraks ein Tabuthema."

Laut Ali gibt es in der irakischen Autonomieregion Kurdistan zwar einige kleine Parteien, die enge Verbindungen zur PKK haben, doch sind diese weitaus weniger einflussreich und weniger unabhängig als die "Demokratische Partei Kurdistans", die die Region regiert. Der 34jährige Hassan Khalil, ein weiterer irakischer Anhänger der PKK, sagt: "Wir wissen, dass die PKK-Kämpfer viel besser organisiert sind als die Peschmerga. Es wird die Peschmerga eine Menge an Zeit kosten, dieses militärische Niveau zu erreichen. Das Problem ist aber, dass die Peschmerga von der Türkei und der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden und deshalb über modernere Waffen verfügen als die PKK, die zudem im Untergrund operieren muss."

Die PKK wurde von der Türkei und den Staaten des Westens auf den Terror-Index gesetzt, was sie auch im Irak, wo die Peschmerga die absolute militärische Vormacht darstellen, zur umstrittenen Organisation macht.

"Seit über einem Monat übt die Türkei Druck auf die internationale Gemeinschaft aus, damit den YPG in Kobanê nicht geholfen wird", glaubt Tarek Doğlu, ein in Ankara lebender Experte für internationale Beziehungen. "Irgendwann entschlossen sich die USA dann aber doch dazu, die eingeschlossenen Kämpfer zu unterstützen – gegen den Willen der Türkei. Und dann dauerte es nochmals eine Weile, bis die USA Luftangriffe gegen die IS-Terrormiliz in Kobanê flogen."

Währenddessen kämpften die YPG, der militärische Arm der kurdischen "Partei der Demokratischen Union" (PYD) und PKK-Ableger in Syrien, allein gegen den "Islamischen Staat". Mit anderen Worten: Die YPG, die stärkste syrisch-kurdische Kampftruppe in Kobanê, verfügen über enge Verbindungen zur illegalen PKK, die seit 30 Jahren im Südosten der Türkei gegen die Regierung in Ankara kämpft.

"Diese Tatsache war auch der Hauptgrund dafür, warum sich die Türkei so unkooperativ zeigte, als es um die Unterstützung der Belagerten in Kobanê ging", so der namhafte Istanbuler Außenpolitikexperte Soli Özel. "Man befürchtete, dem langjährigen Gegner dadurch Vorteile zu verschaffen."

Rettung Kobanês als kleinster gemeinsamer Nenner

Nichtsdestotrotz schlossen sich viele Kurden aus der Türkei, aus Syrien und dem Irak den YPG an, da sie davon überzeugt waren, dass Kobanê gerettet werden muss, obwohl sie befürchteten, dafür von ihren jeweiligen Regierungen drangsaliert zu werden.

Die Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), Freiwillige aus der Türkei und eine Handvoll Zivilisten, die in der Stadt geblieben waren, berichten, wie der Vormarsch des IS durch die amerikanischen Luftschläge mittlerweile verlangsamt wurde. Zunächst hatten die IS-Kämpfer die lokale Infrastruktur sowie Fahrzeuge zerstört. Durch den dabei aufsteigenden Rauch vermochten sie zeitweise, die Drohnen und Kampfflugzeuge der USA in die Irre zu führen. Doch bald waren sie zum Rückzug gezwungen, im Schutz von Gebäuden, die sie anschließend noch niederbrannten.

Frauen der YPJ in den Außenbezirken von Qamishli; Foto: Reuters/Rodi Said
An vorderster Front dabei: Frauen der YPJ stellen rund 35 Prozent der kurdischen Volksverteidigungseinheiten. Sie erhalten eine vierwöchige militärische Ausbildung, in der sie unter anderem den Umgang mit schweren Maschinengewehren, Panzergranatwerfern und der "Kalaschnikow" erhalten.

Firas Kharaba, der den Rücktransport vieler verwundeter Kämpfer aus Kobanê in die Türkei organisierte, berichtet im Gespräch mit Qantara.de, dass die Türkei sich dabei nicht immer kooperativ zeigte. "Wir wussten nie, ob sie es uns die Einreise in die Türkei genehmigen oder nicht. Mindestens 50 YPG-Kämpfer sind an der Grenze verblutet, weil das türkische Militär sie nicht ins Land ließ."

Verletzte kurdische Kämpfer erhalten in der belagerten Stadt kaum medizinische Hilfe. "Alle Krankenhäuser wurden zerstört. Derzeit arbeiten daran, provisorische Kliniken aufzubauen, zum Teil auf Lastwagen, mit entsprechend wenigen medizinischen und technischen Geräten", sagt Dr. Shokri Mehmoud, einer der 15 in Kobanê verbliebenen Ärzte.

Bleiben die Peschmerga in Kobanê?

Große Unterstützung erhielten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten bislang aus dem Ausland, durch tausende Kämpfer aus Syrien, der Türkei und dem Irak, darunter auch viele Frauen und ältere Menschen. Dennoch verfügen die YPG wohl nicht über genügend Waffen, um sich allein gegen den IS zu behaupten, dem es im Laufe des vergangenen Sommers gelang, große Gebiete im Irak und Syrien zu erobern.

Am 20. Oktober kündigte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu überraschend an, dass sein Land den irakischen Peschmerga-Kämpfern gestatten würde, den in Kobanê eingeschlossenen Kurden zu Hilfe kommen zu dürfen – eine Nachricht, die von kurdischer Seite sehr begrüßt wurde. Dennoch dauerte es noch eine ganze Woche, bis die Peschmerga in die Stadt kommen konnten. Diese Verzögerung sorgte für neues Misstrauen bei den Kurden in Kobanê. Nichtzuletzt wurde den irakischen Kurden oft nachgesagt, gegen die Forderung der syrischen Kurden nach vollständiger Unabhängigkeit eingestellt zu sein.

"Wir brauchen zwar Hilfe in diesem Kampf gegen den IS. Doch was wird sein, wenn die irakischen Peschmerga uns unterstützen, dann aber beschließen, einfach hier zu bleiben?", fragt sich Fariq Mami, ein kurdischer YPG-Kommandeur Kobanê. "Schließlich war auch Masud Barzani immer gegen ein unabhängiges syrisches Kurdistan. Daher ist unsere Sorge nur allzu berechtigt!", fügt er hinzu.

Kiran Nazish

© Qantara.de 2014

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol