Ein noch ungelöstes Dilemma

Obwohl seit Jahren verstärkt radikale Prediger junge Muslime für den bewaffneten Kampf rekrutieren, hat sich unter islamischen Gelehrten bis jetzt keine Diskussion über die theologischen Hintergründe der Gewalt entwickelt. Von Mona Naggar

Obwohl seit Jahren verstärkt radikale Prediger junge Muslime für den bewaffneten Kampf rekrutieren, hat sich unter islamischen Gelehrten bis jetzt keine Diskussion über die theologischen Hintergründe der Gewalt entwickelt. Von Mona Naggar

Militanter Hamas-Aktivist; Foto: AP
Ungeachtet der zunehmenden Militanz islamistischer Gruppen sind unter den einflussreichen Gelehrten kaum Stimmen vernehmbar, die religiös gerechtfertigte Gewalt verurteilen

​​Wenn man der Klassifizierung des islamischen Juristen und Theologen Abu Hanifa aus dem 8. Jahrhundert folgen würde, dann handelt es sich bei der Arabischen Republik Ägypten der 70er Jahre aus islamischer Sicht um "Feindesland".

Das Land fällt in die Kategorie des "Dar al-Harb" (Gebiet des Krieges), sein Herrscher gilt als vom Islam abgefallen. Jeder Muslim und jede Muslimin haben die Pflicht, in den Kampf zu ziehen und die islamische Ordnung und das Gesetz Gottes wiederherzustellen.

"Die vergessene Pflicht" als Grundlage der Radikalen

Der Grund: In Ägypten sollen Gesetze des Unglaubens herrschen, die Muslime würden dort nicht sicher leben können und das Land befinde sich in Nachbarschaft zu einem Land des Unglaubens. Der Vordenker der ägyptischen Dschihad-Gruppe Abdalsalam Faradsch legte diese Argumentation in seiner Schrift "Al-Farida al-Ghaiba" (Die vergessene Pflicht) dar.

Er zieht weitere Gelehrte aus dem islamischen Mittelalter heran, vor allem Ibn Taimiyya, der zur Zeit der Mongolenherrschaft im 13. Jahrhundert lebte. Ein eindeutiger Hinweis auf den Einfluss des Wahhabismus, einer fundamentalistischen Reformbewegung aus dem 18. Jahrhundert und offizielle religiöse Doktrin Saudi-Arabiens.

"Al-Farida al-Ghaiba" galt der radikal islamistischen Gruppierung al-Dschihad als theologische Rechtfertigung für den bewaffneten Kampf gegen das Sadat-Regime in den 70er Jahren. Im Oktober 1981 fiel der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat einem Attentat der Dschihad-Gruppe zum Opfer.

Vor Gericht verteidigten sich die Täter mit Argumenten aus "al-Farida al-Ghaiba". Sie sahen ihre Tat im Einklang mit den islamischen Bestimmungen zum Dschihad. Der damalige Mufti von Ägypten widersprach den jungen Radikalen und legte ebenfalls klassische islamische Argumente in die Waagschale.

Danach handle es sich beim ägyptischen Herrscher keineswegs um einen Abtrünnigen. Der Mufti konnte sich auf einen jahrhundertealten Konsens sunnitischer Gelehrsamkeit stützen.

Immer gleiche Argumentationsmuster

Die Argumentationsmuster haben sich bis heute nicht verändert. Koranverse (9/5, 9/29 oder 9/111), das Leben des Propheten Muhammad, seine Überlieferungen und die klassische Dschihad-Literatur werden zum Umgang mit heutigen Konflikten und zur Legitimierung von Gewalt herangezogen.

Yussuf al-Qaradawi; Foto: AP
Ruft zum Dschihad in Palästina und im Irak auf: Scheich Yussuf al-Qaradawi

​​Der tunesische Historiker Muhammad al-Talbi sagt, alle Gruppierungen aus der Vergangenheit, "die Bäche aus Tinte und Blut, die von ihren Stiften und Schwertern flossen" und alle modernen Gruppierungen - seien es Wahhabiten, Salafiten, radikale Islamisten, nichtradikale Islamisten, Reformer und sogar Säkulare - würden sich lediglich auf verschiedene Lesarten des Korans und der Sunna (die Aussprüche und vorbildlichen Handlungen des Propheten Mohammad) stützen.

Das gilt auch für den einflussreichen Prediger Yussuf al-Qaradawi, der über den Satellitensender al-Dschasira und über verschiedene Websites seine Botschaften verbreitet. Gestützt auf Koranverse und auf Ereignisse aus der frühislamischen Geschichte, ruft er zum Dschihad in Palästina und im Irak auf und legt die Fälle dar, in denen Muslime Angriffskriege führen dürfen.

Verharmlosung des wahhabitischen Islam

Erstaunlich milde geht er mit militanten Gruppierungen um, die nicht davor zurückschrecken, Unschuldige zu töten: "Die meisten von ihnen haben gute Absichten und sind ehrlich, aber sie haben sich im Weg geirrt." Kein Wort über den Einfluss der wahhabitischen Form des Islam aus Saudi-Arabien, die dem "Takfir" (die Erklärung anderer zu Ungläubigen) einen zentralen Platz im Glauben zugesteht und der bei Tausenden jungen Muslimen weltweit Zuspruch findet.

In den letzten Jahrzehnten waren etliche arabische Länder Schauplatz bewaffneter Konfrontationen zwischen der Staatsmacht und radikal-islamistischen Gruppierungen, die allesamt den Kürzeren ziehen mussten.

Auf nationaler Ebene gab es in der Folge zaghafte Versuche einiger Gruppierungen, sich selbstkritisch mit ihrer Form der Anwendung der Gewalt auseinander zu setzen, z.B. bei Teilen der "Gamaa al-Islamiyya" in Ägypten oder bei der Muslimbruderschaft in Syrien.

Nasr Hamid Abu Zaid; Foto: Ikhlas Abbis
Nasr Hamid Abu Zaids Thesen zum Koran, zur islamischen Theologie und zum Islamismus haben ihm den Vorwurf der Ketzerei sowie Morddrohungen eingebracht

​​Ende der 90er Jahre kursierte ein Papier der syrischen Muslimbruderschaft, das sich mit dem gescheiterten Versuch auseinandersetzte, das Assad-Regime mit Waffengewalt zu stürzen. In dem Papier wurde die Idee eines "pazifistischen Dschihad" aufgeworfen, das der syrischen Realität angepasster wäre als die Schwertverse aus dem Koran.

In der muslimischen Öffentlichkeit ist bis heute keine Diskussion unter den meinungsbildenden und einflussreichen Gelehrten vernehmbar, die in der islamischen Rechtfertigung von Gewalt ein Problem sehen würden - ungeachtet der fast täglichen Anschläge gegen zumeist muslimische Zivilisten.

Die westliche Politik gegenüber der islamischen Welt wird als vorrangige Erklärung herangezogen. Für den ägyptischen Religionswissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, der aufgrund seiner Forschungsansätze zum Koran verfolgt wurde, sollten beide Botschaften, die religiöse und die politische, die die Terroristen aussenden, Ernst genommen werden.

Bei der Analyse der religiösen Hülle der Gewalt, führe kein Weg an der kritischen und historischen Analyse der heiligen Texte vorbei.

Mona Naggar

© Qantara.de 2007

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